Mittwoch, 30. März 2016

„Abstrakte Gefährdung“ – das Terrorrisiko in Österreich

Die Anschläge in Brüssel am 22. März 2016 haben von neuem die Bedrohung durch den radikal-islamistischen Terrorismus unterstrichen. Aber was bedeutet dies konkret für Österreich? Innenministerin Mikl-Leitner sprach von einer „abstrakte(n) Gefährdung“. Ihr Sprecher sah „keine Auswirkungen auf den aktuellen Lebensalltag“ gegeben. Dafür warnte der Direktor des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), Peter Gridling: „Wir können uns da nicht ausnehmen. Die Bedrohung durch den islamistischen Terror ist hoch.“

Welche Faktoren sprechen nur hierfür?

  • Ein Sicherheitsrisiko stellt die dichte Präsenz von internationalen Organisationen in Wien dar. Auch ausländische Vertretungen könnten betroffen sein. Dagegen spricht, dass diese Objekte generell gut überwacht werden und daher wenig lohnenswerte Ziele sind. Realistisch sind auch Anschläge gegen kritische Infrastruktur – das Innenministerium soll eine diesbezügliche Liste von 192 gefährdeten Objekten erstellt haben.
  • Es gibt in Österreich zwar keine vergleichbare „Hochburg“ wie in Molenbeek-Brüssel, aber Tendenzen in diese Richtung. Die radikal-islamistische Szene konzentriert sich im Wesentlichen auf Wien, Graz, Salzburg und Oberösterreich. Vor allem die Wiener Salafisten-Gemeinde gilt als Zentrale ähnlicher Gruppen auf dem Balkan, die von hier aus strategisch, logistisch und finanziell unterstützt werden.
  • Das wahrscheinlich größte Risiko geht von den „Jihad-Rückkehrern“ aus: Bis Anfang 2016 zogen 259 Personen aus Österreich als Freiwillige in die Konfliktgebiete im Nahen Osten. 80 von ihnen sind bereits zurückgekehrt, 42 wurden getötet. Im westeuropäischen Vergleich liegt Österreich damit prozentuell im Verhältnis zur Bevölkerung gesehen auf den vordersten Plätzen. Wie sich zuletzt bei den Anschlägen in Paris und Brüssel (2015/16) gezeigt hat, spielen „Rückkehrer“ bei der Koordination und Anleitung eine zentrale Rolle. Darüber hinaus soll der Islamische Staat (IS) schon frühzeitig begonnen haben, Schläferzellen in mehreren europäischen Ländern und vor allem in der Türkei zu installieren. Diese ehemaligen Kämpfer sollen auf keiner Fahndungsliste aufscheinen.
  • Zahlreiche Anschläge der jüngsten Vergangenheit wurden weiters von Jihad-Unterstützern begangen: Hierbei handelt es sich um ein oder mehrere Personen, die zuvor nicht im Nahen Osten gekämpft haben und oft aus Eigeninitiative handeln. Beispiele hierfür sind die Attentate in Ottawa (2014), Sydney (2014) oder in der französischen Region Midi-Pyrénées (2012). Nur in seltenen Fällen sind selbstradikalisierte Einzeltäter („lone wolf“) verantwortlich. So wurde der Attentäter von Kopenhagen (2015) von vier Personen unterstützt.
  • Nachrichtendienstliche Mängel: Das BVT ist kein klassischer Geheimdienst und befindet sich in einem Umstrukturierungsprozess. Derzeit dürfte es Mankos im Bereich „menschlicher Quellen“ geben, also beim Einschleusen von Informanten. Auch die Überwachung der „Rückkehrer“ ist ressourcentechnisch schwer zu bewerkstelligen – eine Rundumüberwachung eines Verdächtigen benötigt 20 Personen. Es ist auch möglich, dass künftig verstärkter Fahndungsdruck zu „Gegenreaktionen“ oder verstärktem Abtauchen in den „Untergrund“ führt. 
  • In unmittelbarer geografischer Nähe zu Österreich befindet sich ein „Hotspot“ des Jihadismus – der Westbalkan. Im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, Albanien und in Mazedonien bilden sich vermehrt Netzwerke für die Auseinandersetzungen in Syrien und im Nordirak. Im bosnischen Gornja Maoca sowie in Dörfern bei Zenzia, Bihac und Brcko sollen Freiwillige auch militärisch unterwiesen worden sein. Einmal soll sogar ein Waldstück nahe dem slowenischen Hauptstadt Ljubljana für Schusswaffen-Übungen genutzt worden sein. Aufgrund der offenen Schengen-Grenze war es für mehrere kampfbereite Männer aus Österreich einfach, in solche Ausbildungszentren am Balkan zu reisen. Die bosnische Grenzregion um Velika Kladusa wiederum ist dabei, sich zu einem "Brückenkopf für islamistische Terroristen auf dem Weg nach Norden zu entwickeln - vor allem mithilfe in Österreich, Deutschland oder Italien radikalisierter Gastarbeiter" (vgl. Der Spiegel, Nr. 14/2016, S. 95 f.).

