Samstag, 26. Dezember 2015

"Kriegserklärung an die Menschheit": Der Schwechater Flughafen-Anschlag vor 30 Jahren

Am 27. Dezember 1985 richteten Terroristen auf dem Wiener Flughafen ein Blutbad an. In der „Kronen Zeitung“ meinte Ernst Trost: „Der Terror kennt keine Grenzen, keine Neutralität, sein Kriegsschauplatz ist überall, sein Opfer kann jeder sein.“ Vertraut klingt auch der Kommentar von Thomas Chorherr in der „Presse“: „Wir haben die neue Kriegserklärung einer internationalen Mörderbande miterlebt, gerichtet an die zivilisierte Menschheit.“  Jener schrankenlose Terrorismus hatte begonnen, mit der wir auch heute konfrontiert sind.

Getroffen wurde der Ostteil des Terminals – um 9.07 Uhr war dort am Schalter 3 und 4 der Checkin für den El-Al-Flug LY 364 nach Tel Aviv voll im Gang. In unmittelbarer Nähe wurden am Schalter 7 und 8 Passagiere für einen Lauda Air-Flug nach Heraklion abgefertigt. Circa 200 Menschen waren vor Ort. Die 25jährige Romana G. hörte plötzlich „einen Krach, eine Detonation und einen Schuss. Danach viel schwarzen Rauch. Die Leute sind zu Boden gefallen oder haben sich zu Boden geworfen, das habe ich nicht unterscheiden können. Irgendjemand hat gerufen, ‚niederlegen’. Ich habe mich hinter dem Schalter versteckt. Gesehen habe ich nicht sehr viel. Ich blieb liegen, bis es ganz still war. Dann habe ich mich aufgerichtet und habe gesehen, dass viele Leute verletzt waren.“

Ein Glück im Unglück war, dass die nervösen Angreifer eine der Handgranaten geworfen hatten, ohne vorher den Splint herauszuziehen. Es waren Terroristen der berüchtigten palästinensischen Abu-Nidal-Organisation: Der 26jährige Abdel Aziz Merzoughi, der 23jährige Mongi Ben Abdollah Saadaoui und der 25jährige Tawfik Ben Ahmed Chaovali. Im Deckungsbereich eines Stiegenaufgangs griffen sie nach ihren Kalaschnikow-Sturmgewehren, die sie in Reisetaschen verborgen mitgetragen hatten. Dann feuerten sie in Richtung der sich beim El-Al-Schalter befindlichen Personen und hinauf auf die Empore, wo sich Überwachungspersonal befand. Saadaoui verschoss insgesamt ein Magazin, sein Kamerad Chavovali beide Munitionsbehälter.

Ort des Anschlags im Jahr 2010 (Foto: Autor)

Die 26jährige Elisabeth Kriegler wurde tödlich getroffen – ebenso wie der burgenländische Lehrer Eckehard Karner (50) und der 25jährige Israeli Ely Jana. Insgesamt mussten 39 Personen im Krankenhaus behandelt werden. Da man gesetzlich nur zur Einrichtung einer Erste-Hilfe-Station verpflichtet gewesen sei, gab es in Schwechat keine Rettungsstation für eine schnelle Versorgung der vielen Verletzten. Lediglich drei Krankenschwestern – eine davon im fünften Monat schwanger – standen unmittelbar zur Verfügung. Erst nach 12 Minuten nach der Schießerei kamen die ersten Ambulanzwagen aus Schwechat. Knapp vorher waren zwei Ärzte, ebenfalls von dort, zur Stelle. Es dauerte insgesamt eine Dreiviertelstunde bis alle Verletzten in Spitäler gebracht oder ärztlich behandelt worden waren.

Dass der Anschlag nicht noch weitere Opfer forderte, war vor allem der raschen Reaktion der El-Al-Sicherheitsleute zu verdanken, die mit ihren Dienstpistolen sofort zurückschossen. Während Saadaoui in die linke Brustseite getroffen wurde, erlitt Chaovali einen Bauchdurchschuss und eine Oberschenkelverletzung. Merzoughi bekam schon auf der Stiege einen Treffer in den Hals, worauf er zu Sturz kam. Einer der El-Al-Sicherheitsleute gab an, eineinhalb Magazine verschossen zu haben (ein Magazin fasst 13 Patronen): „Während ich auf die Angreifer schoss, bemerkten mich diese und schossen in meine Richtung. […] Während ich das Feuer erwiderte hatte ich den Eindruck, dass ich zumindest einen der Angreifer getroffen habe.“

Für ausreichend Polizeipräsenz am Flughafen war eigentlich gesorgt: Ein Alarmzug der Sondereinheit „Kranich“ war über das gesamte Gebäude verteilt, ferner noch drei Hundeführer. Außerdem waren mehrere Kriminalbeamte in Zivil dort postiert. Als dann die Handgranten plötzlich detonierten und die Schießerei losging, war nur ein Polizist in der Lage zurückzuschießen. Gedeckt hinter einem Pfeiler schoss der Beamte das Magazin seiner FN-Dienstwaffe auf die Angreifer leer.

Von diesem Stiegenaufgang aus eröffneten die Terroristen das Feuer (Foto: Autor)
Obgleich unkoordiniert, ließ das heftige Abwehrfeuer die Terroristen schnell den Rückzug antreten. „Woher die Schüsse kamen, weiß ich nicht“, berichtete Saadaoui später: „Doch wurde ich bereits zu diesem Zeitpunkt im Bereich der linken Brustseite von einem Projektil getroffen. Auch die beiden anderen wurden in diesem Moment durch Schüsse verletzt. Wir nahmen die Maschinenwaffen samt den Magazinen vollends aus den Reisetaschen und verzogen uns über die Treppe wieder zurück zur Ankunftshalle.“ Wie die überlebenden Attentäter später gegenüber der Polizei angaben, hatten sie eigentlich beabsichtigt, „möglichst viele Israelis umzubringen und dabei eigene Verletzungen oder gar den Tod in Kauf zu nehmen“ – „sie hätten auch mit dieser Einstellung die Tat durchgeführt, jedoch sei es in Folge von Panikreaktionen zu dem Fluchtversuch gekommen. Grundsätzlich sei eine Flucht keinesfalls vorbereitet oder auch nur geplant gewesen.“

Wie sich der langjährige Leiter der Kriminalabteilung am Flughafen Schwechat, Alfred Rupf, erinnert, hatte vor dem Anschlag niemand mit so einer Bedrohung gerechnet: „Natürlich kann jeden Tag etwas passieren. Aber konkrete Hinweise gab es keine. Es war so ähnlich wie 1975, als die OPEC-Minister entführt worden sind. Da hat ja auch vorher niemand daran geglaubt. Die Terroristen suchen sich Ziele aus, wo es am leichtesten geht und die den größtmöglichen Erfolg versprechen. Und da waren Rom und wir prädestiniert. Der Punkt, wo die El-Al abgefertigt wurde, war sehr ungünstig, weil ein Stiegenaufgang in der Nähe war, über den die Terroristen dann auch gekommen sind. Oben war eine Rampe, über die ein Fahrzeug durch die Fassade hätte krachen können. Und es gab eine Empore, von der man aus beobachten konnte, wo die Leute standen. Wir waren damals der Meinung, uniformierte Beamte wären für die Terroristen leicht auszuschalten, weshalb wir Kriminalbeamte in Zivil eingereiht haben. Was wir nicht bedacht haben, die Terroristen haben nur die Uniformierten gesehen und gedacht, es wäre einfach. Das Problem war auch, dass man in der Halle nicht zurückschießen konnte, ohne jemanden zu gefährden. Sowohl die Kriminalbeamten als auch die El Al-Sicherheitsleute hatten Kleinkaliberpistolen. Das war eine unzureichende Bewaffnung. Es hat sich gezeigt, dass die Terroristen so in Rage waren, dass sie ihre zahlreichen Verletzungen zunächst gar nicht bemerkt haben."

