Montag, 21. Dezember 2015

Tage des Schreckens: 40 Jahre nach der OPEC-Geiselnahme in Wien

Nie zuvor und nie wieder danach befanden sich so viele hochrangige Politiker in den Händen von Terroristen: Die Geiselnahme während der Ministerkonferenz der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) in Wien am 21. Dezember 1975 nimmt bis heute eine Sonderstellung in der Geschichte des modernen Terrorismus ein. Ein sechsköpfiges Kommando, angeführt von dem damals 26jährigen Venezolaner Ilich Ramirez Sanchez (besser bekannt als „Carlos“), hatte insgesamt 62 Geiseln genommen, darunter 11 Erdölminister. Es gab drei Tote zu beklagen – einen österreichischen Polizisten, einen irakischen Leibwächter und einen libyschen Delegierten. Bundeskanzler Bruno Kreisky handelte schließlich die Ausreise des Terrorkommandos und eines Teils der Geiseln nach Algerien aus, wo die Minister nach einem nervenaufreibenden Hin- und Herflug zwischen Tripolis und Algier am 23. Dezember 1975 auch freikamen. Der „Coup“ von Wien erregte damals weltweite Aufmerksamkeit. Kürzlich meinte der Journalist und zeitweilige Agent des Bundesnachrichtendiensts (BND), Wilhelm Dietl: „Der Terroranschlag auf die OPEC-Konferenz war eine der größten Medienkampagnen aller Zeiten – also, man kann das vergleichen mit 9/11.“

Ehemaliger Sitz des OPEC-Generalsekretariats (Foto: Autor)
 Die OPEC-Geiselnahme war eine bedeutende Wegmarke in der Entwicklung moderner terroristischer Gewalt: Im Unterschied zum „älteren“ Terrorismus mit seinen primär nationalen Bezügen wurde der Anschlag in Wien transnational vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Verantwortlich zeichnete das PLFP-Special Command, eine palästinensische Splittergruppe unter dem Kommando von Wadi Haddad, der heute als „Pate“ des modernen Terrorismus gilt. Neben Carlos und zwei eigenen Leuten hatte Haddad zwei deutsche Linksextremisten – Gabriele Kröcher-Tiedemann und Hans Joachim-Klein – angeworben. Hinzu kam noch Carlos Stellvertreter Anis Naccache, der eigentlich zur „Fatah“ von Jassir Arafat gehörte und diese insgeheim auf dem Laufenden hielt. Haddad wollte mit der Aktion mediale Aufmerksamkeit auf das „Palästinenserproblem“ lenken. Noch wichtiger waren allerdings geheime Machenschaften: Einerseits ging es um Geldbeschaffung, andererseits war die Geiselnahme eine Folge des Machtkampfes innerhalb der OPEC. Denn der eigentliche Auftraggeber und Initiator war der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi. Dieser wollte die Preispolitik des Kartells beeinflussen und benutzte Haddads PLFP-Special Command als Stellvertreterstreitmacht, um Druck auf seine Gegner – Saudi-Arabien und den Iran –auszuüben.

Das Terrorkommando kam mit der Straßenbahn
Kurz vor 11.30 Uhr langten die Terroristen mit der Ring-Straßenbahn fast direkt vor den Sitz des OPEC-Generalsekretariats am Dr. Karl-Lueger-Ring Nr. 10 (seit 2012 Universitätsring) an. Gut, dass die Tram an diesem Sonntagvormittag fast leer war. Denn die Gruppe bot ein „lustiges Bild“, erinnerte sich Hans Joachim-Klein: Carlos mit seinen lateinamerikanischen Zügen und der in Wien gekauften Baskenmütze auf dem Kopf, der kleingewachsene „Jussef“, ein „Vollblutaraber“, und der Rest in dicken Jacken, um darunter Waffen zu verbergen: „Wir konnten uns deshalb kaum bewegen, und genauso sah es aus.“ In Adidas-Sporttaschen wurden Maschinenpistolen, Handgranaten, Plastiksprengstoff, Sprengkapseln und für jeden eine Packung Amphetamine zum Wachbleiben mitgeführt. Es war also kein Wunder, dass nicht nur der Schaffner „guckte“.

