Mittwoch, 19. November 2014

„Wien wurde wieder einmal zum Schlachtfeld“: Der Mord an Evner Ergun 1984

Vor 30 Jahren, am 19. November 1984, wurde Wien von einem spektakulären Terroranschlag erschüttert. Der türkische UN-Diplomat Evner Ergun wurde in seinem Auto mitten auf der belebten Schottentor-Kreuzung erschossen. 




Die „Kronen Zeitung“ berichtete damals über die Sekunden vor dem Attentat: „Montag vormittag in der Wiener Innenstadt: Es ist 9.21 Uhr. Der Verkehr stockt: ein Zusammenstoß einer Straßenbahn mit einem Auto führt zu erheblichen Stauungen. Langsam rollt der rote Mercedes 230 E des türkischen UNO-Diplomaten Evner Ergun (52) in Richtung Ringstraße. Der Diplomat fährt von seinem Haus in der Neuwaldegger Straße 4 in Wien-Hernals zu seinem Büro in der UNO-City im 22. Bezirk Er ist in einem Diplomatenwagen mit dem Kennzeichen WD 84.001 alleine unterwegs. In der Schottengasse vor dem Haus Nr. 10 der Victoria-Versicherung, in dem auch die Zentralsparkasse eine Filiale hat, reiht sich Ergun in die Abbiegespur zum Ring ein. Die Ampel ist rot. Der Wagen rollt langsam an.“ Plötzlich läuft ein Mann – Zeugen beschreiben ihn später als etwa 30 Jahre alt, zwischen 1,75 und 1,80 Meter groß und in Jeans-Anzug mit dunkelblauer Rollhaube – vom Gehsteig vor dem Victoria-Haus quer über die Straße zu Erguns Mercedes. Vor der Fahrertür blieb der Unbekannte stehen und feuerte mit einer kurzläufigen 9mm-Pistole sechsmal durch das geschlossene Fenster. Der Diplomat wird von mindestens drei Projektilen tödlich getroffen. Daraufhin wirft der Attentäter ein zusammengerolltes Stofftuch auf das Mordopfer. Darauf ist mit Kugelschreiber gezeichnet: „Armenian Revolutionary Army“ und das Kürzel „ARA“.

Blick auf den Tatort, Schottengasse Nr. 10 (Foto: Autor)
Anschließend lief der Killer durch die Schottentor-Passage und flüchtete Richtung Innenstadt, wo sich seine Spur verlor. „Minuten später ist die Schottenkreuzung ein Tollhaus“, so die „Presse“ – „ein Taxifahrer, der von seinem Standplatz aus die dramatischen Geschehnisse beobachtete, hat die Polizei verständigt. Aus der Polizeidirektion, die ja nur einen Häuserblock entfernt ist, laufen Staatspolizisten und uniformierte Beamte zum Schottentor. Wenig später treffen die Wagen der Alarmabteilung ein. Spurensicherer erkunden den Tatort, die Straßen werden ringsum abgesperrt. Autofahrer veranstalten ein Hupkonzert. Kriminalbeamte beginnen alle Häuser zu durchkämmen und in Mistkübeln nach der Tatwaffe zu suchen.“

Evner war fünf Jahre zuvor, im August 1979, nach Wien gekommen und fungierte in der UNO-City als einer der Ressortleiter für „soziale Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten“. Damit war er der ranghöchste türkische UNO-Diplomat in Wien.

Armenischer Terrorismus
„Armeninian Revolutionary Army“ oder ARA war eine Terrorgruppe, die unter anderer Bezeichnung in den 1970er Jahren entstanden war und bis Mitte der 1980er Jahre eine Reihe von Anschlägen gegen türkische Ziele unternahm – so auch in Wien. Am 20. Juni 1984 starb der Attaché Erdogan Özen bei einem Bombenanschlag, wenige Monate darauf kam es zu den tödlichen Schüssen auf Evner Ergun. Schon neun Jahre vorher hatte eine weitere armenische Gruppe, die bedeutendere Armenian Secret Army fort he Liberation of Armenia (ASALA) den türkischen Botschafter in Wien, Danis Tunaligil, ermordet.

