Montag, 23. Februar 2015

Bombe an Bord der „Steiermark“: Österreichs erste Konfrontation mit internationalem Terrorismus

Gekürzte Fassung erschienen in profil, Nr. 9/2015, 34 f.

Vor 45 Jahren, am 21. Februar 1970, wurde Österreich zum ersten Mal mit dem Nahostterror konfrontiert: An Bord eines AUA-Flugs explodierte eine Bombe. Die Notlandung gelang, aber am selben Tag ließ ein weiterer Anschlag eine Maschine der Swiss Air abstürzen.

Es ist 10.47 Uhr: Die AUA-Caravelle „Steiermark“ befindet sich nach Start in Frankfurt am Main gerade einmal acht Minuten in der Luft und hat im Steigflug eine Höhe von 3.000 m über dem Odenwald erreicht. 33 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern befinden sich an Bord – die Destination ist Wien. Was dann geschieht, schildert die „Kronen Zeitung“ anderntags so: „Die Stewardessen servierten Kaffee und Erfrischungen, als plötzlich eine heftige Explosion die Maschine erschüttert. Einen Augenblick später leuchte das Schild ‚Bitte anschnallen und nicht rauchen‘ auf. Der Kabinendruck hatte rapide nachgelassen, die Passagiere klagten über Ohrenschmerzen“. Flugkapitän Herbert Till, damals 35 Jahre alt, meldete über den Bordlautsprecher, dass die Druckkabine  defekt geworden sei und man deswegen nach Frankfurt zurückkehre. Tatsächlich war im vorderen Frachtraum  eine Bombe detoniert und hatte ein etwa 80 x 50 cm großes Loch in den Rumpfwand des Flugzeugs gerissen. Trotz des erheblichen Schadens gelang es Till und seinem Ko-Pilot Walter Haslinger die „Steiermark“ notzulanden. Alle an Bord befindlichen Personen kamen mit dem Schrecken davon. Durch das ruhige und besonnene Verhalten der Crew hatte es keine Panik gegeben - "lediglich eine Frau weinte und sagte immer wieder: 'Hoffentlich stürzen wir nicht ab'" ("Die Presse").

„Goodbye everybody“ – die Tragödie von Würenlingen
Dieser 21. Februar 1970 sollte trotzdem zu einem schwarzen Tag werden  – denn, nur knapp zwei Stunden nach der Explosion an Bord  des AUA-Flugs stürzte die Swiss Air Maschine „Basel Land“ in den Unterwald westlich von Würenlingen (Schweizer Kanton Aargau). Alle 47 Insassen – 38 Passagiere und neun Besatzungsmitglieder – fanden den Tod. Ausgelöst wurde die Katastrophe ebenfalls durch eine Bombenexplosion. Diese hatte im Unterschied zum Vorfall an Bord der „Steiermark“ verheerende Folgen gehabt: Im Frachtraum hatte sich ein Brandherd entwickelt, der sich durch rasch ausbreitete. Dichter Rauch nahm den Piloten die Sicht auf die Instrumente. Der letzte verzweifelte Funkspruch an den Tower in Zürich-Kloten lautete: "Goodbye everybody". Die Maschine ging schließlich in einer steilen Linkskurve in den Sturzflug über und raste mit 770 Stundenkilometer in den Wald. Der anschließende Feuerball von 30 Tonnen Kerosin ließ Passagiere und Flugzeug regelrecht verglühen.
Denkmal am Absturzort in Würenlingen (Quelle: Wikimedia Commons)
Passagiere und Crew der „Steiermark“ hatten dagegen großes Glück: Wäre die in einem Postsack versteckte Bombe nicht an der äußeren Wand, sondern in der Mitte des Frachtraums gelegen, dann wäre ein Absturz womöglich nicht zu vermeiden gewesen. Pilot Till gab gegenüber der „AZ“ an: „Je höher das Flugzeug steigt, umso größer wird der Druckunterschied zwischen Innenraum und Außenwelt. Dadurch wäre auch das Leck im Rumpf des Flugzeugs größer geworden, da die Druckwelle bei der Explosion stärker gewesen wäre. In einem solchen Fall hätten auch alle Bemühungen, das Flugzeug zum Landen zu bringen, nichts genützt. Die Caravelle wäre unweigerlich in die Tiefe gezogen worden.“

Die zufällige Lage des Bombenpakets in der Nähe der Außenbeplankung und die Abschirmung zum Flugzeugsinneren durch dichte Zeitungsbündel waren verantwortlich dafür, dass sich die Explosion nicht ähnlich fatal wie bei der Swiss Air auswirkte. Ein weiterer glücklicher Umstand war, dass die schwer beschädigte "Steiermark" noch nicht die normale Flughöhe von 8.000 m erreicht hatte, als der Höhenmesser die Explosion auslöste - andernfalls wäre es zu der von Till beschriebenen Implosion gekommen.

