Montag, 30. Dezember 2013

Neues von den „Technobanditen“ - die Wiener Residentur, Teil II

Ausführlicher Artikel mit weiteren, neuen Informationen unter:
https://www.academia.edu/5557931/Die_Wiener_Residentur_der_Stasi_-_Mythos_und_Wirklichkeit


Sie trugen die Decknamen „Prokurist“ und „Sander“ – Topspione der Stasi in Österreich. Neue Dokumente beleuchten einen der spektakulärsten Spionagefälle des Kalten Krieges rund um Technologieschmuggel – mit von der Partie: Udo Proksch.

Er war ein Spion, „der aus der Kälte kam“: 1979 setzte sich Stasi-Oberleutnant Werner Stiller in den Westen ab. Seine Flucht aus der DDR war ein Coup. Denn mit brachte Stiller nicht nur Insiderwissen, sondern darüber hinaus 20.000 Seiten abfotografierter Geheimdokumente. Der Informationsschatz legte einige der wichtigsten Geheimstrategien des Ostblocks offen: Durch großangelegte Wissenschafts- und Industriespionage an westliches Hightech und Know-how heranzukommen – vorbei an einem 1951 verhängten Embargo.

Österreich, direkt am „Eisernen Vorhang“ gelegen, spielte bei diesem illegalen Technologietransfer eine besonders wichtige Rolle. Nach der Wende 1989 gab Stasi-General Markus Wolf unumwunden zu, dass „kleinere österreichische Firmen“ der DDR geholfen hätten, „die amerikanischen Embargobestimmungen zu umgehen“. Ein geheimer Komplex stach dabei besonders hervor: Die sogenannte „Wiener Residentur“, laut Stiller eine regelrechte „DDR-Geheimdienstkolonie“. Das 1977 gestartete Mikroelektronikprogramm der DDR soll auf der „Ausbeute“ der darin zusammengefassten Agenten beruht haben. Diese kauften oder stahlen alles, was sie an Unterlagen, Mustern und Einzelteilen bekommen konnten. Der wirtschaftliche Schaden für den Westen soll „immens“ gewesen sein, so Stiller. Schon in den 1980er Jahren hatten US-Autoren passenderweise von den „Technobanditen“ gesprochen.

Wer und was verbarg sich genau hinter der „Wiener Residentur“? Zunächst einmal bestand seit 1969 in der Apollogasse die Rudolf Sacher Ges.m.b.H. Die Firma des Physikers Sacher hatte von Anfang an enge DDR-Verbindungen. Über eine in den USA eröffnete Tochter, die Semiconductor Systems International, wurde Mikrotechnologie nach Österreich exportiert. Im Rahmen eines Firmenkonglomerats war Sacher weiters eng mit zwei schillernden „Stars“ der Wiener Promiszene verbunden: Rudi Wein, Inhaber des Cafes „Gutruf“ und Udo Proksch, damals vor allem als Designer, Besitzer der Hofzuckerbäckerei Demel und Mitgründer des berüchtigten „Club 45“ bekannt. Proksch hatte selbst als Osthändler begonnen: Seine erste Firma, Kibolac, lieferte Plastik- und Elektronikprodukte hinter den „Eisernen Vorhang“. Wein war an der Gründung beteiligt.

Als Stasi-Technologiespione ins Gespräch gebracht wurden Proksch und Wein schon 1979 vom Überläufer Stiller. Dieser nannte Namen zahlreicher „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi im Westen, darunter auch in Österreich. Stiller zufolge war Rudi Wein (alias IM „Prokurist“) Drahtzieher der „Wiener Residentur“. Anders als in der BRD, wo es umgehend zu Verhaftungen kam, wurde die Staatspolizei verspätet aktiv. Die am 1. Februar 1979 durchgeführten Hausdurchsuchungen erbrachten jedoch nichts. Kein Wunder – man hatte nicht in Sachers Firma, sondern an dessen Privatadresse gesucht und nur das private Telefonverzeichnis sichergestellt. Gut möglich, dass die Spione längst vorgewarnt waren – von einem gut platzierten Stasi-„Maulwurf“: Dem Staatspolizisten Gustav Hochenbichler, alias IM „Bau“.