Gegen eine unmittelbare Bedrohung spricht:

  • Als neutrales Land ist Österreich nicht an den westlichen Militäreinsätzen in Syrien beteiligt. Das Bundesheer beteiligte sich bis Ende 2009 an der humanitären Mission der UNO im Tschad – nur eine Handvoll von Personal befindet sich derzeit im Nahen Osten. Allerdings wurde Anfang 2015 eine Anschlagsdrohung per Video gegen Österreich ausgesprochen – und zwar von dem österreichischen Jihadisten Mohamed Mahmoud, der den Führungszirkeln des IS in Syrien zugerechnet wird. Im Unterschied zu Österreich weist das besonders betroffene Frankreich einen großen (und teils marginaliserten) muslimischen Bevölkerungsteil auf. Es wiegt das koloniale Erbe (Algerienkrieg) sowie das militärische Engagement in West- und Zentralafrika und in Syrien. In Belgien wiederum war es lange Zeit verhältnismäßig ruhig - aber die sehr hohe Zahl an Jihad-Freiwilligen, die Funktion als Basis nahe Frankreich und die Zersplitterung des Sicherheitsapparats sind nicht folgenlos geblieben. Freilich richten sich die Drohungen des IS jüngst generell gegen Europa - so hieß es kürzlich: "Today it is Brussels and [its] airport, and tomorrow it might be Portugal and Hungary." Hier dürfte gelten: Je mehr der IS militärisch unter Druck gerät, umso wahrscheinlicher sind vermehrte Terroranschläge im europäischen "Hinterhof".
  • Österreich ist bislang kein „Aktionsraum“ für Terroristen, sondern ein „Ruheraum“ mit günstiger geografischer Lage, diskreten Banken und schwach ausgebildeten nachrichtendienstliche Strukturen. Terroristen machen sich das für Vorbereitungen von Operationen anderenorts zunutze. Oder sie tauchen hierzulande einfach unter oder nutzten in der Vergangenheit nachweislich den Finanzplatz.
  • Besonders wichtig ist die Rolle als Transitland: Eine wichtige Route führt Jihad-Freiwillige über Bosnien und die Türkei, um dann dort entlang der 800 km langen Grenze in Syrien einzusickern. Genauso funktioniert es in die andere Richtung: Aktuell sitzen in Salzburg sechs Männer ein, die als Flüchtlinge getarnt nach Österreich kamen. Zwei der sechs U-Häftlinge stehen unter dringendem Verdacht der IS-Mitgliedschaft. Auch sollen sie in Kontakt mit der Terrorzelle in Brüssel gestanden haben. Ebenso hielt sich der Paris-Attentäter Salah Abdeslam in Österreich auf. Am 9. September 2015 geriet er im Gemeindegebiet von Aistersheim (Oberösterreich) in eine Verkehrskontrolle – diese galt möglichen Schleppern. Zwei Männer waren bei Abdeslam im Auto, das Richtung Wien weiterfahren durfte. Sie waren in die Anschläge von Paris und Brüssel involviert: Najim Laachraoui und Mohamed Belkaid.
Eine Kellerlokal-Moschee in der Wiener Venediger Au galt als ein Zentrum islamistischer Radikalisierung
Das Anschlagsrisiko im Kontext vergangener Ereignisse
 Im historischen Rückblick ist terroristische Gewalt in Österreich bislang eine Seltenheit. Eine statistische Auswertung des Kriminalisten Richard Benda und der „Kurier“-Journalistin Ingrid Gabriel für das Buch „Terror rot/weiss/rot“ ergab für die Jahre 1959-1988 16 Todesopfer und 112 Verletzte. Bei den Toten handelte es sich um einen Politiker, den Wiener Stadtrat Heinz Nittel, drei Diplomaten, sechs Unbeteiligte, drei Polizisten und zwei Täter. In den knapp drei Jahrzehnten fanden außerdem insgesamt 113 Bombenanschläge statt, deren Hauptschauplatz eindeutig in Wien (64), gefolgt von Kärnten (20) und der Steiermark (9) lag.