Erkenntnisse aus den Ermittlungsakten
Die Ermittlungen in der Schweiz und der BRD ergaben bald, dass es sich um den bis dahin schwersten Terroranschlag gegen die Zivilluftfahrt handelte: Ein Kommando der PFLP-GC (Volksfront zur Befreiung Palästinas, Generalkommando) hatte die Bomben in Radioapparaten eingebaut – mit einem Höhenmesser des Typs Altimeter 50 M als Auslöser. Anschließend wurden diese in zwei Paketen in Frankfurt am Main bzw. in München aufgegeben – als Luftpost nach Israel. Doch weil die El-Al am 21. Februar 1970 nicht flog, wurde die Paketpost kurzerhand umgeleitet und gelangte so durch die damals lückenhaften Kontrollen jeweils an Bord der Maschinen „Steiermark“ bzw. „Basel Land“.

Im Schlussbericht der Sicherungsgruppe Bonn-Bad Godesberg, der im Wiener Staatsarchiv in Kopie vorliegt, heißt es dazu: „Es ist wahrscheinlich, dass der Anschlag nicht der Maschine der österreichischen Luftfahrtgesellschaft AUA, sondern einem Linienflug der israelischen Luftfahrtgesellschaft El-Al gegolten hat. Diese Maschine flog laut Flugplan Februar 1970 als einziges israelisches Flugzeug an Samstagen (21.2.1970) von Frankfurt/M. nach Tel Aviv. Die Tatsache, dass aus postökonomischen Gründen mit diesem Flugzeug keine Pakete befördert wurden, blieb Außenstehenden, zu denen auch die Tatverdächtigen zu rechnen sind, verborgen.“ Genauso verhielt es sich im Falle der Swiss Air – das für Israel bestimmte Postgut, in dem sich das Bombenpaket befanden, hätte ursprünglich mit einer El-Al-Maschine befördert werden sollen, stellten die Ermittler fest: „Der planmäßige Flug fiel am 21. 2. 1970 aus. Die Post wurde daher auf die SWISS AIR-Maschine SR 551 umdirigiert und in Zürich in das später abgestürzte Flugzeug verladen.“ Bei dem Zwischentransport der Fracht München-Zürich war noch nichts passiert, „da die Innenräume der Maschine auf Bodendruck gehalten wurden und die SR 551 auf dem Flug von München nicht die Höhe erreicht, in der bei der später abgestürzten SR 330 die Detonation erfolgte“.

Kreisky: „Illusion der Terroristen zerstören“
Der Doppelanschlag und vor allem die vielen Toten in Würenlingen bedeuteten Anfang der 1970er Jahre einen großen Schock: Mit einem Mal war der Nahostkonflikt bedrohlich näher gerückt. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden umgehend verschärft, wie die „Presse“ berichtete: „In Wien hat Polizeipräsident Holaubek angeordnet, dass alle israelischen und arabischen Vertretungen, Flugbüros und sonstige gefährdete Objekte von der Zentralstreife des Wiener Sicherheitsbüros in die Überwachung einbezogen werden.“ Im Fokus der „Sicherheitsoffensive“ befand sich insbesondere der Flughafen Wien-Schwechat: „Diese Maßnahmen sehen unter anderem vor, dass alle startenden und landenden Maschinen der nahöstlichen Fluggesellschaften von Funkwagen mit schwerbewaffneten Polizisten von und zur Piste geleitet werden. Außerdem werden die Zufahrtsstraßen zum Schwechater Flughafen und das Gebäude im Süden des Flugplatzes verschärft überwacht.“ Hinsichtlich einer politischen Reaktion Österreichs meinte der damalige Oppositionsführer Bruno Kreisky: „Ich kann mir denken, dass man sich den Schweizern anschließt, sofern es nicht Überlegungen gibt, dass sich Österreich nicht in den Vordergrund schieben sollte. Aber man muss die Illusion der Terroristen zerstören, mit solchen Methoden die Staaten in die Knie zwingen zu können.“

