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https://www.academia.edu/5557931/Die_Wiener_Residentur_der_Stasi_-_Mythos_und_Wirklichkeit
Sie trugen die Decknamen „Prokurist“ und „Sander“ – Topspione der Stasi in Österreich. Neue Dokumente beleuchten einen der spektakulärsten Spionagefälle des Kalten Krieges rund um Technologieschmuggel – mit von der Partie: Udo Proksch.
https://www.academia.edu/5557931/Die_Wiener_Residentur_der_Stasi_-_Mythos_und_Wirklichkeit
Sie trugen die Decknamen „Prokurist“ und „Sander“ – Topspione der Stasi in Österreich. Neue Dokumente beleuchten einen der spektakulärsten Spionagefälle des Kalten Krieges rund um Technologieschmuggel – mit von der Partie: Udo Proksch.
Er war ein Spion, „der aus der Kälte kam“: 1979 setzte sich
Stasi-Oberleutnant Werner Stiller in den Westen ab. Seine Flucht aus der DDR
war ein Coup. Denn mit brachte Stiller nicht nur Insiderwissen, sondern darüber
hinaus 20.000 Seiten abfotografierter Geheimdokumente. Der Informationsschatz
legte einige der wichtigsten Geheimstrategien des Ostblocks offen: Durch
großangelegte Wissenschafts- und Industriespionage an westliches Hightech und
Know-how heranzukommen – vorbei an einem 1951 verhängten Embargo.
Österreich, direkt am „Eisernen Vorhang“ gelegen, spielte bei
diesem illegalen Technologietransfer eine besonders wichtige Rolle. Nach der
Wende 1989 gab Stasi-General Markus Wolf unumwunden zu, dass „kleinere
österreichische Firmen“ der DDR geholfen hätten, „die amerikanischen
Embargobestimmungen zu umgehen“. Ein geheimer Komplex stach dabei besonders
hervor: Die sogenannte „Wiener Residentur“, laut Stiller eine regelrechte
„DDR-Geheimdienstkolonie“. Das 1977 gestartete Mikroelektronikprogramm der DDR
soll auf der „Ausbeute“ der darin zusammengefassten Agenten beruht haben. Diese
kauften oder stahlen alles, was sie an Unterlagen, Mustern und Einzelteilen bekommen
konnten. Der wirtschaftliche Schaden für den Westen soll „immens“ gewesen sein,
so Stiller. Schon in den 1980er Jahren hatten US-Autoren passenderweise von den
„Technobanditen“ gesprochen.
Wer und was verbarg sich genau hinter der „Wiener
Residentur“? Zunächst einmal bestand seit 1969 in der Apollogasse die Rudolf
Sacher Ges.m.b.H. Die Firma des Physikers Sacher hatte von Anfang an enge
DDR-Verbindungen. Über eine in den USA eröffnete Tochter, die Semiconductor
Systems International, wurde Mikrotechnologie nach Österreich exportiert. Im Rahmen eines Firmenkonglomerats war Sacher weiters eng
mit zwei schillernden „Stars“ der Wiener Promiszene verbunden: Rudi Wein,
Inhaber des Cafes „Gutruf“ und Udo Proksch, damals vor allem als Designer,
Besitzer der Hofzuckerbäckerei Demel und Mitgründer des berüchtigten „Club 45“
bekannt. Proksch hatte selbst als Osthändler begonnen: Seine erste Firma,
Kibolac, lieferte Plastik- und Elektronikprodukte hinter den „Eisernen Vorhang“.
Wein war an der Gründung beteiligt.
Als Stasi-Technologiespione ins Gespräch gebracht wurden
Proksch und Wein schon 1979 vom Überläufer Stiller. Dieser nannte Namen
zahlreicher „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi im Westen, darunter auch
in Österreich. Stiller zufolge war Rudi Wein (alias IM „Prokurist“) Drahtzieher
der „Wiener Residentur“. Anders als in der BRD, wo es umgehend zu Verhaftungen kam, wurde die Staatspolizei
verspätet aktiv. Die am 1. Februar 1979 durchgeführten Hausdurchsuchungen
erbrachten jedoch nichts. Kein Wunder – man hatte nicht in Sachers Firma,
sondern an dessen Privatadresse gesucht und nur das private Telefonverzeichnis sichergestellt.