Die Attentäter flüchteten nun rechtsseitig durch einen Ausgang, der zum Parkplatz vor dem Sondergastraum führte. In der nahegelegenen Tiefgarage hielt Chaovali einen ihm entgegenkommenden schwarzen Mercedes an, setzte sich auf den Beifahrersitz und bedrohte den Lenker durch das Vorzeigen einer entsicherten Handgranate. „Ich nötigte ihn zu fahren und glaube dies in arabischer Sprache getan zu haben. Er setzte seine Fahrt fort, sprang aber kurz danach für mich überraschend aus dem Fahrzeug und ich rutschte infolge auf den Fahrersitz und chauffierte den Wagen weiter. Dabei hielt ich in einer Hand immer noch die entsicherte Handgranate. Nach kurzer Fahrt bemerkte ich meine beiden Mitkämpfer und nahm sie in das Fahrzeug auf.“ Man saß zu dritt auf den vorderen Sitzen – Chaovali am Steuer, Saadaoui in der Mitte und Merzoughi in der Nähe der Beifahrertür. Sie wollten das Flughafengelände so rasch als möglich verlassen, aber das gelang ihm nicht auf Anhieb – Chaovali fuhr einmal im Kreis und fand dann die Ausfahrt Richtung Nordost. Währenddessen wurden sie von der Flughafenrampe aus von den nachgeeilten El-Al-Sicherheitsleuten beschossen. Außerdem nahmen drei Polizeiwagen ihre Fährte auf und schlossen rasch auf.

Der erste Wagen wurde von Gruppeninspektor Peter P. gesteuert. Im Interview mit dem Autor schilderte er die Erlebnisse: „Ich befand mich gerade auf Streifenfahrt, da kam der Alarmruf. Zwei andere Polizeiautos waren hinter mir. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich gar nicht, was sich abspielt. Auf der Rampe zur Abflughalle angekommen, sind mir die El-Al-Sicherheitsleute entgegengekommen. Die wollten den Terroristen schon mit ihren Privatautos nachfahren. Ich habe ihren Chef gekannt, und er ist sofort zu mir reingesprungen und hat gesagt. Go, Go!

Wir fahren die Rampe runter und da sehe ich wie ein Fahrzeug vom C-Parkplatz herauskommt und sich querstellt. Der Israeli hat gesagt: This car! This car! Die Terroristen haben auf uns das Feuer eröffnet. Warum mein Wagen nicht getroffen wurde, weiß ich nicht. Ich vermute, weil es ein verdecktes Fahrzeug ohne Blaulicht war und deshalb nicht als Polizeiauto wahrgenommen worden war. Die Terroristen sind dann weitergefahren. In der Kurve sehe ich, wie aus dem Taxi etwas rausfliegt und herumkullert. Es war eine Handgranate. Ich bin nach rechts in eine BP-Tankstelle eingebogen, um der Explosion auszuweichen.

Bei der fünf bis sechsminütigen Verfolgung auf der B9 hat ein ständiger Schusswechsel stattgefunden. Als der israelische Sicherheitsmann neben mir seine Waffe leergeschossen hatte, habe ich ihm meine FN gegeben. Auch die hat er verfeuert, inklusive Reservemagazin. Tatsache ist, dass aus meinem Wagen zusammen 50 Schuss rausgegangen sind. An dem Mercedes der Terroristen haben wir später 18 Einschüsse gezählt.

Wir sind mehrfach beschossen, weshalb ich im Zick-Zack gefahren bin. Das Gute war, die Täter sind vorne in einer Reihe gesessen und waren dementsprechend eingeengt. Außerdem hatten sie nur mehr eine Kalaschnikow. Dafür brauchte sich der Schütze nicht rauszubeugen. Er hat sich einfach umgedreht und durch die kaputte Heckscheibe gefeuert. Mein Glück war, dass die Terroristen nur mehr wenig Munition und deswegen auf Einzelfeuer umgestellt hatten. Ich habe das Mündungsfeuer immer wieder aufblitzen sehen.

Plötzlich sind die Täter stehen geblieben, und sie sind links und rechts rausgesprungen. Sie sind auf die gegenüberliegende Seite gerannt, haben zwei Fahrzeuge gestoppt und Geiseln genommen. Wir haben ebenfalls angehalten, der Israeli ist raus und war weg. Munition hatte ich keine mehr. Ich habe mich mit meinem Diensthund vorgetastet und gesehen, wie einer der Palästinenser einer Frau das Messer angehalten hat. Der andere hat die Insassen mit der Kalaschnikow bedroht. In der Zwischenzeit ist ein Mann mit einem Sturmgewehr als Verstärkung nachgekommen. Ich habe gesagt: „Gib her.“ Da steigt plötzlich der dritte, schon schwer verletzte Terrorist [Merzoughi], aus und kommt auf mich zu. Da er keine aggressive Handlung gesetzt hat, habe ich einen Feuerstoß ins Parkett reingelassen. Daraufhin ist er in die Knie gegangen. Da sehe ich, dass er in der rechten Hand eine Granate hält. Einer meiner Kollegen ist sofort nach vorne und hat den Palästinenser mit einem Tritt in die Halsgegend niedergestreckt. Fünf Minuten später war der Mann tot. Seine Mitkämpfer haben sich zur selben Zeit ergeben, sie waren von den Verletzungen geschwächt.“

Auf Nachfrage, wie er das Erlebte verkraftet habe, antwortete P.: „Sie brauchen für das Ganze ausgesuchte Leute, die eine gewisse Einstellung zu dem Beruf mitbringen. Nachdenken, was passieren kann, darf man nicht, sondern man muss reagieren, wenn es kracht und scheppert. Dafür sind wir da. Mir persönlich ist das Zimperlein erst am nächsten Tag gekommen, als das Erlebte 100fach vor mir abgelaufen ist. Ich hatte großes Glück und bin dem Tod mehr als einmal von der Schaufel gesprungen.“