Strafverfolgung gescheitert
Verantwortlich für die Anschläge war eine der damals berüchtigtsten palästinensischen Terrorgruppen: Die PLFP-GC. Gegründet 1963 von Achmed Jibril hatte sich die Organisation nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 der kommunistisch orientierten PLFP angeschlossen. Diese hatte weltweite Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem sie ab Ende der1960er Jahre damit begann, westliche Passagierflugzeuge zu entführen. Schon 1968 spaltete sich Jibril wieder ab. Seine PLFP-GC ging daraufhin einen Schritt weiter: Am 18. Februar 1969 feuerten vier Attentäter 62 Schüsse auf eine El-Al-Maschine auf dem Flugfeld des Züricher Flughafens Kloten. Der Co-Pilot kam dabei ums Leben, während einer der Terroristen von einem israelischen Sicherheitsmann erschossen wurde.

Im Falle der Bombenexplosionen an Bord der AUA und Swiss-Flüge entkamen die Attentäter: Der damals 29jährige Sufian Kaddoumi  und der 43jährige Badawi Mousa Jawher konnten sich rechtzeitig nach Jordanien absetzen. Zwei Helfer wurden in der BRD festgenommen, aber im Juni 1970 in den Nahen Osten abgeschoben. Kaddoumi, laut den Ermittlern der „Kopf“ des Unternehmens, hatte zwischen Anfang Jänner 1961 bis Jänner 1962 in der Wiener Porzellangasse als Untermieter gewohnt und sich gute Deutschkenntnisse angeeignet. Angeblich war er schon damals als „politischer Fanatiker“ aufgefallen. Für die Tat musste sich Kaddoumi nie verantworten – laut der Staatsanwaltschaft Frankfurt, die in der BRD noch immer ein Strafverfahren führt, soll er 1996 im Alter von 55 Jahren gestorben sein.

In der Schweiz sind die Untersuchungen zum Absturz bei Würenlingen längst eingestellt worden – wie die „Neue Züricher Zeitung“ im Dezember 2014 meldete, dürften die Ermittlungen im Sand verlaufen sein, weil „erpresserische Drohungen“ erfolgten: „Bei einem Verzicht auf die Strafverfolgung Kaddoumis und seines Komplizen sollten im Gegenzug die Schweiz und die Fluggesellschaft Swissair von weiteren Terroranschlägen verschont bleiben. Sogar von der Zahlung angeblicher ‚Schutzgelder‘ ist verschiedentlich die Rede.“ Auch die drei überlebenden Attentäter von Zürich-Kloten waren schon Anfang Oktober 1970 freigelassen worden – im Austausch für Passagiere eines Swiss Air Flugs, den die PLFP nach Jordanien entführt hatte. Das Fazit der „Neuen Züricher Zeitung“ ist daher bitter: „Es macht ganz den Anschein, als hätte die Schweiz die Gerechtigkeit auf dem Altar sogenannt höherer Interessen geopfert.“ Achmed Jibril und seine PLFP-GC wiederum kämpfen noch heute an der Seite des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien.
"Hjacker Sunday", 6. September 1970: Die PLFP entführte mehrere internationale Flüge nach Jordanien, darunter eine Swiss Air-Maschine (Quelle: Wikimedia Commons)

Freitag, 13. Februar 2015

Deckname „Boros“: Wie Rudi Wein das Spionagehandwerk erlernte

Geheimdienste sind oft nicht besonders kreativ bei der Wahl von Decknamen. So war es auch in diesem Fall. 1953 gab der ungarische Auslandsgeheimdienst einem neuen Agenten die Bezeichnung „Boros“. Nicht besonders geistreich, denn „bor“ bedeutet auf Ungarisch „Wein“ – und das wiederum war der tatsächliche Familienname des Spions: Rudi Wein, Jahrgang 1930, Holocaust-Überlebender und später Kumpan von Udo Proksch bzw. legendärer Wirt im „Gutruf“ in der Wiener Innenstadt.