Die OPEC war im Juli 1965 von Genf nach Wien übersiedelt – man hatte sich in den ersten zwei Stockwerken eines Hochhauses direkt gegenüber der Hauptuniversität eingemietet. Die Ministerkonferenz war bereits seit einer Stunde im Gange. Da am Ergebnis der Besprechungen großes Medieninteresse herrschte, befanden sich ca. 30 Journalisten vor Ort. Das machte die Situation vor dem Gebäude und im Hausflur „sehr unübersichtlich“ und erleichterte den Terroristen ihr Vorgehen. Vor allem spielte ihnen in die Hände, dass die Sicherheitsvorkehrungen generell lax gehandhabt wurden. Bundeskanzler Kreisky räumte Anfang 1976 vor dem Nationalrat ein, dass man auf österreichischer Seite einen „entscheidenden Fehler“ gemacht habe: Die OPEC wurde für die am „wenigsten gefährdete Institution“ gehalten, weil damals bereits bekannt war, dass einige der Mitgliedsstaaten zu den Förderern des internationalen Terrorismus zählten. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Organisation – auch sie selber kam übrigens zu dem Schluss – kein Sicherheitsrisiko darstellt. Da haben wir geirrt“, so Kreisky.

Heutige Ansicht des Foyers (Foto: Autor)
An jenem Sonntagvormittag war direkt vor dem Eingang in das OPEC-Gebäude ein einzelner Polizeibeamter positioniert, der aber nur die Zu- und Abfahrt regelte. In den Räumlichkeiten der OPEC versahen zwei Staatspolizisten Dienst: Der 60jährige Anton Tichler, der zwei Monate vor der Pensionierung stand und der 59jährige Josef Janda. Die Anweisung an sie lautete, im Gefahrenfall möglichst nicht von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, sondern Meldung zu machen. Mit Funkgeräten dafür waren sie allerdings nicht ausgestattet. Der einzige zusätzliche Sicherheitsmann, ein gebürtiger Iraker, war bei der OPEC beschäftigt und versah den Dienst unbewaffnet.

„Is the conference still working?“
Unter den genannten Gegebenheiten war es für die Terroristen ein leichtes, ein Treffen von hochrangigen – teils hochgefährdeten – Persönlichkeiten zu überfallen. An dem Posten vor dem Gebäude war das Kommando zielstrebig vorbeigegangen: „Die Herrschaften haben freundlich gegrüßt, ich glaube, sie haben Grüß Gott gesagt oder Guten Tag, Herr Inspektor. Ich hatte keinen Auftrag, die Leute zu kontrollieren. Das ist ja auch so schnell gegangen.“ Im Foyer passierten die Terroristen dann eine wartende Journalistenrunde. Jemand fragte: „Is the conference still working?“ Ein französischer Reporter erinnerte sich: „Ich habe gesagt: ‚Ja’; da sind sie hineingegangen, und einige Sekunden später habe ich Schüsse gehört.“ Im Konferenzsaal dachte der saudische Erdölminister Ahmed Yamani zuerst, die unbekannten Angreifer müssten Europäer sein, die gewaltsam gegen die Erhöhung der Ölpreise protestierten: „Ich dachte, sie kommen, um an uns Rache zu nehmen.“

Im Stiegenhaus des ehemaligen OPEC-Gebäudes (Foto: Autor)
Der genaue Ablauf der nachfolgenden Ereignisse ist bis heute umstritten – fest steht nur, dass es den Terroristen gelang, die Räumlichkeiten unter ihre Kontrolle zu bekommen und dabei 62 Geiseln – darunter 11 Erdölminister – zu nehmen. Die Attacke wurde brutal durchgeführt. Wovon mit einiger Sicherheit ausgegangen werden kann, ist, dass „Nada“ – also Gabriele Kröcher-Tiedemann – den Staatspolizisten Tichler erschoss, als dieser Hilfe holen wollte. Laut Zeugenaussagen tötete Kröcher-Tiedemann kurz darauf auch den Leibwächter des irakischen Erdölministers Saces al Khafazi. Dieser hatte die zierliche Frau in ein Handgemenge verwickelt. Die Leiche des dritten Opfers – das libysche Delegationsmitglied Jussuf Izmirili – wurde erst im Zuge der Tatbestandsaufnahme am 22. Dezember 1975 im Zimmer Nr. 105 aufgefunden. Der Vater zweier kleiner Kinder war durch zwei Einschüsse in den Kopf und fünf Einschüsse in den Rücken getötet worden. In diesem Fall war Carlos der Täter – als er das Bürozimmer kontrollieren wollte, hatte er sich plötzlich Izmirili gegenüber gesehen und nach einer kurzen Rangelei geschossen.