Die genauen Hintergründe des Schwechater Anschlags sind bis heute nicht wirklich geklärt. Am selben Tag des Schwechater Anschlags griff ein weiteres Abu-Nidal-Kommando den Flughafen Rom an. Hier verübten die Terroristen ein wahres Massaker. Es gab 16 Tote und 99 Verletzte, vor allem US-Passagieren gegolten. Von daher lag ein Zusammenhang mit akuten Spannungen zwischen der Reagan-Administration und dem libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi auf der Hand. Letzterer galt als Sponsor von Terroristen wie Abu Nidal, war aber dem österreichischen Altbundeskanzler Bruno Kreisky freundschaftlich verbunden. Wie passte da die Tragödie von Schwechat ins Bild? Antworten gibt ein Dokument in der Stiftung Bruno Kreisky Archiv. Demnach gab es „hausgemachte“ Gründe: Und zwar hatte Abu Nidal schon 1981 Terror in Österreich verbreitet. Der Wiener Verkehrsstadtrat Heinz Nittel wurde vor seiner Wohnung erschossen; wenige Monate später wurde die Wiener Synagoge überfallen. Es gab zwei Tote und 21 Verletzte. Grund dafür war Kreiskys Unterstützung für die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), von der sich der radikale Abu Nidal abgespalten hatte. Zwei Killer und der „Führungsoffizier“ Bahij Y. konnten verhaftet werden. Vor allem letzteren wollte Abu Nidal freibekommen. Als Geheimverhandlungen Ende 1985 zu nichts führten, drohte seine Organisation mit Vergeltung.

Das veranlasste Kreisky, sich persönlich einzuschalten. Am 12. Dezember 1985, etwas mehr als zwei Wochen vor dem Anschlag in Schwechat, rief er einen Vertrauten an – den damaligen OECD-Botschafter in Paris, Georg Lennkh. Diesen beauftragte er mit einer streng vertraulichen Mission – nämlich Abu Nidals „Dienstherrn“ Gaddafi um Hilfe zu bitten. Das Treffen fand am 16. Dezember 1985 um 11.15 Uhr statt – nicht wie üblich im Beduinenzelt des Staatschefs, sondern im Tiefparterre einer Kaserne in Tripolis. Gaddafi erschien im „olivgrünen Fliegerkampfanzug“. Lennkh bat ihn laut Gesprächsnotiz, „seinen Einfluss geltend zu machen“. Ansonsten würde sich der als palästinenserfreundlich geltende Kreisky in einer „schwierigen Situation“ wiederfinden und kaum mehr im Nahostkonflikt Partei ergreifen können – „aber auch die österr. Bundesregierung befinde sich in einer gefährlichen Lage […].“ Dieser versprach, alles zu unternehmen, „was in seiner Macht stehe“.

Der Anschlag ereignete sich trotzdem. Anfang Jänner 1986 – wenige Tage nach den Schüssen in Schwechat – erhielt Kreisky eine „Botschaft der libysch-arabischen Führung“. Darin stand zu lesen: „Als ihr Gesandter österreichische Informationen überbracht hatte, dass die Gruppe Abu Nidal Anschläge in Wien plant, sind wir unmittelbar danach von dem Ereignis auf dem Wiener Flughafen überrascht worden, bevor ein Kontakt mit ihm zustande gebracht werden konnte.“ Tatsächlich hatten sich die Terroristen vom syrischen Bekaa-Tal aus auf den Weg gemacht. Denn auch das Regime von Hafiz al-Assad zählte damals zu den Unterstützern von Abu Nidal. Wien hatten die Attentäter erst wenige Tage vor dem Anschlag erreicht – daher war es gut möglich, dass sie nicht mehr zurückzupfeifen waren. 

Montag, 21. Dezember 2015

Tage des Schreckens: 40 Jahre nach der OPEC-Geiselnahme in Wien

Nie zuvor und nie wieder danach befanden sich so viele hochrangige Politiker in den Händen von Terroristen: Die Geiselnahme während der Ministerkonferenz der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) in Wien am 21. Dezember 1975 nimmt bis heute eine Sonderstellung in der Geschichte des modernen Terrorismus ein. Ein sechsköpfiges Kommando, angeführt von dem damals 26jährigen Venezolaner Ilich Ramirez Sanchez (besser bekannt als „Carlos“), hatte insgesamt 62 Geiseln genommen, darunter 11 Erdölminister. Es gab drei Tote zu beklagen – einen österreichischen Polizisten, einen irakischen Leibwächter und einen libyschen Delegierten. Bundeskanzler Bruno Kreisky handelte schließlich die Ausreise des Terrorkommandos und eines Teils der Geiseln nach Algerien aus, wo die Minister nach einem nervenaufreibenden Hin- und Herflug zwischen Tripolis und Algier am 23. Dezember 1975 auch freikamen. Der „Coup“ von Wien erregte damals weltweite Aufmerksamkeit. Kürzlich meinte der Journalist und zeitweilige Agent des Bundesnachrichtendiensts (BND), Wilhelm Dietl: „Der Terroranschlag auf die OPEC-Konferenz war eine der größten Medienkampagnen aller Zeiten – also, man kann das vergleichen mit 9/11.“

Ehemaliger Sitz des OPEC-Generalsekretariats (Foto: Autor)
 Die OPEC-Geiselnahme war eine bedeutende Wegmarke in der Entwicklung moderner terroristischer Gewalt: Im Unterschied zum „älteren“ Terrorismus mit seinen primär nationalen Bezügen wurde der Anschlag in Wien transnational vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Verantwortlich zeichnete das PLFP-Special Command, eine palästinensische Splittergruppe unter dem Kommando von Wadi Haddad, der heute als „Pate“ des modernen Terrorismus gilt. Neben Carlos und zwei eigenen Leuten hatte Haddad zwei deutsche Linksextremisten – Gabriele Kröcher-Tiedemann und Hans Joachim-Klein – angeworben. Hinzu kam noch Carlos Stellvertreter Anis Naccache, der eigentlich zur „Fatah“ von Jassir Arafat gehörte und diese insgeheim auf dem Laufenden hielt. Haddad wollte mit der Aktion mediale Aufmerksamkeit auf das „Palästinenserproblem“ lenken. Noch wichtiger waren allerdings geheime Machenschaften: Einerseits ging es um Geldbeschaffung, andererseits war die Geiselnahme eine Folge des Machtkampfes innerhalb der OPEC. Denn der eigentliche Auftraggeber und Initiator war der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi. Dieser wollte die Preispolitik des Kartells beeinflussen und benutzte Haddads PLFP-Special Command als Stellvertreterstreitmacht, um Druck auf seine Gegner – Saudi-Arabien und den Iran –auszuüben.

