Freitag, 6. Juni 2014

„Furchtbarer Knall, riesige Stichflamme“

Vor 30 Jahren war Wien Schauplatz einer Terrorwelle, die völlig in Vergessenheit geraten ist. Nachdem die „Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens“ (ASALA) schon 1975 den Botschafter der Türkei, Danis Tunaligil, ermordet hatte, verübte die "Armenische Revolutionäre Armee" (ARA) neun Jahre später zwei weitere Attentate gegen türkische Diplomaten: Am 20. Juni 1984 wurde der Attaché Erdogan Özen bei einer Bombenexplosion getötet, wenige Monate darauf – am 19. November 1984 – wurde der UN-Diplomat Evner Ergun in seinem Auto bei der Schottentor-Kreuzung erschossen. Wirklich aufklären konnten die österreichischen Behörden keinen einzigen Fall dieser Terrorserie. Dafür traten immer wieder auf tragische Weise Schwachstellen beim Schutz für gefährdete ausländische Diplomaten zutage.

„Geheimarmee zur Befreiung Armeniens“
Die marxistisch-leninistisch orientierte ASALA, die 1975 im libanesischen Beirut gegründet wurde, verübte bis Anfang der 1990er Jahre 110 Terroranschläge. Ihr erklärtes Ziel war es, Vergeltung für den Völkermord von 1915 an den Armeniern zu üben. Die Gewalt sollte Druck auf die türkische Regierung ausüben, die damaligen Ereignisse als Genozid anzuerkennen und die Verantwortung zu übernehmen, was auch Wiedergutmachung an Überlebende und Verwandte einschloss. Zwischen 1975 und 1985 wurden in zahlreichen europäischen Ländern mehr als 40 türkische Diplomaten und deren Familienangehörige ermordet. Im Juli und August 1983 verübte die ASALA einen Sprengstoffanschlag auf den Flughafen Orly in Paris (7. Tote), auf den Flughafen Esenboga in Ankara (9 Tote) sowie auf den großen Bazar in Istanbul (2 Tote), wobei sieben Personen getötet wurden. Die dadurch erzielte Aufmerksamkeit ließ sich aber nicht in greifbare politische Erfolge ummünzen. Auch gab es wenig Unterstützung seitens der armenischen Diaspora: Trotz Verständnis für Ziele und Motivation stießen die Gewalttaten, die in ihrem Namen begangen wurden, auf zunehmende Ablehnung.

Mit dem israelischen Einmarsch in den Libanon 1982 verlor die Gruppe den größten Teil ihrer Organisationsstruktur. Sympathisierende palästinensische Organisationen wie die PLO stellten ihre Unterstützung ein. Ein weiterer schwerer Schlag war die Ermordung des ASALA-Gründers Hagop Hagopjan am 28. April 1988 in Athen. Die letzte Aktion vom 19. Dezember 1991 zielte erfolglos auf die Limousine des türkischen Botschafters in Budapest.

Die in den 1970er Jahren unter anderem Namen gegründete ARA war sowohl Verbündeter als auch Rivale der bedeutenderen ASALA. Diese zweite Gruppe verübte bis Mitte der 1980er Jahre Anschläge gegen türkische Ziele.

Wien als Terrorschauplatz
In Wien schlugen ASALA und ARA insgesamt dreimal zu. Am 22. Oktober 1975 erschoss ein ASALA-Killerkommando den 60jährigen türkischen Botschafter Danis Tunaligil an seinem Schreibtisch. Die "Kronen Zeitung" nannte es den ersten politischen Mord in Österreich seit den Schüssen auf Bundeskanzler Engelbert Dollfuss (1934). Knapp vor Mittag hatten drei Männer das türkische Botschaftsgebäude in der Prinz-Eugen-Straße Nr. 40 betreten. Sie bahnten sich den Weg bis in das Arbeitszimmer von Tunaligil. Dieser versuchte noch die Terroristen zu täuschen, indem er sich als Sekretär ausgab, hatte aber keine Chance. Man ließ ihn auf seinem Sessel Platz nehmen, dann gab einer der Killer eine tödliche Salve aus einer Maschinenpistole ab. Der Botschafter war ohne Schutz gewesen – der ständige, im Sicherheitsdienst ausgebildete Portier war an Grippe erkrankt. Seine Vertretung ließ sich leicht überrumpeln. Er betätigte ohne weitere Rückfrage die elektronische Schließeinrichtung der Eingangstür wie "profil" berichtete: "Als die Tür hinter den drei Besuchern wieder ins Schloß fällt, reißen zwei von ihnen Maschinenpistolen (ein israelisches und ein englisches Fabrikat) aus Aktenkoffern. Der Wächter - ein Angehöriger des türkischen Sicherheitsdienstes - greift zum Telefon. Einer der Eindringlinge reißt das  Kabel des Apparates aus der Wand, fesselt den Portier und bleibt in der Portiersloge zurück. Die beiden anderen laufen die Treppe hoch, durchqueren das Sekretärinnenzimmer, fordern die Anwesenden in englischer Sprache auf, sich auf den Boden zu legen und dringen ins Botschafterzimmer ein."