Agent der „Linie D“
Wein, der 2011 verstorben ist, hing zu Lebzeiten der Ruf nach, ein Agent gewesen zu sein. Hatte er doch nach Kriegsende in der Druckerei des kommunistischen Globus-Verlags Chemiegraphie erlernt, angeblich ein klassisches Spionagehandwerk. 1979 lieferte dann ein Überläufer, der Stasi-Oberleutnant Werner Stiller, handfeste Hinweise dafür, dass Wein in Technologieschmuggelgeschäfte mit der DDR verwickelt war. Das ist soweit bekannt. Aus neuen Dokumenten, die der Politikwissenschaftler Sándor Kurtán ausgewertet hat, geht hervor, dass Weins Agentenkarriere schon Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. Und zwar war Wein zwischen 1953 und 1955 für das ungarische Amt für Staatssicherheit (AVH) bzw. für die Auslandsspionage des Innenministeriums tätig. Eingesetzt wurde er auf der „Linie D“, das heißt Wein sollte primär Informationen über Jugoslawien beschaffen. Dessen Machthaber Tito 1948 mit dem von der UdSSR geführten Ostblock gebrochen hatte. Agenten wie „Boros“ sollten selbst Informanten in Österreich anwerben, um diese danach legal oder illegal nach Jugoslawien zu übersiedeln. Zielpersonen waren zum Beispiel Facharbeiter oder später Ärzte, die im südlichen Nachbarland gesucht wurden. Wein gelang es tatsächlich einen Trentiner zu rekrutieren – der dann aber kurzerhand von der ungarischen Residentur in Rom übernommen wurde. Weil man nach zwei Jahren keine weitere Verwendung für ihn fand, war es mit Weins Spionagekarriere fürs erste vorbei.
Ungarische Botschaft in der Wiener Bankgasse: Von hier aus führte die AVH-Residentur ihre (Foto: Autor)
Im Interview mit dem Autor erläutert Sándor Kurtán seine Aktenfunde: „Rudolf Wein wurde am 23. April 1953 von einem Mitarbeiter der Residentur in Wien angeworben – auf Grund seiner kommunistischen Überzeugung. Der ungarische Geheimdienst hat ihn für folgende Aufgaben benützt: Operative Ermittlung (Sammlung von Informationen über Personen), geeignete Orte aufzufinden, die als tote Briefkästen bzw. Deckadressen geeignet sind und in einem dokumentierten Fall als Anwerbeagent. Weiters war Wein Tippgeber, weil er den ungarischen Geheimdienst auf etliche Personen aufmerksam machte, die für diesen interessant sein könnten. Ich würden sagen: Er hat hier zum Teil das Handwerk der Spionage gelernt.“

Auszüge aus Dokumenten zu „Boros“
 Brief 33/D aus Wien 6. Jänner 1953 - betrifft: Vorgang Rudolf Wein
„Genosse Szirtes [Deckname eines Mitarbeiters der Residentur – S.K.] hat den Genannten kennengelernt, welcher Mitglied der FÖJ, der KPÖ ist, parteitreu, ehrlich. Eine besondere Funktion in der Partei hat er nicht, er hat einen breiten Bekanntenkreis unter Schülern und jungen Arbeitern. Wir können ihn eventuell für Ermittlungstätigkeit oder als Verbindungsmann verwenden."

Brief 44/D aus Wien, 27. März 1953 - betrifft: Vorgang „Boros“
„Genannter ist österreichischer Staatsbürger, ca. 23 Jahre alt, unverheiratet, Eltern sind verstorben, Mitglied der FÖJ, der KPÖ, Funktion in der Partei hat er keine. Auch in der FÖJ spielt er nur eine kleine Rolle. Zurzeit arbeitet er in der Hausdruckerei eines USIA-Betriebes [von der Sowjetunion beschlagnahmtes Unternehmen]. Er ist äußerst intelligent. …..Er kann für uns  Ermittlungen durchführen, und nach einer entsprechenden Ausbildung als Anwerber oder Kurier arbeiten."