Nicht in dieser Statistik erfasst sind jene drei kurdischen Politiker, die 1989 von iranischen Agenten in Wien ermordet wurden. Einen weiteren Fall von Staatsterrorismus stellt der Fall von Umar Israliov dar: Der 27jährige Tschetschene war am 13. Jänner 2009 vor einem Wiener Supermarkt mit zwei Schüssen ermordet worden. Nach Erkenntnissen des Landesamts für Verfassungsschutz hatte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrov den Auftrag zur Ermordung seines ehemaligen Leibwächters angeordnet. 1995 starben zwei Linksradikale bei einem missglückten Sprengstoffanschlag gegen einen Strommasten im niederösterreichischen Ebergassing. Weiters forderten sechs rechtsextreme Briefbombenserien zwischen 1993 und 1996 vier Todesopfer und 15 Verletzte, ehe der später als Einzeltäter verurteilte Franz Fuchs 1997 bei einer Routinekontrolle verhaftet werden konnte. Als im Sommer 2007 ein 44jähriger Arzt einen Jugendlichen mit einem Pistolenschuss schwer verletzte, weil er sich von diesem angeblich bedroht fühlte, stellte sich in der Folge heraus, dass der Täter für einen Anschlag auf die Wiener Osmanli-Moschee am 15. November 2005 verantwortlich war. Die Detonation des Sprengsatzes hatte damals Sachschaden in der Höhe von 5.260 Euro verursacht. In der Gerichtsverhandlung bezeichnete sich der Arzt selbst als „Terrorist“. 2009 wurden dann bei einer Schießerei in einem indischen Tempel in Wien ein Prediger getötet und 15 Menschen verletzt. Die Auseinandersetzung dürfte „ausschließlich religiös motiviert“ gewesen sein, dennoch scheint sie als Exkurs im BVT-Jahresbericht auf.

Nimmt man all diese Opfer in die Statistik auf, dann handelt es sich um insgesamt 27 Tote und 141 Verletzte durch terroristische Gewalt in den vergangenen 50 Jahren. Zieht man nach diesem historischen Vergleich noch andere Länder heran, so kommt man zum Schluss, dass Österreich tatsächlich relativ „glimpflich“ davon gekommen ist: So forderte alleine der jahrzehntelange Terror der Roten Armee Fraktion in der BRD 67 Tote, 230 Verletzte, 230 Millionen Euro Sachschaden. In Italien wurden bei acht größeren Sprengstoffanschlägen zwischen 1969 und 1987 419 Menschen getötet und 1.181 verletzt.

Die Gründe, warum Österreich von terroristischer Gewalt relativ verschont geblieben ist, sagen viel über die Verfasstheit des politischen Systems aus: Gesellschaftliche Konfliktfelder, die anderswo einen Nährboden für terroristische Gewalt darstellten, wurden durch von oben vorangetriebene Reformen in den 1970er Jahren entschärft. Zündstoff für Terrorismus bildeten vor allem die Auseinandersetzung um Minderheitenrechte: In den 1960er Jahren unterstützen Neofaschisten die Anschlagswelle in Südtirol, während es in den 1970er Jahren in Kärnten zu 19 Sprengstoffattentaten gegen Denkmäler, Bahngleise, Strommasten und das Heimatmuseum von Völkermarkt kam. Ansonsten war Terrorismus vor allem das Werk ausländischer Akteure auf österreichischem Boden: Getroffen wurden Vertretungen (des Iran, der Türkei oder des Irak) sowie in drei Fällen türkische Diplomaten. Auch die OPEC-Geiselnahme 1975 hatte mit Österreich nichts zu tun, sondern richtete sich primär gegen Saudi-Arabien und den vorrevolutionären Iran. Von der Intensität her war der Nahostterrorismus überhaupt die bedeutendste Herausforderung. Zwischen 1973 und 1985 war Österreich (und hier besonders Wien) ein Nebenschauplatz des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern, vor allem aber zwischen arabischen Gruppen untereinander. In diese Zeitspanne fallen die Geiselnahme von Marchegg (1973), der Mord an Heinz Nittel (1981), der Wiener Synagogenanschlag (1981) und das Flughafenattentat in Schwechat (1985).

