Der Bürgerkrieg und der
Zerfall der staatlichen Ordnung in Libyen ist ein aktueller Anlass, sich ein
bemerkenswertes Kapitel österreichischer Außen- und Wirtschaftspolitik in
Erinnerung zu rufen. In den 1970er und 1980er Jahren knüpfte Bundeskanzler
Bruno Kreisky enge Kontakte zum 2011 gestürzten Machthaber Muammar al-Gaddafi –
um dadurch Sicherheit vor Terrorismus zu schaffen und um die Interessen der
heimischen Wirtschaft zu bedienen. Neue Einblicke liefern die
Tagebuchaufzeichnungen von Handels- und Industrieminister Josef Staribacher,
der 2014 verstorben ist.
Der „Pate“ des Terrors
Muammar
al-Gaddafi galt seit Anfang der 1970er Jahre als „Pate“ des internationalen
Terrorismus: Neben Guerillabewegungen in Niger und Mali und islamischen
Aufständischen auf den Philippinen unterstützte er auch die terroristische
nordirische IRA, palästinensische Gruppen und die Japanische Rote Armee. Schon
1975 fasste der österreichische Botschafter in Tripolis seinen persönlichen Eindruck vom
Revolutionsführer auf pointierte Weise so zusammen: „Gaddafi ist weder ein
Operettenoberst noch ein finster brütender Dr. Mabuse. Intelligenz (die nicht
im Widerspruch steht zu einer möglichen Geisteskrankheit), mangelndes Wissen,
persönliche Ausstrahlung, fanatisches Sendungsbewusstsein, Dollarmilliarden zu
seiner nahezu unumschränkten Verfügung und Ambitionen, die viel zu groß sind
für Libyen, machen ihn zu einer ernst zu nehmenden Gefahr.“
Der Versuch, Gaddafi zu mäßigen
Als Bruno
Kreisky Gaddafi im Rahmen seiner Fact-Finding-Mission für die Sozialistische
Internationale (SI) 1975 zum ersten Mal traf, kritisierte dieser die jüdische
Emigration aus der Sowjetunion nach Israel – und warnte indirekt auch Länder
wie Österreich, die diesen Prozess als Durchgangsstation ermöglichten: „Jeder,
der die Immigration zulässt oder Waffen liefert, nimmt am Krieg gegen die
Palästinenser teil und ist ein Kriegsverbrecher.“ Kreisky war sich daher der
Gefahr, die von Libyen auch für Österreich ausging, nur allzu bewusst. „Das
Interesse Kreiskys an Gaddafis Politik bestand darin, dass dieser auf radikale
Kreise im arabischen Raum und in Europa einen großen Einfluss hatte“, erinnert
sich der langjährige Innenminister Erwin Lanc und fügt hinzu: „Nach unseren
Informationen war Libyen zeitweise für diese Leute eine Ausbildungsstätte.
Daher war Gaddafi auch ein Hort der Bedrohung.“
Im
Falle der Wiener OPEC-Geiselnahme
Ende 1975 war der Verdacht, die Täter hätten von Libyen Unterstützung erhalten,
von Anfang an stark. Aber Kreisky blieb bei seiner Überzeugung, „weder Gaddafi,
noch irgendein ein anderer Libyer hatte bei dem OPEC-Anschlag die Hand im
Spiel“. Auch während der 1980er Jahre sollte Kreisky Gaddafi gegen entsprechende
Terror-Vorwürfe seitens der USA in Schutz nehmen. Die hartnäckige Weigerung, an
eine libysche Beteiligung zu glauben, hing mit dem persönlichen
Vertrauensverhältnis zusammen, das sich zwischen den beiden Politikern über viele
Jahre hin aufgebaut hatte.