Osthandelsgeschäfte mit Udo Proksch
1957 – bei den Moskauer Jugendfestspielen – machte Wein dann Bekanntschaft mit Udo Proksch. Gemeinsam stiegen der ehemalige Zögling der NS-Eliteschule Napola Proksch und der KZ-Überlebende Wein in den Osthandel ein: Am 5. April 1966 gründeten sie die Firma Kibolac, was „Kunststoffe, Industrie, Bau, Optik, Lizenzen, Anlagen, Chemie“ bedeuten sollte. Tatsächlich handelte es sich um ein Wortspiel, das sich aus „Kibuz“ und „Napola“ zusammensetzte. Man lieferte Plastik- und Elektronikprodukte hinter den Eisernen Vorhang. Ihren Sitz hatte die Kibolac zunächst in der Wiener Siebensterngasse, dann in der Walfischgasse und schließlich ab 1969 in der Milchgasse Nr. 1, im zweiten Stock über dem „Gutruf“ – als dort zufällig Büroraum freigeworden war.
Das Gutruf führte Wein zwischen 1972 und 1991 (Foto: Autor)
IM Prokurist und die Wiener Residentur
Als Stasi-Technologiespione wurden Proksch und Wien – wie eingangs erwähnt – von dem Überläufer Stiller ins Gespräch gebracht. Dieser nannte Namen zahlreicher „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi im Westen, darunter auch in Österreich. Stiller zufolge war Rudi Wein (alias IM „Prokurist“) einer der Drahtzieher einer illegalen „Wiener Residentur“. Anders als in der BRD, wo es umgehend zu Verhaftungen kam, wurde die Staatspolizei verspätet aktiv. Die am 1. Februar 1979 durchgeführten Hausdurchsuchungen erbrachten nichts. Gut möglich, dass die Spione längst vorgewarnt waren – von einem gut platzierten „Maulwurf“: Dem Staatspolizisten Gustav Hochenbichler, alias IM „Bau“. Die Wiener Residentur, schrieb Stiller später, lieferte Informationen in „Hülle und Fülle und erhielt höchste Bewertungsnoten für den Inhalt“: „Nahezu die gesamte Entwicklung der so wichtigen Mikroelektronik in der DDR“ hing davon ab. Der Schaden, der dadurch dem Westen zugefügt wurde, „muss immens gewesen sein“.

Klartext „spricht“ auch ein Dokument der Stasi von 1979: Penibel werden darin alle Quellen aufgelistet, die der „Verräter“ Stiller gefährdete. So auch IM „Prokurist“ unter seinem eigentlichen Namen: „Wein, Rudolf – österr. Staatsbürger, […]. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik. Abdeckung durch Aktivitäten mit Außenhandelsbetrieben der DDR. Der IM konnte die inoffizielle Arbeit durch seine offizielle Geschäftstätigkeit mit DDR-Organen abdecken.“ 

Siehe dazu:
Sandor Kurtan, Zielpunkt Österreich: Aktivitäten der ungarischen Spionage-Residentur in Wien 1950-1956, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies, Vol. 8, Nr. 2/2014, 30-43.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Schaltstelle Wien: Die Third World Relief Agency und der bosnische Jihad

Prinz Eugen Straße Nr. 36, eine unscheinbare Adresse im Botschaftsviertel im 4. Wiener Gemeindebezirk. Hier hat die Third World Relief Agency (TWRA) ihren Sitz. Laut Eigendefinition handelt es sich um eine humanitäre Hilfsorganisation, gegründet 1987 von den sudanesischen Brüdern Elfatih und Sukarno Hassanein mit Zweigstellen in Sarajevo, Budapest, Moskau und Istanbul. Doch wie so oft trügt der Schein. Laut westlichen Geheimdienstkreisen erfüllte die TWRA in den frühen 1990er Jahren eine Schlüsselrolle, um radikal-islamistische Kräfte finanziell und logistisch zu unterstützen. Gelder und Waffen wurden nämlich im bosnischen Bürgerkrieg gebraucht, dem wichtigsten Operationsfeld des Jihad nach dem Kampf gegen die Rote Armee in Afghanistan in den 1980er Jahren.
Sitz der TWRA in Wien-Wieden (Foto: Autor)
Bosnien – europäisches Schlachtfeld des Jihad in den 1990er Jahren
Einige Tausend Freiwillige aus arabischen Staaten und dem Iran kämpften zwischen 1991 und 1995 an der Seite der muslimisch-nationalistischen Regierung von Präsident Alija Izetbegović. Auch Osama Bin Ladens Al Qaida stellte Kämpfer – der ehemalige Aktivist Ali Hamad meinte in einem Interview: „Al-Qaida war in Bosnien nicht an den dortigen Muslimen interessiert, sondern an der Eroberung einer Basis, von der aus sie weiter operieren konnte – so wie die USA weltweit ihre Stützpunkte haben. Einige Führer der westlichen Welt haben das durchaus registriert, aber nichts unternommen.“ Spätere Al Qaida-Attentäter sammelten in Bosnien Kampferfahrung – darunter der als „Mastermind” der Terroranschläge vom 11. September 2001 charakterisierte Kahild Sheikh Mohammed. Laut dem Experten Roland Jacquard entstand auf diese Weise eine Generation radikal-islamistischer Kämpfer, „die – obwohl jünger – genauso gut trainiert waren wie ihre Vorgänger. Und genau auf diesem Boden entwickelte sich die neue Internationale des Terrors, mit der wir es heute zu tun haben.“