„Das war eine Anti-Geisel-Truppe“
Insgesamt drei Notrufe waren aus dem OPEC-Gebäude abgesetzt worden. Um 11.50 Uhr traf das Einsatzkommando (EKO) der Bundespolizeidirektion Wien am Schauplatz ein. Das EKO bestand gerade einmal aus acht Beamten, die mit Stahlhelmen aus Wehrmachtsbeständen, Maschinenpistolen und zwei schusssicheren Westen ausgerüstet waren. Es handelte sich durchwegs um ältere, beleibte Männer. Man hatte sie bewusst ausgewählt, weil sie als erfahren galten. Deshalb würden sie in gefährlichen Situationen ruhig bleiben und nicht gleich den Abzug ihrer Waffe bedienen. Moderne Bedrohungen wie Geiselnahmen durch Terroristen hatten bei der Konzeption des EKO noch keine Rolle gespielt.

Die Polizisten stürmten über die Treppe in den ersten Stock und versuchten von dort aus in das Foyer einzudringen. Angeführt wurden sie von dem 52jährigen Großvater und zu 42 Prozent kriegsversehrten Kurt Leopolder. Bei ihrem Vorgehen machten die Polizisten solchen Lärm, dass die Geiselnehmer auf den Vorstoß längst vorbereitet waren. Terrorist Klein nannte sie später in seinen Memoiren „Wiener Djangos“: „Das war keine Anti-Terrorismus-Truppe, das war eine Anti-Geisel-Truppe mit Suizidabsichten.“ Beim anschließenden kurzen, aber intensiven Feuergefecht erhielt Klein einen Bauchschuss, während Leopolder einen Treffer im Gesäß abbekam („In Oasch hobn’s mi gschossn. Oba den Hund hob i dawischt“). Der Polizist sollte sich von der Verletzung nicht mehr erholen und blieb teilweise gelähmt. 1976 bekam Leopolder eine Medaille, 5.000 Schilling Überbrückungshilfe und wurde pensioniert. Die OPEC bezahlte ihm monatlich 2.600 Schilling. Am 15. Juli 1984 verstarb er 61jährig an den Spätfolgen. Weitere Vorstöße unterblieben. 

Die Polizei beschränkte sich infolge darauf, das Gebäude hermetisch abzuriegeln. Das war auch notwendig, denn in unmittelbarer Nähe versammelten sich rasch mehrere Hundert Schaulustige. Ein anwesender Reporter von „profil“ registrierte bald gereizte Stimmung: „Die Kälte macht die Menge unruhig und ungläubig. Ein Schreier meint: ‚Vielleicht san de hinten bei dem Haus wieda außegangan und mir woatn umasunst.“ Bei einer anderen Absperrung bei der Mölkerbastei schwang ein weißhaariger Mann große Reden: „Geht’s loßts mi durch, damit endlich a Ruah is. I wor bei de Husarn. I weiß, wie mas mocht.“

Schauplatz des Feuergefechts zwischen Terroristen und Polizei (Foto: Autor)
„Das Spiel der Mächtigen“
Um 16.27 Uhr – fanden sich im Bundeskanzleramt die Mitglieder der Bundesregierung zu einem „Sonderministerrat“ ein. Kreisky befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Rückreise aus seinem Winterurlaub, den er eben erst angetreten hatte: Am Morgen des 21. Dezember 1975 war er mit dem Schlafwagen aus Wien in Lech am Arlberg eingetroffen. Kaum hatte er sich dort zum Frühstück gesetzt, kam ein Anruf. Es war Pressesprecher Johannes Kunz, der über die Ereignisse informierte. „Da hab ich mir halt gleich einen Hubschrauber bestellt und bin nach Salzburg geflogen. Die Dinger sind ja saukalt, und laut war’s auch und windig. Dös is nix für mich mit so nem Radl in der Luft. Von da bin ich mit einer richtigen Maschine nach Wien geflogen. Der Urlaub jedenfalls war hin“, erzählte Kreisky später einem Reporter des „Stern“.