Kreisky
versprach sich viel davon, Gaddafi von seinem radikalen politischen Weg
abzubringen, zu mäßigen und damit auch präventiv für Österreichs Sicherheit zu
sorgen. In einem vertraulichen Schreiben teilte Kreisky seinem westdeutschen
Amtskollegen Helmut Schmidt mit: „Ich glaube, dass Gaddafi aus seiner eigenen
Situation heraus bemüht ist, seine Beziehungen zum Westen zu verbessern. Die
derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Libyens dürften diesen Wunsch
dringlicher erscheinen lassen, seine Verwirklichung aber auch erschweren. Es
wird für Gaddafi sicher nicht leicht sein, sein bisheriges Image im Westen als
Schutzpatron so gut wie jeder terroristischen Bewegung zu ändern. Dennoch
glaube ich, dass es im wohlverstandenen Interesse des gesamten Westens sein
müsste, den Annäherungsversuch Gaddafis nicht von vornherein zurückzuweisen.“
Handelspartner Libyen
Neben der politischen Komponente und
Sicherheitsüberlegungen kam hinzu, dass Libyen für die
exportabhängige österreichische Wirtschaft einen interessanten Handelspartner
darstellte – für den verstaatlichten
Stahlkonzern VOEST, genauso wie für viele andere kleine und mittlere
Unternehmen. Gefolgt von Ägypten und Algerien war Libyen 1982 der wichtigste
Handelspartner Österreichs in Nordafrika: Sowohl Ausfuhren nach Libyen, als auch
die Einfuhren aus Libyen hatten sich zwischen 1977 und 1981 nahezu
verdreifacht: Von 851 Millionen (1977) auf mehr als zwei Milliarden Schilling
(1981). Allerdings bestand ein beträchtliches Außenhandelsdefizit. Denn während
Österreich Maschinen aller Art, Straßenfahrzeuge, Möbel, Schlachtvieh,
Schnittholz, Papier, Textilien, medizinische Erzeugnisse und Frischgemüse lieferte,
bestand die Einfuhr aus Libyen fast ausschließlich aus Rohöl. Erschwerend
hinzukam, dass dieses Produkt zu einem Zeitpunkt als der Erdölpreis allgemein
stark zurückging, zu einem erhöhten Preis gekauft werden musste.
Wie diese Wirtschafts-Kooperation eingefädelt wurde
und „hinter den Kulissen“ lief, darüber geben Tagebuchaufzeichnungen von
Handels- und Industrieminister Josef Staribacher Auskunft. Dieser war federführend
beteiligt, als im April 1975 bei einem Besuch von Gaddafis Stellvertreter Abd
al-Salam Jalloud die ersten Weichen gestellt wurden. Das war alles anderes als
einfach und lieferte einen Vorgeschmack auf spätere Probleme. So vermerkte
Staribacher am 20. April 1975: „Jalloud
möchte natürlich unter allen Umständen, wenn er von Österreich wegfährt,
konkrete Ergebnisse mitbringen. Das einzige, was tatsächlich vorbereitet ist,
ist der Kooperationsvertrag resp. Handelsvertrag. Hier kann Kreisky und Jalloud
ihn unterzeichnen, obwohl an und für sich die Kompetenz eindeutig beim
Handelsministerium und daher bei mir liegen würde. […] Wie aber konkrete
Geschäfte in dieser kurzen Zeit abgeschlossen werden konnten, ja sogar konkreter
vorbereitet werden könnten, ist mir ein Rätsel. Hier werde ich mich selbst
überraschen lassen. Der Außenhandelsstellenleiter, der bei der ganzen Fahrt und
überall dabei war, was ich sehr begrüßte, hat mir gesagt, dass in Tripolis eine
irrsinnige harte Konkurrenz ist. Die Libyer sind nicht bereit, irgendwelche
finanziellen Zusagen zu machen oder gar wirkliche Geschäfte abzuschließen, die
sie irgend anderswo billiger und günstiger kriegen können. Natürlich
interessiert sich Jalloud für alles Mögliche. Natürlich haben ihn die
Panzerfahrzeuge ganz gut gefallen [für Jalloud wurde eigens eine Vorführung von
Steyr-Daimler-Puch-Erzeugnissen in der Heereskraftfahrschule in Baden
organisiert] und er meinte nur, es müssten stärke Panzer gemacht werden. Wenn
es aber zur konkreten Diskussion über die Preise kommen wird, bin ich
überzeugt, wird es ungeheuer schwierig sein, wirklich ein konkretes Geschäft
zustande zu bringen.“
Tags darauf kam Jalloud
bei der offiziellen Sitzung mit Kreisky dann doch auf konkrete Lieferwünsche zu sprechen: „Außerdem
möchte er sehr konkrete Importanträge über die Menge und den Preis von uns
haben. Allerdings interessiert er sich nur für Produkte, die am Weltmarkt knapp
sind und er sicherlich nicht bereit ist, höhere Preise zu bezahlen. Das
Ergebnis ist dann aber letzten Endes doch das in unser Protokoll nur
aufgenommen wird, die einzelnen Wünsche. […] Die Methode Kreiskys große
Pläne zu entwickeln und sie nur anzudeuten und die konkrete Durchführung aber
nicht in Angriff zu nehmen, sondern einem anderen zu übertragen, akzeptiere ich
nicht.“
„Wirtschaftlich interessant, ansonsten muss man nicht
dort gewesen sein“
Von 22. bis 24.