Gut möglich, dass die Spione längst vorgewarnt waren – von einem gut
platzierten Stasi-„Maulwurf“: Dem Staatspolizisten Gustav Hochenbichler, alias
IM „Bau“.
Sacher stellte sich als „normaler“ Osthändler dar: „Man
wirft mir vor, dass ich ein DDR-Spion bin, weil ich Geschäfte mit der DDR
mache. Ist jeder, der Geschäfte mit der DDR macht, ein DDR-Spion?“ Auch Proksch
dementierte heftig: „Ich bin kein Spion, ich bin ein neutraler Österreicher,
ich bin der Meinung, dass Handel und Wandel mit dem Osten genauso betrieben soll
wie mit dem Westen.“
1980 befragte der Bundesnachrichtendienst (BND) Stiller noch
einmal zur Materie. Die Ergebnisse leitete man an das österreichische Innenministerium
weiter. „Doch die Verbindungen von Proksch und seinen Freunden reichten
offenbar so weit nach oben, dass danach nichts geschah. Ganz im Gegensatz zu
den vielen Verhaftungen in der Bundesrepublik ist in Österreich nicht ein einziger
MfS-Agent belangt worden“, beklagt Stiller erst kürzlich in seinen Memoiren
(Der Agent, 2010). Gab es für diese Nachlässigkeit vielleicht politische
Motive? Ende 1980 besuchte die „graue Eminenz“ der DDR, Erich Honecker,
Österreich. Es war sein erster Staatsbesuch im Westen. Im Rahmen der Visite wurde
ein Auftrag über 2,3 Milliarden DM an die VOEST zur Errichtung eines Stahlwerks
in Eisenhüttenstadt unterschrieben. Kann es sein, dass man auf eine effektive
Verfolgung der Spione verzichtete, um diesen wichtigen Deal für die
krisengeschüttelte Verstaatlichte nicht zu gefährden?
1991, nach dem Fall der Mauer, flüchtete sich Stasi-General
Wolf kurzfristig nach Österreich. Er gab zu, dass die Firma Sacher von seinem
Dienst als „nachrichtendienstliche Spitzenquelle“ gewertet wurde. Daraufhin sei
klar gewesen, dass die Angaben des Überläufers Stiller „alle gestimmt haben“,
meinte dazu Staatspolizei-Chef Oswald Kessler. Belangen konnte man niemanden
mehr, die Fälle waren verjährt.
Klartext „spricht“ auch ein Dokument der Stasi von 1979: Penibel
werden darin alle Quellen aufgelistet, die der „Verräter“ Stiller gefährdete. So
auch IM „Prokurist“ unter seinem eigentlichen Namen: „Wein, Rudolf –
österr. Staatsbürger, […]. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur
Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik. Abdeckung durch Aktivitäten mit
Außenhandelsbetrieben der DDR. Der IM konnte die inoffizielle Arbeit durch seine
offizielle Geschäftstätigkeit mit DDR-Organen abdecken.“
Kurz nach der Wende 1989 wurde ein Großteil des
Aktenbestands zur DDR-Auslandspionage noch rechtzeitig in den Reißwolf
gesteckt. Deshalb ist es bis heute schwierig, die genauen Hintergründe der
„Wiener Residentur“ aufzuklären. Zumindest eine wichtige Quelle steht zur Verfügung.
Die 1998 entschlüsselte Datenbank SIRA, auch das „Pharaonengrab der Stasi“
genannt. Die darin enthaltenen Informationen sind kurz, aber aussagekräftig: IM-Decknamen
sowie Zeitpunkt, Art, Umfang und „Benotung“ der von ihnen gelieferten
Informationen.
Diese SIRA-Dokumente werfen neues Licht auf die Geschichte
der „Technobanditen“ – vor allem ist ersichtlich, wie umfassend der Informationsfluss
hinter den „Eisernen Vorhang“ wirklich war: Zwischen 1969 und 1978 war alleine
IM „Sander“ Quelle von 329 Einzelinformationen. IM „Prokurist“ kam im selben
Zeitraum auf 75. Gleich ob es um die Apollo 11-Raumfahrtmission ging oder um
Know How in Sachen Halbleitertechnik, Transistoren, integrierter Schaltkreise
oder Gaschromatographen, die Wiener Spione beschafften, was die DDR benötigte.