Solange die Lage in Österreich ruhig blieb, hatten Terroristen wenig zu befürchten. Offiziell hat es eine solche Strategie zur Terrorvermeidung freilich nie gegeben, inoffiziell aber sehr wohl: Um nach einer Anschlagsserie der Abu Nidal-Organisation (ANO) Anfang der 1980er Jahre weitere Gewalt zu verhindern, ließ man zwischen 1988 und 1993 wechselnde Angehörige der ANO in Wien wohnen und stellte medizinische Hilfsgüter bereit. Darüber hinaus konnten sich Familienangehörige von Abu Nidal, einem der gefährlichsten palästinensischen Terroristen, im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Operationen unterziehen. Obgleich dieser „Waffenstillstand“ brüchig war, kam es zu keinem weiteren Terroranschlag Abu Nidals in Österreich.

Während sich die ANO-Mitglieder mit Wissen der Behörden in Wien aufhielten und hier Gelder investierten, wurde die Anwesenheit anderer Terroristen spät oder erst gar nicht erfasst. Mitglieder der RAF hielten sich in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre immer wieder in Wien auf. Österreich fungierte als Transitland, um nach Anschlägen in der BRD nach Skandinavien, in Ost-Blockstaaten oder in den Libanon weiterzureisen – je nachdem, wo sich die Gruppe gerade besonders sicher fühlte. Nur einmal kam es zu einer größeren Operation westdeutscher Terroristen in Österreich selbst – die Entführung des Fabrikanten Walter Palmers durch die „Bewegung 2. Juni“ 1977, die später in der RAF aufging.

Mit dem Ende des Kalten Krieges (1989) änderte sich die strategische Bedeutung Österreichs: Ab diesem Zeitpunkt begann der radikale Islamismus die vorher dominanten säkularen terroristischen „Player“ abzulösen. Das geschah im Zuge des jugoslawischen Bürgerkriegs, als Wien zur Schaltstelle für illegale Waffenlieferungen nach Bosnien wurde. Dort kämpften zwischen 1991 und 1995 tausende Freiwillige aus arabischen Ländern und dem Iran auf Seiten der muslimisch-nationalistischen Regierung von Präsident Alija Izetbegović gegen Serben und Kroaten. Auch Osama Bin Ladens Al-Qaida stellte Kämpfer. Es war das wichtigste Operationsfeld des Jihad nach dem Kampf gegen die Rote Armee in Afghanistan in den 1980er Jahren. Laut westlichen Geheimdienstkreisen erfüllte die in Wien-Wieden angesiedelte Third World Relief Agency (TWRA) eine Schlüsselrolle, wenn es darum ging, die radikal-islamistischen Kräfte finanziell und logistisch zu unterstützen.

Neben dem neutralen Status und der großzügigen Handhabung des Bankgeheimnisses eröffnete auch die tolerante Haltung gegenüber allen Religionsgemeinschaften radikalen Islamisten hierzulande zahlreiche Möglichkeiten: „Weitgehend unbehelligt von der Exekutive können Kontakte geknüpft, Gefolgsleute angeworben oder versteckt und Gelder geparkt werden.“ Die Gefahr von Attentaten wurde lange als gering eingestuft. „Man will sich den Ruhe- und Planungsraum nicht durch Anschläge gefährden und die Aufmerksamkeit der Politik auf sich ziehen. Österreich sendet quasi stille Signale an die Extremisten, das Land außen vor zu lassen“, meinte 2004 der deutsche Terrorismus-Experte Rolf Tophoven. Otmar Höll vom Zentrum für internationale Politik pflichtete diesem Befund bei: „Österreich war nie eine Kolonialmacht, man muss hier keine außenpolitischen Abhängigkeiten fürchten, wir haben keine Interessen im arabischen Raum, daher ist Österreich aus Sicht von Terroristen ein akzeptables Land.“