Das Terrorkommando kam mit der Straßenbahn
Kurz vor 11.30 Uhr langten die Terroristen mit der Ring-Straßenbahn fast direkt vor den Sitz des OPEC-Generalsekretariats am Dr. Karl-Lueger-Ring Nr. 10 (seit 2012 Universitätsring) an. Gut, dass die Tram an diesem Sonntagvormittag fast leer war. Denn die Gruppe bot ein „lustiges Bild“, erinnerte sich Hans Joachim-Klein: Carlos mit seinen lateinamerikanischen Zügen und der in Wien gekauften Baskenmütze auf dem Kopf, der kleingewachsene „Jussef“, ein „Vollblutaraber“, und der Rest in dicken Jacken, um darunter Waffen zu verbergen: „Wir konnten uns deshalb kaum bewegen, und genauso sah es aus.“ In Adidas-Sporttaschen wurden Maschinenpistolen, Handgranaten, Plastiksprengstoff, Sprengkapseln und für jeden eine Packung Amphetamine zum Wachbleiben mitgeführt. Es war also kein Wunder, dass nicht nur der Schaffner „guckte“.

Die OPEC war im Juli 1965 von Genf nach Wien übersiedelt – man hatte sich in den ersten zwei Stockwerken eines Hochhauses direkt gegenüber der Hauptuniversität eingemietet. Die Ministerkonferenz war bereits seit einer Stunde im Gange. Da am Ergebnis der Besprechungen großes Medieninteresse herrschte, befanden sich ca. 30 Journalisten vor Ort. Das machte die Situation vor dem Gebäude und im Hausflur „sehr unübersichtlich“ und erleichterte den Terroristen ihr Vorgehen. Vor allem spielte ihnen in die Hände, dass die Sicherheitsvorkehrungen generell lax gehandhabt wurden. Bundeskanzler Kreisky räumte Anfang 1976 vor dem Nationalrat ein, dass man auf österreichischer Seite einen „entscheidenden Fehler“ gemacht habe: Die OPEC wurde für die am „wenigsten gefährdete Institution“ gehalten, weil damals bereits bekannt war, dass einige der Mitgliedsstaaten zu den Förderern des internationalen Terrorismus zählten. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Organisation – auch sie selber kam übrigens zu dem Schluss – kein Sicherheitsrisiko darstellt. Da haben wir geirrt“, so Kreisky.

Heutige Ansicht des Foyers (Foto: Autor)
An jenem Sonntagvormittag war direkt vor dem Eingang in das OPEC-Gebäude ein einzelner Polizeibeamter positioniert, der aber nur die Zu- und Abfahrt regelte. In den Räumlichkeiten der OPEC versahen zwei Staatspolizisten Dienst: Der 60jährige Anton Tichler, der zwei Monate vor der Pensionierung stand und der 59jährige Josef Janda. Die Anweisung an sie lautete, im Gefahrenfall möglichst nicht von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, sondern Meldung zu machen. Mit Funkgeräten dafür waren sie allerdings nicht ausgestattet. Der einzige zusätzliche Sicherheitsmann, ein gebürtiger Iraker, war bei der OPEC beschäftigt und versah den Dienst unbewaffnet.

„Is the conference still working?“
Unter den genannten Gegebenheiten war es für die Terroristen ein leichtes, ein Treffen von hochrangigen – teils hochgefährdeten – Persönlichkeiten zu überfallen. An dem Posten vor dem Gebäude war das Kommando zielstrebig vorbeigegangen: „Die Herrschaften haben freundlich gegrüßt, ich glaube, sie haben Grüß Gott gesagt oder Guten Tag, Herr Inspektor. Ich hatte keinen Auftrag, die Leute zu kontrollieren. Das ist ja auch so schnell gegangen.“ Im Foyer passierten die Terroristen dann eine wartende Journalistenrunde. Jemand fragte: „Is the conference still working?“ Ein französischer Reporter erinnerte sich: „Ich habe gesagt: ‚Ja’; da sind sie hineingegangen, und einige Sekunden später habe ich Schüsse gehört.“ Im Konferenzsaal dachte der saudische Erdölminister Ahmed Yamani zuerst, die unbekannten Angreifer müssten Europäer sein, die gewaltsam gegen die Erhöhung der Ölpreise protestierten: „Ich dachte, sie kommen, um an uns Rache zu nehmen.“

Im Stiegenhaus des ehemaligen OPEC-Gebäudes (Foto: Autor)
Der genaue Ablauf der nachfolgenden Ereignisse ist bis heute umstritten – fest steht nur, dass es den Terroristen gelang, die Räumlichkeiten unter ihre Kontrolle zu bekommen und dabei 62 Geiseln – darunter 11 Erdölminister – zu nehmen. Die Attacke wurde brutal durchgeführt. Wovon mit einiger Sicherheit ausgegangen werden kann, ist, dass „Nada“ – also Gabriele Kröcher-Tiedemann – den Staatspolizisten Tichler erschoss, als dieser Hilfe holen wollte. Laut Zeugenaussagen tötete Kröcher-Tiedemann kurz darauf auch den Leibwächter des irakischen Erdölministers Saces al Khafazi. Dieser hatte die zierliche Frau in ein Handgemenge verwickelt. Die Leiche des dritten Opfers – das libysche Delegationsmitglied Jussuf Izmirili – wurde erst im Zuge der Tatbestandsaufnahme am 22. Dezember 1975 im Zimmer Nr. 105 aufgefunden. Der Vater zweier kleiner Kinder war durch zwei Einschüsse in den Kopf und fünf Einschüsse in den Rücken getötet worden. In diesem Fall war Carlos der Täter – als er das Bürozimmer kontrollieren wollte, hatte er sich plötzlich Izmirili gegenüber gesehen und nach einer kurzen Rangelei geschossen.

„Das war eine Anti-Geisel-Truppe“
Insgesamt drei Notrufe waren aus dem OPEC-Gebäude abgesetzt worden. Um 11.50 Uhr traf das Einsatzkommando (EKO) der Bundespolizeidirektion Wien am Schauplatz ein. Das EKO bestand gerade einmal aus acht Beamten, die mit Stahlhelmen aus Wehrmachtsbeständen, Maschinenpistolen und zwei schusssicheren Westen ausgerüstet waren. Es handelte sich durchwegs um ältere, beleibte Männer. Man hatte sie bewusst ausgewählt, weil sie als erfahren galten. Deshalb würden sie in gefährlichen Situationen ruhig bleiben und nicht gleich den Abzug ihrer Waffe bedienen. Moderne Bedrohungen wie Geiselnahmen durch Terroristen hatten bei der Konzeption des EKO noch keine Rolle gespielt.

