Freitag, 13. Februar 2015

Deckname „Boros“: Wie Rudi Wein das Spionagehandwerk erlernte

Geheimdienste sind oft nicht besonders kreativ bei der Wahl von Decknamen. So war es auch in diesem Fall. 1953 gab der ungarische Auslandsgeheimdienst einem neuen Agenten die Bezeichnung „Boros“. Nicht besonders geistreich, denn „bor“ bedeutet auf Ungarisch „Wein“ – und das wiederum war der tatsächliche Familienname des Spions: Rudi Wein, Jahrgang 1930, Holocaust-Überlebender und später Kumpan von Udo Proksch bzw. legendärer Wirt im „Gutruf“ in der Wiener Innenstadt.

Agent der „Linie D“
Wein, der 2011 verstorben ist, hing zu Lebzeiten der Ruf nach, ein Agent gewesen zu sein. Hatte er doch nach Kriegsende in der Druckerei des kommunistischen Globus-Verlags Chemiegraphie erlernt, angeblich ein klassisches Spionagehandwerk. 1979 lieferte dann ein Überläufer, der Stasi-Oberleutnant Werner Stiller, handfeste Hinweise dafür, dass Wein in Technologieschmuggelgeschäfte mit der DDR verwickelt war. Das ist soweit bekannt. Aus neuen Dokumenten, die der Politikwissenschaftler Sándor Kurtán ausgewertet hat, geht hervor, dass Weins Agentenkarriere schon Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. Und zwar war Wein zwischen 1953 und 1955 für das ungarische Amt für Staatssicherheit (AVH) bzw. für die Auslandsspionage des Innenministeriums tätig. Eingesetzt wurde er auf der „Linie D“, das heißt Wein sollte primär Informationen über Jugoslawien beschaffen. Dessen Machthaber Tito 1948 mit dem von der UdSSR geführten Ostblock gebrochen hatte. Agenten wie „Boros“ sollten selbst Informanten in Österreich anwerben, um diese danach legal oder illegal nach Jugoslawien zu übersiedeln. Zielpersonen waren zum Beispiel Facharbeiter oder später Ärzte, die im südlichen Nachbarland gesucht wurden. Wein gelang es tatsächlich einen Trentiner zu rekrutieren – der dann aber kurzerhand von der ungarischen Residentur in Rom übernommen wurde. Weil man nach zwei Jahren keine weitere Verwendung für ihn fand, war es mit Weins Spionagekarriere fürs erste vorbei.
Ungarische Botschaft in der Wiener Bankgasse: Von hier aus führte die AVH-Residentur ihre (Foto: Autor)
Im Interview mit dem Autor erläutert Sándor Kurtán seine Aktenfunde: „Rudolf Wein wurde am 23. April 1953 von einem Mitarbeiter der Residentur in Wien angeworben – auf Grund seiner kommunistischen Überzeugung. Der ungarische Geheimdienst hat ihn für folgende Aufgaben benützt: Operative Ermittlung (Sammlung von Informationen über Personen), geeignete Orte aufzufinden, die als tote Briefkästen bzw. Deckadressen geeignet sind und in einem dokumentierten Fall als Anwerbeagent. Weiters war Wein Tippgeber, weil er den ungarischen Geheimdienst auf etliche Personen aufmerksam machte, die für diesen interessant sein könnten. Ich würden sagen: Er hat hier zum Teil das Handwerk der Spionage gelernt.“

Auszüge aus Dokumenten zu „Boros“
 Brief 33/D aus Wien 6. Jänner 1953 - betrifft: Vorgang Rudolf Wein
„Genosse Szirtes [Deckname eines Mitarbeiters der Residentur – S.K.] hat den Genannten kennengelernt, welcher Mitglied der FÖJ, der KPÖ ist, parteitreu, ehrlich. Eine besondere Funktion in der Partei hat er nicht, er hat einen breiten Bekanntenkreis unter Schülern und jungen Arbeitern. Wir können ihn eventuell für Ermittlungstätigkeit oder als Verbindungsmann verwenden."