Oktober 1976 war Staribacher in Tripolis, wo die im Jahr zuvor vereinbarte
„Gemischte österreichisch-libysch-arabische Kommission“ nach monatelangen
Verzögerungen ihre erste Tagung abhielt. In diesem Gremium sollte der gesamte
Bereich der Wirtschaftsbeziehungen besprochen werden. Tatsächlich trat es nie
in der vollen Besetzung zusammen. Dafür wurde gehörig gefeilscht. Dazu
Staribacher: „Ich bin überzeugt, dass es in Libyen große
Entwicklungsmöglichkeiten gibt, dass aber manche Bedingungen für unsere Firmen
wirklich fast unakzeptabel sind. Der Viehexport, die 26.000 Stück, mussten bis
jetzt mit 150 Mio. Schilling plus der Stützung der einzelnen Bundesländer
verbilligt werden. Ich versuchte der libyschen Seite klarzumachen, dass wir
nicht den Preis noch weiter senken können.“ Von der VOEST wollten die Libyer
für einen aus österreichischer Sicht schon „ungünstigen“ Einstandspreis eines
Liefervertrags nochmals eine Subvention von 30 Prozent herausholen. Von den
Gegebenheiten in Libyen zeigte sich der Handelsminister mäßig begeistert: „Die
Verpflegung war für afrikanische Verhältnisse wahrscheinlich gut, für unsere
äußerst primitiv.“ Auch das Nachtleben bot keine wirkliche Zerstreuung: Zum
Abendessen im Restaurant trat eine irakische Sängerin auf, die „bis oben hin
bekleidet“ war und dazu „schreckliche Tanzrhythmen und [eine] noch
schrecklichere laute Stimme“ darbot. Staribachers trockenes Fazit über Libyen:
„Wirtschaftlich für uns ein interessantes Land, ansonsten aber kann ich nur
sagen, muss man wahrlich nicht dort gewesen sein.“
„Mit Diktaturen lassen sich eben leichter Geschäfte
machen“
In einem Eintrag vom
23. November 1977 beschreibt Staribacher das Beispiel eines Bauunternehmens aus
Mistelbach, das in der libyschen Wüste 14 Silos mit einem Bauvolumen von 50
Millionen Schilling hochzog: „Der Wirtschaftsprüfer dieser Firma, H.,
ehemaliger Rechnungshofbeamter, und K., erzählten mir, wie sie zu diesem
Geschäft gekommen sind und wie sie ihre Geschäftsverbindungen da unten pflegen.
8 % Provision auf ein Schweizer Konto zu überweisen, natürlich alles strengst
vertraulich, ständige Pflege der Gäste, wenn sie nach Österreich kommen, trotz
der Bauverzögerung und Schwierigkeiten bei Abwicklung der bankmäßigen
Bezahlung, die Akkreditive werden von der CA [Creditanstalt] nicht als
lupenrein bezeichnet, noch immer ein Gewinn von 10 %, also in Wirklichkeit
traumhaft für das Baugewerbe. Mit Diktaturen lassen sich eben leichter
Geschäfte machen. Allerdings kann es dann aus irgendwelchen Gründen wesentlich
schneller wieder aus sein und man kann natürlich auch hängen bleiben.“
„Saßen einander wie zwei Bankroteure gegenüber“
Den größten „Brocken“
heimste aber die VOEST ein: Gemeinsam mit deutsche Großanlagenbauern erhielt es
1981 den Auftrag zur Errichtung eines Hüttenwerkskomplexes in Misurata. 16
Milliarden Schilling entfielen auf den Liefer- und Leistungsanteil der VOEST. Letztendlich
hinterließ der Bau des Stahlwerkes aber ein sattes Minus im Geschäftsergebnis.
Ähnlich erging es der OMV, die sich 1985 mit 25 Prozent an der staatlichen
libyschen Erdölgesellschaft Oxylibya beteiligt hatte. Im Rahmen der 1,7
Milliarden Schilling schweren Beteiligung wurden 600.000 Tonnen Rohöl im Jahr
eingefahren, was zum amtlich festgesetzten Preis abgenommen werden musste. Nach
dem Absacken des Erdölpreises wurde aus dem Engagement ein finanzielles Debakel.
