Geheimdienste sind oft nicht besonders kreativ bei der Wahl von Decknamen.
So war es auch in diesem Fall. 1953 gab der ungarische Auslandsgeheimdienst
einem neuen Agenten die Bezeichnung „Boros“. Nicht besonders geistreich, denn
„bor“ bedeutet auf Ungarisch „Wein“ – und das wiederum war der tatsächliche
Familienname des Spions: Rudi Wein, Jahrgang 1930, Holocaust-Überlebender und
später Kumpan von Udo Proksch bzw. legendärer Wirt im „Gutruf“ in der Wiener
Innenstadt.
Agent der „Linie D“
Wein, der 2011 verstorben ist, hing zu Lebzeiten der Ruf nach, ein Agent
gewesen zu sein. Hatte er doch nach Kriegsende in der Druckerei des
kommunistischen Globus-Verlags Chemiegraphie erlernt, angeblich ein klassisches
Spionagehandwerk. 1979 lieferte dann ein Überläufer, der Stasi-Oberleutnant
Werner Stiller, handfeste Hinweise dafür, dass Wein in
Technologieschmuggelgeschäfte mit der DDR verwickelt war. Das ist soweit
bekannt. Aus neuen Dokumenten, die der Politikwissenschaftler Sándor Kurtán
ausgewertet hat, geht hervor, dass Weins Agentenkarriere schon Jahrzehnte zuvor
begonnen hatte. Und zwar war Wein zwischen 1953 und 1955 für das ungarische Amt
für Staatssicherheit (AVH) bzw. für die Auslandsspionage des Innenministeriums
tätig. Eingesetzt wurde er auf der „Linie D“, das heißt Wein sollte primär
Informationen über Jugoslawien beschaffen. Dessen Machthaber Tito 1948 mit dem
von der UdSSR geführten Ostblock gebrochen hatte. Agenten wie „Boros“ sollten
selbst Informanten in Österreich anwerben, um diese danach legal oder illegal
nach Jugoslawien zu übersiedeln. Zielpersonen waren zum Beispiel Facharbeiter
oder später Ärzte, die im südlichen Nachbarland gesucht wurden. Wein gelang es
tatsächlich einen Trentiner zu rekrutieren – der dann aber kurzerhand von der
ungarischen Residentur in Rom übernommen wurde. Weil man nach zwei Jahren keine
weitere Verwendung für ihn fand, war es mit Weins Spionagekarriere fürs erste
vorbei.
Im Interview mit dem Autor erläutert Sándor Kurtán seine Aktenfunde: „Rudolf Wein wurde
am 23. April 1953 von einem Mitarbeiter der Residentur in Wien angeworben – auf
Grund seiner kommunistischen Überzeugung. Der ungarische Geheimdienst hat ihn für
folgende Aufgaben benützt: Operative Ermittlung (Sammlung von Informationen
über Personen), geeignete Orte aufzufinden, die als tote
Briefkästen bzw. Deckadressen geeignet sind und in einem dokumentierten Fall
als Anwerbeagent. Weiters war Wein Tippgeber, weil er den ungarischen
Geheimdienst auf etliche Personen aufmerksam machte, die für diesen interessant
sein könnten. Ich würden sagen: Er hat hier zum Teil das Handwerk der Spionage
gelernt.“
Ungarische Botschaft in der Wiener Bankgasse: Von hier aus führte die AVH-Residentur ihre (Foto: Autor) |
Auszüge aus Dokumenten zu „Boros“
Brief 33/D aus Wien 6. Jänner 1953 - betrifft: Vorgang Rudolf Wein
„Genosse Szirtes [Deckname
eines Mitarbeiters der Residentur – S.K.] hat den Genannten kennengelernt,
welcher Mitglied der FÖJ, der KPÖ ist, parteitreu, ehrlich. Eine besondere
Funktion in der Partei hat er nicht, er hat einen breiten Bekanntenkreis unter
Schülern und jungen Arbeitern. Wir können ihn eventuell für
Ermittlungstätigkeit oder als Verbindungsmann verwenden."