Brief 44/D aus Wien, 27. März 1953 - betrifft: Vorgang „Boros“
„Genannter ist österreichischer Staatsbürger, ca. 23 Jahre alt, unverheiratet, Eltern sind verstorben, Mitglied der FÖJ, der KPÖ, Funktion in der Partei hat er keine. Auch in der FÖJ spielt er nur eine kleine Rolle. Zurzeit arbeitet er in der Hausdruckerei eines USIA-Betriebes [von der Sowjetunion beschlagnahmtes Unternehmen]. Er ist äußerst intelligent. …..Er kann für uns  Ermittlungen durchführen, und nach einer entsprechenden Ausbildung als Anwerber oder Kurier arbeiten."

Osthandelsgeschäfte mit Udo Proksch
1957 – bei den Moskauer Jugendfestspielen – machte Wein dann Bekanntschaft mit Udo Proksch. Gemeinsam stiegen der ehemalige Zögling der NS-Eliteschule Napola Proksch und der KZ-Überlebende Wein in den Osthandel ein: Am 5. April 1966 gründeten sie die Firma Kibolac, was „Kunststoffe, Industrie, Bau, Optik, Lizenzen, Anlagen, Chemie“ bedeuten sollte. Tatsächlich handelte es sich um ein Wortspiel, das sich aus „Kibuz“ und „Napola“ zusammensetzte. Man lieferte Plastik- und Elektronikprodukte hinter den Eisernen Vorhang. Ihren Sitz hatte die Kibolac zunächst in der Wiener Siebensterngasse, dann in der Walfischgasse und schließlich ab 1969 in der Milchgasse Nr. 1, im zweiten Stock über dem „Gutruf“ – als dort zufällig Büroraum freigeworden war.
Das Gutruf führte Wein zwischen 1972 und 1991 (Foto: Autor)
IM Prokurist und die Wiener Residentur
Als Stasi-Technologiespione wurden Proksch und Wien – wie eingangs erwähnt – von dem Überläufer Stiller ins Gespräch gebracht. Dieser nannte Namen zahlreicher „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi im Westen, darunter auch in Österreich. Stiller zufolge war Rudi Wein (alias IM „Prokurist“) einer der Drahtzieher einer illegalen „Wiener Residentur“. Anders als in der BRD, wo es umgehend zu Verhaftungen kam, wurde die Staatspolizei verspätet aktiv. Die am 1. Februar 1979 durchgeführten Hausdurchsuchungen erbrachten nichts. Gut möglich, dass die Spione längst vorgewarnt waren – von einem gut platzierten „Maulwurf“: Dem Staatspolizisten Gustav Hochenbichler, alias IM „Bau“. Die Wiener Residentur, schrieb Stiller später, lieferte Informationen in „Hülle und Fülle und erhielt höchste Bewertungsnoten für den Inhalt“: „Nahezu die gesamte Entwicklung der so wichtigen Mikroelektronik in der DDR“ hing davon ab. Der Schaden, der dadurch dem Westen zugefügt wurde, „muss immens gewesen sein“.

Klartext „spricht“ auch ein Dokument der Stasi von 1979: Penibel werden darin alle Quellen aufgelistet, die der „Verräter“ Stiller gefährdete. So auch IM „Prokurist“ unter seinem eigentlichen Namen: „Wein, Rudolf – österr. Staatsbürger, […]. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik. Abdeckung durch Aktivitäten mit Außenhandelsbetrieben der DDR. Der IM konnte die inoffizielle Arbeit durch seine offizielle Geschäftstätigkeit mit DDR-Organen abdecken.“ 

Siehe dazu:
Sandor Kurtan, Zielpunkt Österreich: Aktivitäten der ungarischen Spionage-Residentur in Wien 1950-1956, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies, Vol. 8, Nr. 2/2014, 30-43.