Der mit dem Ölpreisverfall verbundene Devisenmangel bedeutete das Ende für den
Investitionsboom in Libyen.
Daran änderte auch der kurzfristig angesetzte
Staatsbesuch Gaddafis in Wien vom 10. bis 13. März 1982 nichts mehr. Kreisky,
der damals den Zenit seiner Macht bereits überschritten hatte und außerdem
unter einem sich verschlechternden Gesundheitszustand litt, konnte durch diesen
ersten Besuch Gaddafis in einem westlichen Land noch einmal an die „große Zeit“
von Wien als „Begegnungsort“ anschließen. Eingefädelt hatte die heftig
umstrittene Visite VOEST-Generaldirektor Heribert Apfalter. Aber alle
Erwartungen hinsichtlich von „Milliardengeschäften“ wurden enttäuscht. „Wir saßen einander wie zwei
Bankrotteure gegenüber, von denen jeder den anderen als Multimillionär sieht“,
kennzeichnete ein österreichischer Teilnehmer die Wirtschaftsverhandlungen,
„die eigentlich gar nicht richtig in Schwung kamen“.
Verwicklung in den Noricum-Skandal
In den Medien war über den
möglichen Abschluss eines Waffengeschäfts spekuliert worden. Am 20. November
1984 wurde dann tatsächlich der größte Rüstungsdeal in der Geschichte der VOEST
mit Libyen vereinbart. Für geschätzte 10 Milliarden Schilling (ca. 700
Millionen Euro) kaufte die libysche Seite 200 „Noricum“-Haubitzen und eine
Million Granaten. Tatsächlich handelte es sich dabei nur um ein Scheingeschäft:
Die Lieferungen gingen illegal in den Iran und Libyen stellte dafür falsche
Endabnehmerbescheinigungen zur Verfügung. Worin genau Gaddafis Rolle im
sogenannten „Noricum“-Skandal bestanden hatte, wurde aber nie wirklich aufgeklärt.
Förderung des Terrors erst spät eingestellt
Ungeachtet
der Tatsache, dass Kreisky von Gaddafi in Wien auch gebeten worden war,
zwischen Libyen und den USA zu vermitteln, eskalierten die Spannungen in den
Jahren 1981-1986 bis hin zu mehreren militärischen Konfrontationen. Allein
schon aus diesem Grund stellte Gaddafi seine Förderung von terroristischen
Gruppen nicht ein. Ab 1984/85 beherbergte er zudem die Gruppe des
PLO-Abweichlers Abu Nidal, die in den 1980er Jahren mehrfach österreichische Ziele
angriff. Wenige Wochen vor dem letzten Anschlag auf den Flughafen Schwechat
(1985) schickte der damalige Alt-Bundeskanzler einen Emissär zu Gaddafi, um die
sich bereits abzeichnende Aktion Abu Nidals quasi im letzten Augenblick noch zu
verhindern. Obwohl Gaddafi zusagte, hier entsprechend aktiv zu werden, kam es
wenige Tage später zum Überfall auf den El-Al-Terminal, der drei Todesopfer
forderte. Angeblich waren die Terroristen nicht mehr erreichbar gewesen.
An die
Wandlungsfähigkeit Gaddafis hatte damals nicht nur Kreisky geglaubt:
Beispielsweise besuchten Ende der 1970er Jahre auch zahlreiche westdeutsche
Politiker wie Innenminister Baum und Außenminister Hans-Dietrich Genscher
Libyen. Einerseits wollte man sich der libyschen Öllieferungen versichern. Andererseits
wurde der Kontakt genutzt, um eine „Terrorschonzeit“ zu verabreden. Nachdem
Gaddafi nach 2001 im internationalen Antiterrorkampf kooperierte und
finanzielle Entschädigungszahlungen für die Opfer der von Libyen gesponserten
Terrorakte in den 1980er Jahren leistete, gelang es ihm, die jahrzehntelange
internationale Isolation aufzubrechen. Ab 2004 wurde er wieder als
Handelspartner von zahlreichen westlichen Staatschefs hofiert – bis sein Regime
im Zuge des „arabischen Frühlings“ 2011 unterging.