Sacher stellte sich als „normaler“ Osthändler dar: „Man wirft mir vor, dass ich ein DDR-Spion bin, weil ich Geschäfte mit der DDR mache. Ist jeder, der Geschäfte mit der DDR macht, ein DDR-Spion?“ Auch Proksch dementierte heftig: „Ich bin kein Spion, ich bin ein neutraler Österreicher, ich bin der Meinung, dass Handel und Wandel mit dem Osten genauso betrieben soll wie mit dem Westen.“

1980 befragte der Bundesnachrichtendienst (BND) Stiller noch einmal zur Materie. Die Ergebnisse leitete man an das österreichische Innenministerium weiter. „Doch die Verbindungen von Proksch und seinen Freunden reichten offenbar so weit nach oben, dass danach nichts geschah. Ganz im Gegensatz zu den vielen Verhaftungen in der Bundesrepublik ist in Österreich nicht ein einziger MfS-Agent belangt worden“, beklagt Stiller erst kürzlich in seinen Memoiren (Der Agent, 2010). Gab es für diese Nachlässigkeit vielleicht politische Motive? Ende 1980 besuchte die „graue Eminenz“ der DDR, Erich Honecker, Österreich. Es war sein erster Staatsbesuch im Westen. Im Rahmen der Visite wurde ein Auftrag über 2,3 Milliarden DM an die VOEST zur Errichtung eines Stahlwerks in Eisenhüttenstadt unterschrieben. Kann es sein, dass man auf eine effektive Verfolgung der Spione verzichtete, um diesen wichtigen Deal für die krisengeschüttelte Verstaatlichte nicht zu gefährden?

1991, nach dem Fall der Mauer, flüchtete sich Stasi-General Wolf kurzfristig nach Österreich. Er gab zu, dass die Firma Sacher von seinem Dienst als „nachrichtendienstliche Spitzenquelle“ gewertet wurde. Daraufhin sei klar gewesen, dass die Angaben des Überläufers Stiller „alle gestimmt haben“, meinte dazu Staatspolizei-Chef Oswald Kessler. Belangen konnte man niemanden mehr, die Fälle waren verjährt.

Klartext „spricht“ auch ein Dokument der Stasi von 1979: Penibel werden darin alle Quellen aufgelistet, die der „Verräter“ Stiller gefährdete. So auch IM „Prokurist“ unter seinem eigentlichen Namen: „Wein, Rudolf – österr. Staatsbürger, […]. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik. Abdeckung durch Aktivitäten mit Außenhandelsbetrieben der DDR. Der IM konnte die inoffizielle Arbeit durch seine offizielle Geschäftstätigkeit mit DDR-Organen abdecken.“

Kurz nach der Wende 1989 wurde ein Großteil des Aktenbestands zur DDR-Auslandspionage noch rechtzeitig in den Reißwolf gesteckt. Deshalb ist es bis heute schwierig, die genauen Hintergründe der „Wiener Residentur“ aufzuklären. Zumindest eine wichtige Quelle steht zur Verfügung. Die 1998 entschlüsselte Datenbank SIRA, auch das „Pharaonengrab der Stasi“ genannt. Die darin enthaltenen Informationen sind kurz, aber aussagekräftig: IM-Decknamen sowie Zeitpunkt, Art, Umfang und „Benotung“ der von ihnen gelieferten Informationen.

Diese SIRA-Dokumente werfen neues Licht auf die Geschichte der „Technobanditen“ – vor allem ist ersichtlich, wie umfassend der Informationsfluss hinter den „Eisernen Vorhang“ wirklich war: Zwischen 1969 und 1978 war alleine IM „Sander“ Quelle von 329 Einzelinformationen. IM „Prokurist“ kam im selben Zeitraum auf 75. Gleich ob es um die Apollo 11-Raumfahrtmission ging oder um Know How in Sachen Halbleitertechnik, Transistoren, integrierter Schaltkreise oder Gaschromatographen, die Wiener Spione beschafften, was die DDR benötigte.