Die Polizisten stürmten über die Treppe in den ersten Stock und versuchten von dort aus in das Foyer einzudringen. Angeführt wurden sie von dem 52jährigen Großvater und zu 42 Prozent kriegsversehrten Kurt Leopolder. Bei ihrem Vorgehen machten die Polizisten solchen Lärm, dass die Geiselnehmer auf den Vorstoß längst vorbereitet waren. Terrorist Klein nannte sie später in seinen Memoiren „Wiener Djangos“: „Das war keine Anti-Terrorismus-Truppe, das war eine Anti-Geisel-Truppe mit Suizidabsichten.“ Beim anschließenden kurzen, aber intensiven Feuergefecht erhielt Klein einen Bauchschuss, während Leopolder einen Treffer im Gesäß abbekam („In Oasch hobn’s mi gschossn. Oba den Hund hob i dawischt“). Der Polizist sollte sich von der Verletzung nicht mehr erholen und blieb teilweise gelähmt. 1976 bekam Leopolder eine Medaille, 5.000 Schilling Überbrückungshilfe und wurde pensioniert. Die OPEC bezahlte ihm monatlich 2.600 Schilling. Am 15. Juli 1984 verstarb er 61jährig an den Spätfolgen. Weitere Vorstöße unterblieben. 

Die Polizei beschränkte sich infolge darauf, das Gebäude hermetisch abzuriegeln. Das war auch notwendig, denn in unmittelbarer Nähe versammelten sich rasch mehrere Hundert Schaulustige. Ein anwesender Reporter von „profil“ registrierte bald gereizte Stimmung: „Die Kälte macht die Menge unruhig und ungläubig. Ein Schreier meint: ‚Vielleicht san de hinten bei dem Haus wieda außegangan und mir woatn umasunst.“ Bei einer anderen Absperrung bei der Mölkerbastei schwang ein weißhaariger Mann große Reden: „Geht’s loßts mi durch, damit endlich a Ruah is. I wor bei de Husarn. I weiß, wie mas mocht.“

Schauplatz des Feuergefechts zwischen Terroristen und Polizei (Foto: Autor)
„Das Spiel der Mächtigen“
Um 16.27 Uhr – fanden sich im Bundeskanzleramt die Mitglieder der Bundesregierung zu einem „Sonderministerrat“ ein. Kreisky befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Rückreise aus seinem Winterurlaub, den er eben erst angetreten hatte: Am Morgen des 21. Dezember 1975 war er mit dem Schlafwagen aus Wien in Lech am Arlberg eingetroffen. Kaum hatte er sich dort zum Frühstück gesetzt, kam ein Anruf. Es war Pressesprecher Johannes Kunz, der über die Ereignisse informierte. „Da hab ich mir halt gleich einen Hubschrauber bestellt und bin nach Salzburg geflogen. Die Dinger sind ja saukalt, und laut war’s auch und windig. Dös is nix für mich mit so nem Radl in der Luft. Von da bin ich mit einer richtigen Maschine nach Wien geflogen. Der Urlaub jedenfalls war hin“, erzählte Kreisky später einem Reporter des „Stern“.

Gleich zu Beginn wurde der „Sonderministerrat“ informiert, dass anders als ursprünglich entschieden, die Vorstellung „Das Spiel der Mächtigen“ wie geplant stattfinden könne – weil das Burgtheater weit genug vom Tatort entfernt sei. Dringender stand eine andere Frage im Raum: Sollte das Kommuniqué der Geiselnehmer wie gefordert über den ORF veröffentlicht werden? Kreisky wurde nicht vor 18.00 Uhr zurückerwartet und man wollte seine Ankunft eigentlich abwarten. Die Forderung der Terroristen lautete aber, ihre Botschaft müsse um 17.30 Uhr gesendet werden – ansonsten würden weitere Menschen sterben. Herta Firnberg war schließlich die erste, die offen ihre Meinung sagte: „Ich bin dafür, dass die Proklamation im ORF verlesen wird.“ Und so geschah es auch – mit etwas Verzögerung ging Kreiskys Kabinettschef Friedrich Gehart um 18.22 Uhr auf den Radioprogrammen Ö1 und Ö3 auf Sendung und verlas den in Französisch abgefassten Text, was fast zwanzig Minuten dauerte. Ansonsten verlangten die Terroristen, dass am Folgetag um 07.00 Uhr eine DC-9 bereitstehen solle. Ein Bus mit geschlossenen Vorhängen müsse sie und die Geiseln zum Flughafen bringen.

In der Zwischenzeit war Kreisky eingetroffen und wurde im Bundeskanzleramt von einem Knäuel von Journalisten empfangen. „Wie sehen Sie die Lage?“, wurde der Bundeskanzler gefragt. Dutzende Mikrophone waren auf ihn gerichtet, während Staatspolizisten mühsam einen Weg bahnten. „Ich muss erst prüfen“, hieß es von Kreisky kurz, dann verschwand er im Sitzungssaal. Dort gab er die Linie vor: „Ich möchte […] jetzt schon sagen, dass es für mich klar ist, dass morgen früh alle ausgeflogen werden. Eine andere Lösung hat überhaupt keinen Sinn. Wie sollte die denn ausschauen? Was will man noch riskieren?“ Als Zieldestination für die Terroristen kam bereits Algerien in Betracht: Außenminister Abd al-Aziz Bouteflika hatte sich „zu einem frühen Zeitpunkt“ aus Paris gemeldet und Landegenehmigung erteilt. Auf Basis der Gegebenheiten umriss Kreisky die weitere strategische Vorgangsweise: „Erstens müssen die Geiseln ihrer Teilnahme an dieser Expedition zustimmen. Zweitens steht als Ort der Destination Algerien fest und drittens werden die österreichischen Staatsbürger freigelassen.“ Die Tatsache, dass das OPEC-Generalsekretariat exterritoriales Gelände war, ermöglichte es Kreisky die Krise zu „internationalisieren“. Durch Einbeziehung der diplomatischen Vertreter der OPEC-Mitgliedstaaten wurde die Verantwortung für das Leben der Geiseln möglichst breit gestreut und so Druck von Österreich weggenommen.

Der ehemalige Konferenzsaal, in dem die Geiseln festgehalten wurden (Foto: Autor)
Die praktischen Details der Abwicklung der Geiselkrise hielt die Runde bis spätnachts in Atem. Hinsichtlich des Transports zum Flughafen Schwechat war es nicht so leicht, den Bus mit Vorhängen zu beschaffen. Der Generaldirektor der Post, Alfred Schlegel, erklärte Verkehrsminister Erwin Lanc, keinen solchen Bus zu haben: „Meine Antwort darauf: dann lassen sie halt welche montieren – und wenn sie es selber machen müssen. Und so geschah es.“ Außerdem musste das Schicksal des im Wiener AKH schwer verletzt liegenden Terroristen Klein in die Überlegungen miteinbezogen werden. Carlos hatte ultimativ seine Mit-Ausreise am nächsten Tag gefordert, obwohl dies nach Auskünften der Ärzte für den jungen Mann den Tod bedeutete. Kleins Zustand stabilisierte sich schließlich und der kurdische Arzt Wiriya Rawenduzy erklärte sich bereit, den Verletzten während des Flugs nach Algier zu betreuen. Die Sauerstoff-Flaschen, die man für das Beatmungsgerät mit an Bord nehmen musste, waren alles andere als ungefährlich: Im Grunde war damit eine „Sechshunderter-Sauerstoffbombe“ an Bord, wie die AUA warnte.