Diplomatische Immunität
Bevor er nach Wien kam, fungierte Elfatih Hassanein lange als Osteuropa-Beauftragter der Nationalislamischen Front (NIF). Diese Partei beherrscht seit Ende der 1980er Jahre den Sudan und hat diesen in einen islamischen Staat auf Basis der Scharia umgewandelt. Zwischen 1991 und 1996 beherbergte das NIF-Regime Bin Laden nachdem dieser Saudi-Arabien verlassen hatte müssen.

Hassanein wurde im März 1992 in Österreich als sudanesischer Kulturattaché akkreditiert und mit einem Diplomatenpass ausgestattet, der ihm Schutz vor polizeilichen Ermittlungen einräumte. Seine Mission fasste der Sudanese so zusammen: „Bosnien muss schließlich ein muslimisches Bosnien werden, denn wenn dies nicht passiert, wäre der ganze Krieg umsonst gewesen, und wir hätten für nichts gekämpft.“ Noch 1992 stellte der bosnische Außenminister Haris Silajdzic eine Vollmacht für die TWRA aus, die die Eröffnung eines Kontos bei der GiroCredit ermöglichte, die mittlerweile in der Erste Bank aufgegangen ist. 1993 bestätigte Izetbegović noch einmal schriftlich, dass die TWRA das Vertrauen seiner Regierung genieße. Den Präsidenten soll Hassanein bereits 1964 in Belgrad kennengelernt haben.

Dass sich die TWRA ausgerechnet Wien als Zentrale erkor, sollte nicht weiters überraschen. Abgesehen von der geografischen Nähe und den historischen Beziehungen zu Bosnien, pflegte Österreich traditionell einen toleranten Umgang mit islamistischen Organisationen: Sowohl die Muslimbruderschaft als auch die Hizb ut-Tahir verfügen hier bis heute über eine starke Präsenz, die teilweise bis in die 1960er Jahre zurückreicht.

Nachschubkanal TWRA
Laut zahlreicher Untersuchungen war die TWRA einer der wichtigsten Nachschubkanäle, nachdem die UNO 1991 ein Waffenembargo für Jugoslawien verhängt hatte. Zwischen 1992 und 1995 sollen 350 Millionen US-Dollar nach Bosnien geflossen sein – wenigstens die Hälfte der Summe wurde aufgewendet, um Waffen zu kaufen und zu schmuggeln. Ursprünglich stammten die Finanzmittel aus dem Nahen und Mittleren Osten, darunter Länder wie Iran, Türkei, Brunei, Malaysia und Pakistan. Eng waren die Beziehungen auch zur Saudi High Commission for Relief of Bosnia and Herzegovina (SHC), die zwischen 1992 und 2001 alleine 600 Millionen US-Dollar bereitstellte – nominell für Hilfeleistungen und religiöse Zwecke.

Der Beauftragte der Bank, über die die TWRA-Transaktionen liefen, beschrieb den Faith Hassanei als „Gepäckträger“ von Präsident Izetbegović: „Wenn die bosniakische Regierung sagte, sie benötige Mehl, rannte er und beschaffte Mehl, wenn sie sagte, sie benötige Waffen, dann rannte er nach Waffen.“ In der Bank erinnerte man sich auch an einen saudi-arabischen Diplomaten, der in zwei Koffer fünf Millionen US-Dollar brachte.