Das Überlaufen Stillers und die Nachforschungen der
Staatspolizei ließen die „Wiener Residentur“ keineswegs verstummen: Nach nur
einem Jahr „Pause“ wurde die Spionagetätigkeit, wenn gleich reduziert, wieder
aufgenommen. IM „Sander“ besorgte unter dem neuen Decknamen „Wendel“ noch bis
1984 Spitzeninfos. So etwa einen Forschungsbericht zu Mikroelektronik im Umfang
von 1585 Seiten. Die Stasi war begeistert: „Material ist von hoher
strategischer Bedeutung. Es unterstützt maßgeblich Erzeugnisentwicklung und
Verfahrensentwicklung und festigt Forschungsverlauf. Es erspart Recherchekapazität
und führt zu einem hohen volkswirtschaftlichen Nutzen.“ Im selben Jahr lieferte
„Wendel“ zwei weitere mit Bestnote bewertete technische Berichte: „Material
entspricht Informationsbedarf, unterstützt Verfahrensentwicklung und hilft
Entscheidungen vorzubereiten.“ Empfänger war in den meisten Fällen das Zentrum
für Forschung und Technologie der Mikroelektronik in Dresden, High
Tech-Herzstück der DDR.
Auch „Prokurist“ war noch bis 1985 für die Stasi tätig – unter
dem neuen Alias „Richter“. Der Spion reichte unter anderem ein Verzeichnis von
Handelshäusern weiter, die keine Exportlizenzen der US-Regierung erhielten sowie
eine Liste von Waren, die vom Embargo betroffen waren. „Thema ist von
außenwirtschaftlicher Bedeutung, Unterlage ist internes Überblicksmaterial“,
merkte die Stasi an. „Richter“ beschaffte weiteres hochbrisantes Material – etwa
zu „Aktivitäten eines vermutlichen BND-Agenten in der Volksrepublik Polen“
sowie zur Kontrolle des Technologietransfers in Österreich. „Richter“ war auch
die Quelle eines Berichts zu „Medien“ und „Feindtätigkeit“. Als „Personen-Hinweis“
wird in diesem Zusammenhang kryptisch der Osteuropa-Korrespondent Paul Lendvai
genannt.
Als dann Österreich Anfang der 1980er Jahre aufgrund von
massivem US-Druck seine Außenhandelsbestimmungen verschärfte, läutete dies das
Ende der „Wiener Residentur“ ein. 1984 wurde die Firma Rudolf Sacher Ges.m.b.H
liquidiert. Zuvor waren noch sämtliche Maschinen und Einrichtungen abgebaut und
von der staatlichen DDR-Transportfirma mitgenommen worden.
Und Udo Proksch? War auch er ein Ostspion? Schon Ende der
1970er Jahre waren Fahnder in den Unterlagen der US-Tochterfirma Sachers auf eine mysteriöse
Telefonnummer gestoßen: 661717, einen Anschluss der Demel-Zuckerbäckerei. Aus
den SIRA-Daten ergibt sich darüber hinaus kein Hinweis für eine formelle Stasi-Tätigkeit. Lapidare Erklärung
einer Expertin: Proksch sei den Geheimdienstlern einfach „zu skurril“ gewesen.
Technologietransfer
Ab Mitte der 1960er Jahre sahen die Sowjetunion und ihre Satelliten
ein, dass sie im Bereich Hochtechnologie gefährlich hinterherhinkten. Die
pragmatische Lösung für dieses Problem: Wo es nicht möglich war, westliche
Lizenzen und Patente zu legal erwerben, wurde dieses Wissen eben von Spionen
beschafft. Der Einsatz der „Schlapphüte“ war vor allem im besonders kritischen
Bereich der Mikroelektronik von Nöten: Seit 1951 war der Export solcher Technologie
in den kommunistischen Osten verboten.
Die Lösung: Über ein Netzwerk aus Export-Import-Unternehmen,
Investitionsbüros und Laboratorien wurden westliche Informationen und
Technologien ausgespäht und beschafft. Auf diese Weise ersparte sich der
Ostblock nicht nur Milliarden an Entwicklungskosten, sondern konnte
beispielsweise eigene Waffensysteme mit westlichen Mikrochips, Halbleitern,
Computersteuerungen oder Motoren aufrüsten. Eine besondere Rolle spielte dabei das neutrale Österreich: Anfang
der 1980er Jahren galten den USA insgesamt 100 Unternehmen verdächtig, in
Technologietransfer verwickelt zu sein.