„Mehr erreicht, als angenommen“
Nach Mitternacht stellte Kreisky fest, dass alle notwendigen Vorkehrungen getroffen waren. Auch die Botschafter der OPEC-Staaten hatten noch einmal, jeder auf seine Art, eine Erklärung abgegeben, „in der sie sich ihrerseits nicht nur bereit erklären, unseren Vorschlägen zuzustimmen, sondern deren Realisierung wünschen.“ Die Sitzung wurde vom Bundeskanzler schließlich um 01.07 Uhr geschlossen. Pünktlich um 01.10 Uhr kam Kreisky zum letzten Mal in den kleinen Ministerratssaal, wo die Journalisten versammelt waren. Mit vor Müdigkeit roten Augen verkündete er: „Wir haben eine einvernehmliche Lösung gefunden, die die Zustimmung der Bundesregierung sowie die Zustimmung aller OPEC-Führer hat.“ Zufrieden meinte Kreisky in Hinblick auf die freizulassenden OPEC-Angestellten: „Da haben wir doch mehr erreicht, als wir angenommen haben.“

Am nächsten Morgen, dem 22. Dezember 1975, war in Schwechat eine DC-9 mit der Flugnummer OS 5950 bereitgestellt. Es handelte sich um das dienstälteste Flugzeug der AUA-Flotte, um den Schaden bei etwaigem Verlust so gering, als möglich zu halten. Um 08.45 Uhr traf der Bus ein – die in Österreich ansässigen Angestellten waren zuvor, wie gefordert, freigegangen. Aber Carlos und sein Kommando hatten immer noch 35 Personen – 11 Minister sowie 19 Delegierte und Mitarbeiter – in seiner Gewalt. Das Einsteigen in die DC-9 zog sich bis um 09.06 Uhr hin. Quasi zum Abschluss ging Carlos noch einmal die Gangway herunter und streckte dem anwesenden Innenminister Rösch die Hand hin; „Es tut mir leid, dass ich Österreich als Schauplatz wählen musste. Lassen Sie Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky schön grüßen…“ Rösch ergriff die ausgestreckte Hand, und der Skandal war perfekt.

Damit war die weitere Lösung des Geiseldramas zumindest kein österreichisches Problem mehr. In Algier angekommen, gab Carlos die Direktive aus, weiter nach Tripolis zu fliegen. Doch offenbar galt die Abmachung mit Gaddafi nicht mehr – die Terroristen wurden nicht willkommen geheißen und mussten schließlich am 23. Dezember 1975 nach Algier zurückfliegen. Der Mord an dem libyschen Delegierten soll Gaddafi verärgert haben. Der algerische Außenminister Bouteflika wiederum machte klar, dass die Maschine gestürmt werden würde, wenn die Terroristen jetzt nicht aufgäben. Gegen Zahlung eines Lösegelds – die Schätzungen reichen bis 50 Millionen Dollar – war Carlos letztlich bereit, die verbliebenen 12 Geiseln freizulassen.

Ungenügende Aufarbeitung
Eine effektive Strafverfolgung der Terroristen wurde vernachlässigt. Nach einem Auslieferungsbegehren an Algerien, erhielt Österreich am 9. Jänner 1976 die Antwort, das Terrorkommando habe das Staatsgebiet bereits verlassen. Kreisky gab sich damit zufrieden: Die algerische Seite habe selbst Bedingungen akzeptieren müssen und verlangt, „dass man das in Österreich verstehe“. Und das tat man – denn die Regierung war zu sehr besorgt, das Land könnte als Standort für internationale Organisationen Schaden erleiden. War doch der Spatenstich zum Bau der UNO-City erst 1973 erfolgt. Von daher wollte man die guten Beziehungen zu arabischen Staaten nicht aufs Spiel setzen – etwa in der Auslieferungsfrage oder durch zu eifrige Nachforschungen.

1989 kam es zum ersten Verfahren mit Bezug auf die Geiselnahme: In Köln wurde Kröcher-Tiedemann der Prozess gemacht – dieser endete mit einem blamablen Freispruch, unter anderem deswegen weil die Tatortaufnahme in Wien hastig verlaufen war. Grund für die Eile war damals Druck seitens der OPEC gewesen: Das Kartell war an Ermittlungen gegen einige seiner wichtigsten Mitgliedstaaten nicht wirklich interessiert. Denn bis heute halten sich Gerüchte, wonach Libyen auch vom Irak und Algerien indirekt unterstützt wurde. 2000 folgte ein weiteres Verfahren gegen Klein in Deutschland – zu neun Jahren Haft verurteilt, konnte dieser bereits 2003 wieder das Gefängnis verlassen.

Österreich dagegen hatte es stets vermieden, ein OPEC-Verfahren an sich zu ziehen. Als Carlos 1994 im Sudan verhaftet und an Frankreich ausgeliefert wurde, flog lediglich ein Untersuchungsrichter zu einer Vernehmung nach Paris. Diese musste aber gleich nach Beginn wegen der unkooperativen Haltung von Carlos abgebrochen werden. Als dieser dem österreichischen Richter zum Abschied die Hand hinstreckte, weigerte sich dieser zuzugreifen. Er wolle sich nicht derselben Kritik aussetzen, wie Innenminister Rösch fast 20 Jahre zuvor. Jedenfalls wurde Carlos wegen terroristischer Vergehen in Frankreich zweimal zu lebenslanger Haft verurteilt – die OPEC-Geiselnahme spielte dabei keine Rolle. Stellvertreter Naccache saß in den 1980er Jahren ebenfalls in französischer Haft, ehe ihm ein Deal mit dem Iran die Freiheit brachte. Er lebt heute als Geschäftsmann in Beirut. Von den übrigen zwei palästinensischen Kommandomitgliedern hatte man nicht einmal die wirklichen Namen ermitteln können.

Konsequenzen
Als Antwort auf die zunehmende terroristische Bedrohung reagierte Österreich mit einem Bündel an Maßnahmen, die polizeilicher, aber vor allem außenpolitischer Natur waren. Letztere zielten darauf ab, den Nahostkonflikt präventiv zu entschärfen. Denn aufgrund seiner Rolle als Schleuse bei der jüdischen Emigration von Osteuropa nach Israel war Österreich zwangsläufig involviert. Im Nachhinein bestand für Kreisky der Beweis für die Richtigkeit seiner Politik darin, dass 15 Jahre hindurch 300.000 russische Juden über Österreich nach Israel ausgewandert seien – „ohne, dass jeden Monat in Schwechat eine Bombe explodiert ist“. Auch das Manko im Sicherheitsapparat konnte Ende der 1970er Jahre mit der Aufstellung des Gendarmerieeinsatzkommandos (heute EKO Cobra) behoben werden.