Gleich zu Beginn wurde der „Sonderministerrat“ informiert, dass anders als ursprünglich entschieden, die Vorstellung „Das Spiel der Mächtigen“ wie geplant stattfinden könne – weil das Burgtheater weit genug vom Tatort entfernt sei. Dringender stand eine andere Frage im Raum: Sollte das Kommuniqué der Geiselnehmer wie gefordert über den ORF veröffentlicht werden? Kreisky wurde nicht vor 18.00 Uhr zurückerwartet und man wollte seine Ankunft eigentlich abwarten. Die Forderung der Terroristen lautete aber, ihre Botschaft müsse um 17.30 Uhr gesendet werden – ansonsten würden weitere Menschen sterben. Herta Firnberg war schließlich die erste, die offen ihre Meinung sagte: „Ich bin dafür, dass die Proklamation im ORF verlesen wird.“ Und so geschah es auch – mit etwas Verzögerung ging Kreiskys Kabinettschef Friedrich Gehart um 18.22 Uhr auf den Radioprogrammen Ö1 und Ö3 auf Sendung und verlas den in Französisch abgefassten Text, was fast zwanzig Minuten dauerte. Ansonsten verlangten die Terroristen, dass am Folgetag um 07.00 Uhr eine DC-9 bereitstehen solle. Ein Bus mit geschlossenen Vorhängen müsse sie und die Geiseln zum Flughafen bringen.

In der Zwischenzeit war Kreisky eingetroffen und wurde im Bundeskanzleramt von einem Knäuel von Journalisten empfangen. „Wie sehen Sie die Lage?“, wurde der Bundeskanzler gefragt. Dutzende Mikrophone waren auf ihn gerichtet, während Staatspolizisten mühsam einen Weg bahnten. „Ich muss erst prüfen“, hieß es von Kreisky kurz, dann verschwand er im Sitzungssaal. Dort gab er die Linie vor: „Ich möchte […] jetzt schon sagen, dass es für mich klar ist, dass morgen früh alle ausgeflogen werden. Eine andere Lösung hat überhaupt keinen Sinn. Wie sollte die denn ausschauen? Was will man noch riskieren?“ Als Zieldestination für die Terroristen kam bereits Algerien in Betracht: Außenminister Abd al-Aziz Bouteflika hatte sich „zu einem frühen Zeitpunkt“ aus Paris gemeldet und Landegenehmigung erteilt. Auf Basis der Gegebenheiten umriss Kreisky die weitere strategische Vorgangsweise: „Erstens müssen die Geiseln ihrer Teilnahme an dieser Expedition zustimmen. Zweitens steht als Ort der Destination Algerien fest und drittens werden die österreichischen Staatsbürger freigelassen.“ Die Tatsache, dass das OPEC-Generalsekretariat exterritoriales Gelände war, ermöglichte es Kreisky die Krise zu „internationalisieren“. Durch Einbeziehung der diplomatischen Vertreter der OPEC-Mitgliedstaaten wurde die Verantwortung für das Leben der Geiseln möglichst breit gestreut und so Druck von Österreich weggenommen.

Der ehemalige Konferenzsaal, in dem die Geiseln festgehalten wurden (Foto: Autor)
Die praktischen Details der Abwicklung der Geiselkrise hielt die Runde bis spätnachts in Atem. Hinsichtlich des Transports zum Flughafen Schwechat war es nicht so leicht, den Bus mit Vorhängen zu beschaffen. Der Generaldirektor der Post, Alfred Schlegel, erklärte Verkehrsminister Erwin Lanc, keinen solchen Bus zu haben: „Meine Antwort darauf: dann lassen sie halt welche montieren – und wenn sie es selber machen müssen. Und so geschah es.“ Außerdem musste das Schicksal des im Wiener AKH schwer verletzt liegenden Terroristen Klein in die Überlegungen miteinbezogen werden. Carlos hatte ultimativ seine Mit-Ausreise am nächsten Tag gefordert, obwohl dies nach Auskünften der Ärzte für den jungen Mann den Tod bedeutete. Kleins Zustand stabilisierte sich schließlich und der kurdische Arzt Wiriya Rawenduzy erklärte sich bereit, den Verletzten während des Flugs nach Algier zu betreuen. Die Sauerstoff-Flaschen, die man für das Beatmungsgerät mit an Bord nehmen musste, waren alles andere als ungefährlich: Im Grunde war damit eine „Sechshunderter-Sauerstoffbombe“ an Bord, wie die AUA warnte.