Erklärtes Ziel der armenischen Gruppen war es, Vergeltung für den Völkermord von 1915 an den Armeniern zu üben. Die Gewalt sollte Druck auf die türkische Regierung ausüben, die damaligen Ereignisse als Genozid anzuerkennen und die Verantwortung zu übernehmen, was auch Wiedergutmachung an Überlebende und Verwandte einschloss. Zwischen 1975 und 1985 wurden in zahlreichen europäischen Ländern mehr als 40 türkische Diplomaten und deren Familienangehörige von der ASALA ermordet.

Die österreichischen Behörden konnten keinen einzigen Fall dieser Terrorserie aufklären. Trotz umfangreicher Razzien und Erhebungen in „einschlägigen Kreisen“, in Hotels und neuralgischen Punkten (U-Bahn, Süd- und Westbahnhof, Flughafen und Grenzstellen) nach dem Attentat auf Evner Ergun zog der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Robert Danzinger, eine negative Bilanz: „Wir tappen im Dunkeln.“

Schlachtfeld Wien
„Wien wurde wieder einmal zum Schlachtfeld in einem fremden Krieg“, kommentierte Ernst Trost den Mordanschlag in der „Kronen Zeitung“. Niemand habe dagegen etwas tun können – „alle Sicherheitsmaßnahmen sind müßig. Niemand trifft eine Schuld. Wir sind erschüttert über die Mordtat – und noch mehr über die Wehrlosigkeit gegenüber den Terroristen.“ Gegen einen Überfall wie am Schottenring gebe es „keinerlei Abwehrmaßnahmen“, außer potentielle Opfer würden ihr Leben Sicherheitsregeln total unterordnen. Trost regte abschließend noch an, dass man, um den Terror zu entschärfen, diesen „ignorieren“ müsste – „aber das lässt sich kaum mit der Informationssucht einer offenen Gesellschaft vereinbaren, und mit der Informationspflicht eines freien Journalismus“. Auch Thomas Chorherr strich in der „Presse“ heraus, dass man Fanatismus trotz aller Sicherheitsmaßnahmen nicht „ausrotten“ könne: „Und Fanatismus findet seinen Weg. Er hat ihn gestern unweit der Votivkirche gefunden, die erbaut wurde, weil ein anderes Attentat misslang“ [den Mordversuch des Schneidergesellen Janos Libenyi an Kaiser Franz Josef I. 1853].

Schauplatz des Attentats, 30 Jahre danach (Foto: Autor)
Gezielter Anschlag oder „Verwechslung“?
Die Ermittlungen ergaben, dass das Attentat auf Ergun gezielt durchgeführt wurde. Seine Fahrtroute hatte man exakt ausgekundschaftet. Wenige Tage zuvor war ein Aufklärungstrupp im Wohnhaus des Mordopfers bemerkt worden – selbst die Ehefrau hatte Verdächtige beobachtet. Unglücklicherweise hatte Ergun selbst davon abgesehen, einen unauffälligen Wagen zu benützen und ständig die Route zwischen Wohnung und Amt zu wechseln – so wie es das Innenministerium als Konsequenz des Botschaftermords von 1975 angeregt hatte. Allerdings war der UN-Diplomat auch ein untypisches Ziel, weshalb es auch Spekulationen gab, er sei einer Verwechslung zum Opfer gefallen.

Österreich in der Kritik
Während in den österreichischen Medien ein Defizit bei den Sicherungsmaßnahmen in Abrede gestellt wurde, übte das türkische Außenministerium Kritik: Man erwartete von der Wiener Regierung „deutlichere Schritte“, um das „Image zu beseitigen, dass die Armenier Wien als bequemsten Ort für die Ausübung ihrer abscheulichen Taten ausgesucht haben“. Dagegen verwahrte sich Bundeskanzler Fred Sinowatz – daraus, dass der armenische Terror auf ganz Westeuropa übergegriffen habe, sei zu schließen, dass Wien „nicht als bequem gelten kann“. 

Die ARA selbst teilte nach dem Mord an Ergun mit, Wien wegen „seines symbolischen Wertes“ als Anschlagsort ausgesucht zu haben und drohte: „Wir werden bald wieder zuschlagen.“ Die Terrorkampagne gegen den türkischen Staat endete zwar erst Anfang der 1990er Jahre, aber es kam nach 1984 zu keinem Attentat armenischer Organisationen mehr in Österreich.