Freilich gelang es nicht, den nahöstlichen Terror von Österreich fernzuhalten. Entscheidend dafür war, dass die guten Kontakte zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und radikale Kräfte wie die Abu-Nidal-Gruppe auf den Plan riefen. Diese wollte moderierende Einflüsse von außen mit Terror abschrecken. 1981 und 1985 kam es insgesamt zu drei blutigen Attentaten in Wien. Es spricht für Kreiskys Standfestigkeit, dass er seine Linie auch gegen diesen Druck beibehielt. Spätestens Ende der 1980er Jahre erfolgte mit dem Wechsel des Außenamts zur ÖVP eine grundsätzliche Neuorientierung hin zu europäischen Belangen. Und mit dem Ende des Kalten Krieges endete auch die Welle jenes Terrors, in die die OPEC-Geiselnahme einzuordnen ist. Heute sieht sich Österreich, so wie andere westliche Staaten auch, mit der Herausforderung durch den radikal-islamistische Terrorismus konfrontiert. Aber wie das historische Beispiel zeigt, war schon vieles damals angelegt: Die Medienfixierung des Terrorismus und seine zunehmende Internationalisierung. Im Unterschied zu 1975 braucht es heute keine Organisationen oder Sponsoren mehr. Es genügt bereits ein „lone wolf“, und die Möglichkeiten der Massenkommunikation haben sich exorbitant gesteigert. 

Literaturtipp: 
"Tage des Schreckens. Die OPEC-Geiselnahme 1975 und der moderne Terrorismus"
http://www.amazon.de/dp/B018NX2AHQ/ref=cm_sw_r_tw_dp_i88Cwb141G8T0

Siehe dazu auch:
Markus Sulzbacher, 40 Jahre OPEC-Überfall: Terror auf der Insel der Seligen", in: Der Standard, 21. 12. 2015, http://derstandard.at/2000027845448/40-Jahre-OPEC-Ueberfall-Terror-auf-der-Insel-der-Seligen

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Neues Buch: „Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme 1975 und die Anfänge des modernen Terrorismus“

Nie zuvor und nie wieder danach befanden sich so viele hochrangige Politiker in den Händen von Terroristen: Die Geiselnahme während der Ministerkonferenz der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) in Wien am 21. Dezember 1975 nimmt bis heute eine Sonderstellung in der Geschichte des modernen Terrorismus ein. Ein sechsköpfiges Kommando, angeführt von dem damals 26jährigen Venezolaner Ilich Ramirez Sanchez (besser bekannt als „Carlos“), hatte insgesamt 62 Geiseln genommen, darunter 11 Erdölminister. Es gab drei Tote zu beklagen – einen österreichischen Polizisten, einen irakischen Leibwächter und einen libyschen Delegierten. Thomas Riegler rekonstruiert anhand von Dokumenten und Zeitzeugeninterviews den spektakulären Fall und setzt diesen in den Kontext österreichischer Sicherheitspolitik bzw. heutiger Bedrohungen.

LINK zum Buch: 
Auszug aus der Einleitung
Der „Coup“ von Wien erregte weltweite Aufmerksamkeit. Bezugnehmend auf andere Terroranschläge und Geiselnahmen in den Jahren davor, meinte das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“: „Eine israelische Olympiamannschaft in München, ein amerikanischer Botschafter in Khartum, ein deutscher Lufthansa-Jet in Aden – o.k., das waren bei einiger Gedankenakrobatik Feindobjekte. Aber elf Ölminister, am 4. Advent im molligen Wien am Konferenztisch von Arabern kollektiv gekapert – das war Aberwitz-Kidnapping, Fantasia, trotz blutigem Anfang und kläglichem Ende.“  Dem britischen Journalisten David A. Yallop zufolge hatte Carlos, gemessen an der Finanzkraft, die die 11 Erdölminister repräsentierten, „die reichste Gruppe von Geiseln der bisherigen Weltgeschichte in seine Gewalt gebracht.“

Die OPEC-Geiselnahme war in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Wegmarke in der Entwicklung moderner terroristischer Gewalt: Im Unterschied zum „älteren“ Terrorismus mit seinen primär nationalen Bezügen wurde der Anschlag in Wien als „Joint Venture“ grenzübergreifend vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Ganz bewusst wurde mediale Aufmerksamkeit auf das „Palästinenserproblem“ gelenkt. Noch wichtiger waren allerdings geheime Machenschaften: Einerseits ging es um Geldbeschaffung für palästinensische Gruppen, andererseits war die Geiselnahme eine Folge des Machtkampfes innerhalb der OPEC. Vor allem Libyen unter Muammar al-Gaddafi wollte die Preispolitik beeinflussen und benutzte die Terroristen als Stellvertreterstreitmacht, um Druck auf seine Gegner – Saudi-Arabien und den Iran –auszuüben. Insofern steht die OPEC-Geiselnahme für instrumentalisierten Terrorismus, der vor allem eine Botschaft zwischen staatlichen Akteuren kommunizierte. 

Während sich die Bedeutung staatlicher Sponsoren im gegenwärtigen radikal-islamistischen Terrorismus deutlich verringert hat, haben sich Aspekte der „Transnationalität“ weiter herauskristallisiert: Internationale Agenda und Ideologie, multinationale Mitgliedschaft, Einbindung in globale Netzwerkstrukturen und medial gesteigerte Schockeffekte. Vieles kann allerdings als Weiterentwicklung älterer Medienstrategien und Kooperationsmechanismen begriffen werden. Zwar ist es richtig, dass der Islamische Staat (IS), der spätestens seit 2014 große Teile des Irak und Syriens kontrolliert, frühere Gruppen in Sachen territorialer Kontrolle, militärischer Stärke, Gewaltintensität, Inszenierung und eigenen Einkommensquellen übertrifft. Aber dieser Vorsprung stellt, wie Loretta Napoleoni betont, „keine genetische Mutation dar“, sondern resultiert aus der Fähigkeit des IS, „sich dem schnell verändernden Umfeld in einer globalisierten Welt anzupassen“.  Schon in den 1970er und 1980er Jahren bildeten die palästinensischen Organisationen ein transnationales Netzwerk, das verschiedenste Gruppen mit unterschiedlicher Agenda unter dem Deckmantel des „Antiimperialismus“ verband.  In vielerlei Hinsicht waren die 1970er Jahre sogar ein „goldenes Zeitalter“ des Terrorismus – während etwa in den USA in dieser Zeitspanne 184 Menschen getötet und 600 verletzt wurden, gab es zwischen 2001 und Mitte 2015 74 Todesopfer.