Terrorschauplatz türkische Botschaft Wien-Wieden (Foto: Autor)
Am 20. Juni 1984 folgte das nächste Attentat, diesmal von Seiten der ARA – per ferngezündeter Autobombe. Als Attaché Erdogan Özen (angeblich einer der stellvertretenden Leiter des Geheimdiensts MIT) um 08.43 Uhr gerade seinen Honda-Accord, den er ausnahmsweise selbst chauffierte, auf dem Botschaftsparkplatz in der Theresianumgasse abstellte, gab es eine Explosion: „Mit einem furchtbaren Knall und in eine riesige Stichflamme gehüllt“ wurde der Wagen fünf Meter hoch in die Luft geschleudert. „Der 50jährige Diplomat verbrannte beim lebendigen Leibe im Auto, das zerfetzt, mit dem Dach nach unten auf die Straße zurückgefallen war“, so der Bericht im „Kurier“. Die Bombe, bestehend aus 2 bis 5 kg des militärischen Sprengstoffs NPT, war unter der Bodenplatte hinter dem linken Vordersitz angebracht gewesen. Wrackteile flogen teils 30 Meter weit, im Umkreis von mehreren hundert Metern gingen die Fensterscheiben bis in den fünften Stock zu Bruch. Dem vor der Botschaft postierten 60jährige Polizeigruppeninspektor Leopold Smetaczek, der eben noch zwei Autos gestoppt hatte, um den Attache einparken zu lassen, verbrannte die Stichflamme die Hälfte seiner Haut. Fünf weitere Passanten erlitten teils schwere Verletzungen.

Hier explodierte 1984 eine Autobombe: Botschaftsparkplatz Theresianumgasse (Foto: Autor)
Dass eben auch „nichtsahnende Bürger“ getroffen wurden, habe die Öffentlichkeit aufgeschreckt und nicht „weil wieder einmal ein spektakulärer Diplomaten- oder Politikermord geschah“, meinte die „Presse“-Journalistin Ilse Leitenberger. Diese hielt auch fest, dass man sich des Terrorrisikos in einer so neuralgisch gelegenen Stadt wie Wien „nie entledigen“ werden könne: „Es gehört immer noch zu den gebräuchlichsten feuilletonistischen Fleißaufgaben ausländischer Korrespondentenarbeit, Wien als den Treffpunkt der Weltspionage zu bezeichnen, zumindest als deren bevorzugte Relaisstation. Das hören wir recht ungern, das willen wir zumindest so lange nichts wissen, als es nicht ‚kracht‘ und ein unschuldiger, schöner Junitag plötzlich verdüstert wird.“ Im „Kurier“ kommentierte Hans Rauscher die Aussage einer Augenzeugin im ORF („Ich verstehe nicht, wer so etwas machen kann“) folgendermaßen: „Die Welt sieht leider so aus, dass sehr viele so etwas machen können. Es wimmelt nur so von wildäugigen Fanatikern, die überzeugt sind, dass man für eine bessere Zukunft der Menschheit schon ein paar unschuldige Menschen umbringen oder verstümmeln kann.“

Der dritte Anschlag ereignete sich an der Schottentorkreuzung, einem belebten Verkehrskotenpunkt in der Wiener Innenstadt: Als dort am 19. November 1984 der ranghöchste türkische Diplomat bei der UNO, der 52jährige Evner Ergun, mit seinem roten Mercedes 230 E um 09.21 Uhr vor einer roten Ampel anhielt, sprang ein junger Mann an die Tür neben dem Fahrersitz. Er zog eine 9-mm-Pistole und schoss sechsmal durch die Scheibe. Ergun sank tot hinter dem Lenkrad zusammen. Bevor der Killer im Menschengewühl der Schottentor-Passage untertauchte, warf er noch ein weißes Tuch über das blutüberströmte Gesicht seines Opfers. Darauf waren mit Kugelschreiber in Großbuchstaben die Zeichen der ARA gemalt.