„Mehr erreicht, als angenommen“
Nach Mitternacht stellte Kreisky fest, dass alle notwendigen Vorkehrungen getroffen waren. Auch die Botschafter der OPEC-Staaten hatten noch einmal, jeder auf seine Art, eine Erklärung abgegeben, „in der sie sich ihrerseits nicht nur bereit erklären, unseren Vorschlägen zuzustimmen, sondern deren Realisierung wünschen.“ Die Sitzung wurde vom Bundeskanzler schließlich um 01.07 Uhr geschlossen. Pünktlich um 01.10 Uhr kam Kreisky zum letzten Mal in den kleinen Ministerratssaal, wo die Journalisten versammelt waren. Mit vor Müdigkeit roten Augen verkündete er: „Wir haben eine einvernehmliche Lösung gefunden, die die Zustimmung der Bundesregierung sowie die Zustimmung aller OPEC-Führer hat.“ Zufrieden meinte Kreisky in Hinblick auf die freizulassenden OPEC-Angestellten: „Da haben wir doch mehr erreicht, als wir angenommen haben.“

Am nächsten Morgen, dem 22. Dezember 1975, war in Schwechat eine DC-9 mit der Flugnummer OS 5950 bereitgestellt. Es handelte sich um das dienstälteste Flugzeug der AUA-Flotte, um den Schaden bei etwaigem Verlust so gering, als möglich zu halten. Um 08.45 Uhr traf der Bus ein – die in Österreich ansässigen Angestellten waren zuvor, wie gefordert, freigegangen. Aber Carlos und sein Kommando hatten immer noch 35 Personen – 11 Minister sowie 19 Delegierte und Mitarbeiter – in seiner Gewalt. Das Einsteigen in die DC-9 zog sich bis um 09.06 Uhr hin. Quasi zum Abschluss ging Carlos noch einmal die Gangway herunter und streckte dem anwesenden Innenminister Rösch die Hand hin; „Es tut mir leid, dass ich Österreich als Schauplatz wählen musste. Lassen Sie Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky schön grüßen…“ Rösch ergriff die ausgestreckte Hand, und der Skandal war perfekt.

Damit war die weitere Lösung des Geiseldramas zumindest kein österreichisches Problem mehr. In Algier angekommen, gab Carlos die Direktive aus, weiter nach Tripolis zu fliegen. Doch offenbar galt die Abmachung mit Gaddafi nicht mehr – die Terroristen wurden nicht willkommen geheißen und mussten schließlich am 23. Dezember 1975 nach Algier zurückfliegen. Der Mord an dem libyschen Delegierten soll Gaddafi verärgert haben. Der algerische Außenminister Bouteflika wiederum machte klar, dass die Maschine gestürmt werden würde, wenn die Terroristen jetzt nicht aufgäben. Gegen Zahlung eines Lösegelds – die Schätzungen reichen bis 50 Millionen Dollar – war Carlos letztlich bereit, die verbliebenen 12 Geiseln freizulassen.

Ungenügende Aufarbeitung
Eine effektive Strafverfolgung der Terroristen wurde vernachlässigt. Nach einem Auslieferungsbegehren an Algerien, erhielt Österreich am 9. Jänner 1976 die Antwort, das Terrorkommando habe das Staatsgebiet bereits verlassen. Kreisky gab sich damit zufrieden: Die algerische Seite habe selbst Bedingungen akzeptieren müssen und verlangt, „dass man das in Österreich verstehe“. Und das tat man – denn die Regierung war zu sehr besorgt, das Land könnte als Standort für internationale Organisationen Schaden erleiden. War doch der Spatenstich zum Bau der UNO-City erst 1973 erfolgt. Von daher wollte man die guten Beziehungen zu arabischen Staaten nicht aufs Spiel setzen – etwa in der Auslieferungsfrage oder durch zu eifrige Nachforschungen.

1989 kam es zum ersten Verfahren mit Bezug auf die Geiselnahme: In Köln wurde Kröcher-Tiedemann der Prozess gemacht – dieser endete mit einem blamablen Freispruch, unter anderem deswegen weil die Tatortaufnahme in Wien hastig verlaufen war. Grund für die Eile war damals Druck seitens der OPEC gewesen: Das Kartell war an Ermittlungen gegen einige seiner wichtigsten Mitgliedstaaten nicht wirklich interessiert. Denn bis heute halten sich Gerüchte, wonach Libyen auch vom Irak und Algerien indirekt unterstützt wurde. 2000 folgte ein weiteres Verfahren gegen Klein in Deutschland – zu neun Jahren Haft verurteilt, konnte dieser bereits 2003 wieder das Gefängnis verlassen.