Hasan Cengic, der als bosnischer Vize-Verteidigungsminister zahlreiche Waffendeals verhandelte, hatte einen Sitz im TWRA-Vorstand genauso wie der bosnische Botschafter in Wien, Husein Zivalj. Im Rahmen einer großen Aktion im September 1992 landeten Frachtflugzeuge aus Khartum im slowenischen Maribor. Die Fracht – 120 Tonnen an Sturmgewehren, Werfern, Minen und Munition – stammte aus ehemaligen sowjetischen Beständen in Osteuropa. Als humanitäre Hilfe deklariert wurden die Waffen per Helikopter nach Tuzla und Zeniza in Bosnien transportiert. Bei einer weiteren Nachschuboperation sollen leichte Waffen im Wert von 15 Millionen Dollar unter Mithilfe von UN-Soldaten nach Bosnien geschmuggelt worden sein. So überrascht es auch nicht, dass die TWRA 1996 von der Regierung in Sarajevo mit einer Goldmedaille für ihr Hilfsengagement ausgezeichnet wurde.

Keine rechtliche Handhabe vor 9/11
Wie kürzlich ein abtrünniges Al Qaida-Mitglied aussagte, sollen TWRA-Gelder auch Bin Ladens Truppe in Bosnien direkt zugute gekommen sein. Die TWRA finanzierte die 107 Mann starke Truppe bzw. half auf andere Art und Weise. Großzügige Unterstützung soll darüber hinaus von der SHC gekommen sein. Zacarias Moussaoui, der wegen Verwicklung in die Anschläge vom 11. September 2001 eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, gab Ende 2014 an, für Al Qaida alle Spender in einer digitalen Datenbank erfasst zu haben: In diesem Zusammenhang nannte er auch die TWRA.
Auszug aus der Aussage Moussaouis
Obgleich westliche Dienste schon vor 9/11 einen guten Einblick in diese Machenschaften hatten, war damals keine ausreichende Handhabe gegeben, um effektiv einzuschreiten. Deshalb klingt in den Memoiren des damals zuständigen Antiterrorberaters im Weißen Haus, Richard A. Clarke viel Frustration durch: „Den europäischen und amerikanischen Geheimdiensten gelang es allmählich, die Finanzierung und Unterstützung der Mudschaheddin bis zu Bin Laden im Sudan und zu Einrichtungen, die bereits von den Mudschaheddin in Westeuropa selbst gegründet worden waren, zurückzuverfolgen. Die Kontakte zu der Moschee im Finsbury Park in London, zu dem islamischen Kulturzentrum in Mailand, zu der Third World Relief Agency mit Sitz in Wien. Sie führten auch zu der Benevolence International Foundation in Chicago und zu der International Islamic Relief Organization in Saudi-Arabien. Diese ‚wohltätigen Organisationen’ beschafften Gelder, Arbeitsplätze, Ausweise, Visa, Diensträume und andere Hilfsmittel für die internationale Brigade der arabischen Kämpfer in und um Bosnien. Westliche Regierungen, auch die amerikanische, fanden vor dem 11. September kein geeignetes juristisches Mittel, um gegen diese Organisationen vorzugehen.“

TWRA-Gründer musste 1994 Österreich verlassen
1994 musste Hassanein „wegen Missbrauchs der österreichischen Gastfreundschaft“ das Land verlassen. Am 5. September 1995 führten dann deutsche und österreichische Ermittler eine Razzia im Wiener Hauptquartier durch und beschlagnahmten zahlreiche Unterlagen. „Neben dem Waffenhandel wird die TWRA als Schlepperorganisation verdächtigt“, sagte ein Münchner Staatsanwalt. Außerdem soll die TWRA in den organisierten Ankaufs von hochwertigen, in deutschen Kaufhäusern gestohlenen Waren, verwickelt gewesen sein. Ungeachtet dessen soll die TWRA noch bis 1996 weitergearbeitet haben. Hassanein war zu diesem Zeitpunkt nach Istanbul verzogen, wo er auch nach dem Ende des Bosnienkriegs seinen Geschäften nachging. Die TWRA leitete daraufhin Bruder Sukarno Hassanein.

Literatur:
Herbert Lackner, Edith Meinhart und Adelheid Wölfl, Der Fundi-Fonds von Wien, in: profil Nr. 39/2001.
Jürgen Elsässer, Wie der Dschihad nach Europa kam. Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan, St. Pölten 2005.
Peter Andreas, The Clandestine Political Economy of War and Peace in Bosnia, in: International Studies (2004) 48, 29-51.
David Weinberg, King Salaman’s Shady History, foreignpolicy.com, 27. 1. 2015