Der größte Unterschied zwischen dem „alten“ und „neuen“ Terrorismus besteht jedoch in den völlig veränderten Rahmenbedingungen: „Der ‚alte’ Terrorismus“, so der deutsche Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar, „war zweifellos ein Terrorismus im Zeitalter des Kalten Krieges. Er ist jedoch nicht nur allgemein vom Kontext des Ost-West-Konflikts, sondern in einer besonders zugespitzten Form vom Spannungsfeld des Nahen Ostens geprägt worden.“  Anders als bei den heutigen amorphen Netzwerken dominierten in den 1970er und 1980er Jahren durchorganisierte Kaderorganisationen mit fixen Basen und abgestuften Hierarchien.  Selbstmordattentate kamen erst im libanesischen Bürgerkrieg in den 1980er Jahren auf und blieben bis zum 11. September 2001 vereinzelt. Der neuartige Terrorismus, der sich nach den Anschlägen in New York und Washington herauskristallisierte, ist einerseits ein „Produkt“ der Globalisierung, was sich in seiner multinationalen Ausrichtung, der Rolle des Internets als virtuelle Rekrutierungs- und Ausbildungsstätte sowie der Medienfixierung seiner Aktionsformen widerspiegelt; andererseits dominiert radikaler Fundamentalismus, wo vor einigen Jahrzehnten noch säkulare Orientierung vorherrschte. Auch hat der moderne radikal-islamische Terrorismus demonstriert, dass er kaum mehr Sponsoring benötigt. Ausbildungslager befinden sich in Bürgerkriegsgebieten, anstatt wie noch in den 1970er und 1980er Jahren von gewissen Staaten protegiert oder geduldet zu werden. Und schließlich haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten potenziert: Die OPEC-Geiselnehmer mussten noch die Verlesung einer maschinengetippten Botschaft im Radio erzwingen. Diese Differenzen machen deutlich, dass die Vergleichsmöglichkeiten mit der Gegenwart begrenzt sind.

Der Überfall auf die OPEC-Ministerkonferenz ist im historischen „Gedächtnis“ der Zweiten Republik haften geblieben – auch weil es sich bei Carlos um einen der „schillerndsten“ terroristischen Gewalttäter der 1970er und 1980er Jahre handelte. Sein Gesicht stand für den Terror jener Jahre, der sich vor allem in Flugzeugentführungen und Anschlägen von palästinensischen Gruppen in Westeuropa ausdrückte.  Über Carlos, der 1994 im Sudan verhaftet wurde, sind gerade im deutsch- und englischsprachigen Raum zahlreiche Biografien  veröffentlicht worden.

Im Rahmen von „Tage des Schreckens“ werden die Hintergründe und der Ablauf der Ereignisse auf Basis von Primärquellen rekonstruiert. Der wichtigste Bestand hierzu befindet sich in der 1984 gegründeten Wiener Stiftung Bruno Kreisky Archiv (StBKA), das den politischen und persönlichen Nachlass von Bruno Kreisky umfasst. Abgesehen von polizeilichen Ermittlungsakten und außenpolitischen Dokumenten befindet sich darunter auch das detaillierte Tagebuch von Josef Staribacher (1921-2014), das dieser über seine Amtszeit als Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie (1970 bis 1983) führte. Aus diesen Aufzeichnungen eröffnet sich ein subjektiver, aber auch einzigartiger Einblick in das innere Funktionieren der Regierung Kreisky. Schon 1976 hatte das Bundeskanzleramt das Weißbuch „Die Vorfälle vom 21/22. Dezember 1975. Ein Dokumentationsbericht“ veröffentlicht. Dieses enthält neben der offiziellen Erklärung Kreiskys zur OPEC-Geiselnahme vor dem Nationalrat (27. Jänner 1976) eine detaillierte Chronologie sowie Berichte zu den Verhandlungen am Schauplatz und der Tatbestandsaufnahme.

Von besonderer Bedeutung sind weiters Erkenntnisse aus drei bundesdeutschen Gerichtsverfahren gegen Beteiligte an der OPEC-Geiselnahme – Gabriele Kröcher-Tiedemann (Köln, 1990), Hans-Joachim Klein (Frankfurt am Main, 2000/2001) sowie Sonja Suder (Frankfurt, 2012/2013). Relevante Dokumente aus dem Archiv der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR (BStU) bzw. aus dem Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik (ÖSTA/AdR) runden das Bild ab. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Zeitzeugenberichte: Für dieses Buch berichtete unter anderem der Bundesminister außer Dienst, Erwin Lanc, über seine Teilnahme am Sonderministerrat zur OPEC-Geiselnahme. Erstmals ausführlich äußerte sich der Sohn des getöteten Staatspolizisten, Gerhard Tichler, über seinen jahrzehntelangen Kampf für Gerechtigkeit. Und mit dem ehemaligen Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), Gert Rene Polli, stellte ein ausgewiesener Experte Bezüge zur aktuellen Situation her.

Zu den wichtigsten Ergebnissen zählen:
1. Die Geiselnahme der Erdölminister war eine komplexe Operation, die von terroristischen Kräften im Verbund mit staatlichen Akteuren geplant und durchgeführt wurde. Neben Libyen dürften weitere arabische Staaten eine wichtige Rolle im Hintergrund gespielt haben.

2. Die Tatsache, dass die Terroristen relativ einfach in das OPEC-Generalsekretariat eindringen konnten, offenbart gravierende Schwächen und Fehleinschätzungen auf Seiten der Behörden – und dass obwohl Österreich in den Jahren davor bereits mit terroristischer Gewalt konfrontiert war. Das Fehlen eines polizeilichen Spezialverbandes wirkte sich nachteilig aus. Auch bei der abschließenden Tatortaufnahme und Spurensicherung unterliefen Fehler, die die gesamte weitere Aufklärung negativ beeinflussen sollten.

3. Das politische Krisenmanagement von Bruno Kreisky verlief im Großen und Ganzen erfolgreich. Allerdings zeigt sich die übergeordnete Priorität, so rasch als möglich zur Tagesordnung zurückzukehren: Alle Forderungen der Geiselnehmer wurden erfüllt, bei der Abwicklung kam es mehrmals zu Pannen.

4. Eine effektive Strafverfolgung der Terroristen wurde vernachlässigt. Österreich war vor allem besorgt, als Standort für internationale Organisationen Schaden zu erleiden. Von daher wollte man die guten Beziehungen zu arabischen Staaten nicht aufs Spiel setzen – etwa in der Auslieferungsfrage oder durch weitere Nachforschungen. Bis heute hat kein Verfahren zur OPEC-Geiselnahme vor einem österreichischen Gericht stattgefunden.

5. Schon vor dem Anschlag hatte Österreich wirtschaftliche Kontakte zu Libyen geknüpft, die sich Ende der 1970er Jahre weiter vertieften. Daran änderten auch Hinweise, wonach das Regime von Muammar al-Gaddafi in die OPEC-Geiselnahme verwickelt war, nichts. Im Gegenteil, Kreisky sollte den libyschen Machthaber stets in Schutz nehmen, wenn es um die Terrorismusproblematik ging.

6. Als Antwort auf die terroristische Bedrohung reagierte Österreich mit einem Bündel an Maßnahmen, die polizeilicher, aber vor allem politischer Natur waren – um den Nahostkonflikt präventiv zu entschärfen und so für mehr Sicherheit zu sorgen.