Vor der Schottengasse Nr. 10 hatte sich der Killer postiert (Foto: Autor)
Schutz und Aufklärung mangelhaft
„Die österreichischen Behörden werden nichts unversucht lassen, diese verabscheuungswürdige Tat aufzuklären“, hatte Bundeskanzler Fred Sinowatz nach dem Anschlag auf Erdogan Özen an den türkischen Ministerpräsidenten telegrafiert. In allen Fällen hatte sich die armenischen Gruppen dazu bekannt, aber es gelang nie, die Täter auszuforschen. Diese hatten sich umgehend ins Ausland abgesetzt, lautete jedes Mal die knappe Erkenntnis der Staatspolizei. Als das türkische Außenministerium nach dem dritten Mord kritisch anmerkte, die Armenier hätten sich Wien als „bequemsten Ort“ für Anschläge ausgesucht, wies das das Innenministerium zurück. Eineinhalb Jahre zuvor hatten sich die türkischen Botschaftsangehörigen beschattet gefühlt – diesbezügliche Ermittlungen hatten aber nichts ergeben. Die ARA selbst teilte nach dem Mord an Ergun mit, Wien wegen „seines symbolischen Wertes“ als Anschlagsort ausgesucht zu haben und drohte: „Wir werden bald wieder zuschlagen.“ Der Terror endete zwar erst Anfang der 1990er Jahre, aber es kam nach 1984 zu keinem Attentat armenischer Organisationen in Österreich mehr.

Die Terrorwelle machte dafür Defizite bei der inneren Sicherheit deutlich – so war das Attentat auf Botschafter Tunaligil 1975 vor allem deswegen möglich gewesen, weil die Killer in das Gebäude vordringen konnten. Hier hatte einerseits das türkische Sicherheitspersonal versagt – andererseits ging die ungehinderte Flucht der Terroristen „zu Lasten der österreichischen Behörden“, wie Erich Grolig in der „Presse“ kritisierte: Vielleicht seien diese „selbst Opfer eines von der Spitze her verbreiteten Gefühls der Laxheit“ geworden, „auf dieser ‚Insel der Seligen’ werde schon nichts geschehen“. Laut Artikel 22 des „Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen“ ist der Empfangsstaat verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zum Schutz der ausländischen Mission zu treffen. „Weiterwursteln ist das Bequemere und kostet auch nichts. Doch wie gesagt, nun liegt ein toter Botschafter auf dem Wiener Parkett. Vielleicht sollt man doch etwas tun?“, fragte Grolig zugespitzt. So war die Kriminalpolizei frühzeitig über den Terrorüberfall informiert worden ("Der Botschafter ist ermordet worden"): "Aber erst nach dem Rettungsarzt darf Wiens Polizei an den Tatort in der Prinz Eugen Straße Nr. 40. Denn die Botschaftsangehörigen sind zunächst der Meinung, dass man den Tod ihres Chefs der Öffentlichkeit verheimlichen soll. Sie verlangen von den österreichischen Behörden eine totale Nachrichtensperre. Erst nach einem Telefonat mit dem Außenministerium in Ankara und einstündigem Palaver gestatteten türkische Diplomaten den Erhebungsbeamten der Wiener Polizei den Eintritt in die Büroräume der Botschaft." Obgleich Polizeistreifen innerhalb von 15 Minuten die Botschaft abriegelten, die Bahnhöfe überwacht und Einsatzkommandos an die Ausfallstraßen dirigiert wurden, waren die Chancen der Fahndung wegen noch fehlender Täterbeschreibungen "gleich null", recherchierte "profil". Die Polizei hatte "kostbare Minuten" verloren, weil sie noch um die Erlaubnis, die Angestellten der Botschaft zu befragen, hatte verhandeln müssen.

Nur wenige Monate nach dem Anschlag auf Tunaligil, am 21. Dezember 1975 sollte übrigens Carlos der „Schakal“ das Wiener OPEC-Hauptquartier überfallen. Auch hier gab es im Nachhinein viel Kritik, ob die Objektschutzmaßnahmen ausreichend gewesen waren. Aber wie das tragische Beispiel des Polizisten Smetaczek zeigte, konnte die tödliche Gefahr auch plötzlich aus unerwarteter Richtung kommen. 
Der letzte Mord der ARA in Wien - Meldung in der Arbeiter-Zeitung (Quelle: www.arbeiter-zeitung.at)