Das Überlaufen Stillers und die Nachforschungen der Staatspolizei ließen die „Wiener Residentur“ keineswegs verstummen: Nach nur einem Jahr „Pause“ wurde die Spionagetätigkeit, wenn gleich reduziert, wieder aufgenommen. IM „Sander“ besorgte unter dem neuen Decknamen „Wendel“ noch bis 1984 Spitzeninfos. So etwa einen Forschungsbericht zu Mikroelektronik im Umfang von 1585 Seiten. Die Stasi war begeistert: „Material ist von hoher strategischer Bedeutung. Es unterstützt maßgeblich Erzeugnisentwicklung und Verfahrensentwicklung und festigt Forschungsverlauf. Es erspart Recherchekapazität und führt zu einem hohen volkswirtschaftlichen Nutzen.“ Im selben Jahr lieferte „Wendel“ zwei weitere mit Bestnote bewertete technische Berichte: „Material entspricht Informationsbedarf, unterstützt Verfahrensentwicklung und hilft Entscheidungen vorzubereiten.“ Empfänger war in den meisten Fällen das Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik in Dresden, High Tech-Herzstück der DDR.

Auch „Prokurist“ war noch bis 1985 für die Stasi tätig – unter dem neuen Alias „Richter“. Der Spion reichte unter anderem ein Verzeichnis von Handelshäusern weiter, die keine Exportlizenzen der US-Regierung erhielten sowie eine Liste von Waren, die vom Embargo betroffen waren. „Thema ist von außenwirtschaftlicher Bedeutung, Unterlage ist internes Überblicksmaterial“, merkte die Stasi an. „Richter“ beschaffte weiteres hochbrisantes Material – etwa zu „Aktivitäten eines vermutlichen BND-Agenten in der Volksrepublik Polen“ sowie zur Kontrolle des Technologietransfers in Österreich. „Richter“ war auch die Quelle eines Berichts zu „Medien“ und „Feindtätigkeit“. Als „Personen-Hinweis“ wird in diesem Zusammenhang kryptisch der Osteuropa-Korrespondent Paul Lendvai genannt.

Als dann Österreich Anfang der 1980er Jahre aufgrund von massivem US-Druck seine Außenhandelsbestimmungen verschärfte, läutete dies das Ende der „Wiener Residentur“ ein. 1984 wurde die Firma Rudolf Sacher Ges.m.b.H liquidiert. Zuvor waren noch sämtliche Maschinen und Einrichtungen abgebaut und von der staatlichen DDR-Transportfirma mitgenommen worden.

Und Udo Proksch? War auch er ein Ostspion? Schon Ende der 1970er Jahre waren Fahnder in den Unterlagen der  US-Tochterfirma Sachers auf eine mysteriöse Telefonnummer gestoßen: 661717, einen Anschluss der Demel-Zuckerbäckerei. Aus den SIRA-Daten ergibt sich darüber hinaus kein Hinweis für eine  formelle Stasi-Tätigkeit. Lapidare Erklärung einer Expertin: Proksch sei den Geheimdienstlern einfach „zu skurril“ gewesen.

Technologietransfer
Ab Mitte der 1960er Jahre sahen die Sowjetunion und ihre Satelliten ein, dass sie im Bereich Hochtechnologie gefährlich hinterherhinkten. Die pragmatische Lösung für dieses Problem: Wo es nicht möglich war, westliche Lizenzen und Patente zu legal erwerben, wurde dieses Wissen eben von Spionen beschafft. Der Einsatz der „Schlapphüte“ war vor allem im besonders kritischen Bereich der Mikroelektronik von Nöten: Seit 1951 war der Export solcher Technologie in den kommunistischen Osten verboten.

Die Lösung: Über ein Netzwerk aus Export-Import-Unternehmen, Investitionsbüros und Laboratorien wurden westliche Informationen und Technologien ausgespäht und beschafft. Auf diese Weise ersparte sich der Ostblock nicht nur Milliarden an Entwicklungskosten, sondern konnte beispielsweise eigene Waffensysteme mit westlichen Mikrochips, Halbleitern, Computersteuerungen oder Motoren aufrüsten. Eine besondere Rolle spielte dabei das neutrale Österreich: Anfang der 1980er Jahren galten den USA insgesamt 100 Unternehmen verdächtig, in Technologietransfer verwickelt zu sein.