Brief 44/D aus Wien, 27. März 1953 - betrifft: Vorgang „Boros“
„Genannter ist österreichischer
Staatsbürger, ca. 23 Jahre alt, unverheiratet, Eltern sind verstorben, Mitglied
der FÖJ, der KPÖ, Funktion in der Partei hat er keine. Auch in der FÖJ spielt
er nur eine kleine Rolle. Zurzeit arbeitet er in der Hausdruckerei eines
USIA-Betriebes [von der Sowjetunion beschlagnahmtes Unternehmen]. Er ist äußerst intelligent. …..Er kann für uns Ermittlungen durchführen, und nach einer
entsprechenden Ausbildung als Anwerber oder Kurier arbeiten."
Osthandelsgeschäfte mit Udo
Proksch
1957 – bei den Moskauer Jugendfestspielen – machte Wein dann Bekanntschaft
mit Udo Proksch. Gemeinsam stiegen der ehemalige Zögling der NS-Eliteschule
Napola Proksch und der KZ-Überlebende Wein in den Osthandel ein: Am 5. April
1966 gründeten sie die Firma Kibolac, was „Kunststoffe, Industrie, Bau, Optik,
Lizenzen, Anlagen, Chemie“ bedeuten sollte. Tatsächlich handelte es sich um ein
Wortspiel, das sich aus „Kibuz“ und „Napola“ zusammensetzte. Man lieferte
Plastik- und Elektronikprodukte hinter den Eisernen Vorhang. Ihren Sitz hatte
die Kibolac zunächst in der Wiener Siebensterngasse, dann in der Walfischgasse
und schließlich ab 1969 in der Milchgasse Nr. 1, im zweiten Stock über dem
„Gutruf“ – als dort zufällig Büroraum freigeworden war.
IM Prokurist und die Wiener
Residentur
Das Gutruf führte Wein zwischen 1972 und 1991 (Foto: Autor) |
Als Stasi-Technologiespione wurden Proksch und Wien – wie eingangs erwähnt
– von dem Überläufer Stiller ins Gespräch gebracht. Dieser nannte Namen
zahlreicher „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi im Westen, darunter auch
in Österreich. Stiller zufolge war Rudi Wein (alias IM „Prokurist“) einer der
Drahtzieher einer illegalen „Wiener Residentur“. Anders als in der BRD, wo es
umgehend zu Verhaftungen kam, wurde die Staatspolizei verspätet aktiv. Die am
1. Februar 1979 durchgeführten Hausdurchsuchungen erbrachten nichts. Gut
möglich, dass die Spione längst vorgewarnt waren – von einem gut platzierten
„Maulwurf“: Dem Staatspolizisten Gustav Hochenbichler, alias IM „Bau“. Die
Wiener Residentur, schrieb Stiller später, lieferte Informationen in „Hülle und
Fülle und erhielt höchste Bewertungsnoten für den Inhalt“: „Nahezu die gesamte
Entwicklung der so wichtigen Mikroelektronik in der DDR“ hing davon ab. Der
Schaden, der dadurch dem Westen zugefügt wurde, „muss immens gewesen sein“.
Klartext „spricht“ auch ein Dokument der Stasi von 1979: Penibel werden
darin alle Quellen aufgelistet, die der „Verräter“ Stiller gefährdete. So auch
IM „Prokurist“ unter seinem eigentlichen Namen: „Wein, Rudolf – österr.
Staatsbürger, […]. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur
Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik. Abdeckung durch Aktivitäten
mit Außenhandelsbetrieben der DDR. Der IM konnte die inoffizielle Arbeit durch
seine offizielle Geschäftstätigkeit mit DDR-Organen abdecken.“
Siehe dazu:
Sandor Kurtan, Zielpunkt Österreich: Aktivitäten der ungarischen Spionage-Residentur in Wien 1950-1956, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies, Vol. 8, Nr. 2/2014, 30-43.
Siehe dazu:
Sandor Kurtan, Zielpunkt Österreich: Aktivitäten der ungarischen Spionage-Residentur in Wien 1950-1956, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies, Vol. 8, Nr. 2/2014, 30-43.