Österreich dagegen hatte es stets vermieden, ein OPEC-Verfahren an sich zu ziehen. Als Carlos 1994 im Sudan verhaftet und an Frankreich ausgeliefert wurde, flog lediglich ein Untersuchungsrichter zu einer Vernehmung nach Paris. Diese musste aber gleich nach Beginn wegen der unkooperativen Haltung von Carlos abgebrochen werden. Als dieser dem österreichischen Richter zum Abschied die Hand hinstreckte, weigerte sich dieser zuzugreifen. Er wolle sich nicht derselben Kritik aussetzen, wie Innenminister Rösch fast 20 Jahre zuvor. Jedenfalls wurde Carlos wegen terroristischer Vergehen in Frankreich zweimal zu lebenslanger Haft verurteilt – die OPEC-Geiselnahme spielte dabei keine Rolle. Stellvertreter Naccache saß in den 1980er Jahren ebenfalls in französischer Haft, ehe ihm ein Deal mit dem Iran die Freiheit brachte. Er lebt heute als Geschäftsmann in Beirut. Von den übrigen zwei palästinensischen Kommandomitgliedern hatte man nicht einmal die wirklichen Namen ermitteln können.

Konsequenzen
Als Antwort auf die zunehmende terroristische Bedrohung reagierte Österreich mit einem Bündel an Maßnahmen, die polizeilicher, aber vor allem außenpolitischer Natur waren. Letztere zielten darauf ab, den Nahostkonflikt präventiv zu entschärfen. Denn aufgrund seiner Rolle als Schleuse bei der jüdischen Emigration von Osteuropa nach Israel war Österreich zwangsläufig involviert. Im Nachhinein bestand für Kreisky der Beweis für die Richtigkeit seiner Politik darin, dass 15 Jahre hindurch 300.000 russische Juden über Österreich nach Israel ausgewandert seien – „ohne, dass jeden Monat in Schwechat eine Bombe explodiert ist“. Auch das Manko im Sicherheitsapparat konnte Ende der 1970er Jahre mit der Aufstellung des Gendarmerieeinsatzkommandos (heute EKO Cobra) behoben werden.

Freilich gelang es nicht, den nahöstlichen Terror von Österreich fernzuhalten. Entscheidend dafür war, dass die guten Kontakte zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und radikale Kräfte wie die Abu-Nidal-Gruppe auf den Plan riefen. Diese wollte moderierende Einflüsse von außen mit Terror abschrecken. 1981 und 1985 kam es insgesamt zu drei blutigen Attentaten in Wien. Es spricht für Kreiskys Standfestigkeit, dass er seine Linie auch gegen diesen Druck beibehielt. Spätestens Ende der 1980er Jahre erfolgte mit dem Wechsel des Außenamts zur ÖVP eine grundsätzliche Neuorientierung hin zu europäischen Belangen. Und mit dem Ende des Kalten Krieges endete auch die Welle jenes Terrors, in die die OPEC-Geiselnahme einzuordnen ist. Heute sieht sich Österreich, so wie andere westliche Staaten auch, mit der Herausforderung durch den radikal-islamistische Terrorismus konfrontiert. Aber wie das historische Beispiel zeigt, war schon vieles damals angelegt: Die Medienfixierung des Terrorismus und seine zunehmende Internationalisierung. Im Unterschied zu 1975 braucht es heute keine Organisationen oder Sponsoren mehr. Es genügt bereits ein „lone wolf“, und die Möglichkeiten der Massenkommunikation haben sich exorbitant gesteigert. 

Literaturtipp: 
"Tage des Schreckens. Die OPEC-Geiselnahme 1975 und der moderne Terrorismus"
http://www.amazon.de/dp/B018NX2AHQ/ref=cm_sw_r_tw_dp_i88Cwb141G8T0

Siehe dazu auch:
Markus Sulzbacher, 40 Jahre OPEC-Überfall: Terror auf der Insel der Seligen", in: Der Standard, 21. 12. 2015, http://derstandard.at/2000027845448/40-Jahre-OPEC-Ueberfall-Terror-auf-der-Insel-der-Seligen