Ab Ende der 1990er Jahre wurde festgestellt, dass die Predigten in gewissen Moscheen radikaler wurden und die Stimmung aggressiver. In strafrechtlich relevanter Hinsicht verhielten sich islamistische Kräfte aber großteils „unauffällig“, womit für polizeiliches Einschreiten die Grundlage fehlte. Während nach 2001 in anderen westlichen Ländern aktiv an der Identifizierung und Zerschlagung radikal-islamistischer Netzwerke gearbeitet wurde, blieb es in Österreich bei stiller Beobachtung – „nach dem Motto: Die Aktivisten sollen sich anständig benehmen und die Alpenrepublik mit Anschlägen verschonen, dafür stellen die Behörden ihren Vereinen nicht nach“, meinte „profil“ 2004.

Tatsächlich hatten sich in Wien, Oberösterreich, der Steiermark und in Salzburg radikal-islamistische Milieus verfestigt. Diese waren laut dem deutschen Experten Guido Steinberg auch über den österreichischen Kontext hinaus einflussreich. So sollen die afghanischen Brüder Jamaluddin Qarat und Farhad Qarat, in Wien lebende Österreicher afghanischer Herkunft, die Ersten gewesen sein, die den salafistischen Jihadismus öffentlich vertraten und bei dessen Transfer nach Deutschland eine wichtige Rolle spielten. Beide standen in engem Kontakt zu dem bosnischen Imam Nedzad Balkan, der ebenso wie der einflussreiche Prediger Abu al-Khattab in der Sahaba-Moschee in der Lindengasse Nr. 1, unweit der Wiener Stiftskaserne, wirkte. Die Sahaba-Moschee besuchte auch Mohamed Mahmoud, ein 1985 geborener Österreicher mit ägyptischen Wurzeln, der nach Verbüßung einer Haftstrafe 2011 in Berlin „Millatu Ibrahim“ gründete, die erste Jihad-Bewegung in Mitteleuropa. Großen Einfluss hatte auch der Prediger Mirsad O. als „Vordenker“ des Jihadismus innerhalb der Wiener Szene. Darüber hinaus war er eng mit bosnischen Salafisten vernetzt.

Eine besorgniserregende Entwicklung stellt der „Jihad-Tourismus“ dar, der seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs (2011) und dem Erstarken des IS im Irak und in Syrien eingesetzt hat: Von Österreich ist es verhältnismäßig einfach, in die Konfliktgebiete im Nahen Osten zu gelangen. Andererseits weisen die österreichischen Jihad-Freiwilligen eine spezifische Zusammensetzung auf: „Bei einem wesentlichen Teil der aus Österreich nach Syrien reisenden Personen handelt es sich um österreichische Staatsangehörige, deren Familien aus Südosteuropa und der Westbalkan-Region stammen. Personen mit fremder Staatsbürgerschaft (insbesondere Personen aus der Kaukasus-Region), welche über einen gültigen Aufenthaltstitel in Österreich verfügen, stellen den größten Anteil.“ Hierbei handelt es sich vor allem um Tschetschenen. Erklärt wird dieser Umstand mit traumatisierenden Erfahrungen infolge von zwei Kriegen, dem Erstarken des radikalen Islamismus in der autonomen russischen Teilrepublik, sozialen Problemen und der „Macht des Internets“. Österreich ist eines der Zentren der tschetschenischen Diaspora: Laut Schätzungen (2014) leben 30.000 Flüchtlinge hier.

Zweifellos stellt der radikal-islamistische Terrorismus eine für Österreich neuartige Bedrohung dar, wo althergebrachten Mechanismen nicht mehr greifen. Gezeigt hat sich, wie der Terrorismusforscher Peter R. Neumann betont, dass es „keiner monatelangen Planung, keiner explodierenden Busse und fallender Türme“ bedarf, „um die ganze Welt zu terrorisieren“. Vor allem in Paris und Brüssel wurden 2015/16 Menschenansammlungen (Bars, Restaurants, Konzerthalle, Flughafen-Checkin, U-Bahn) zum Ziel konzertierter Attacken mit der Absicht wahllose Massenverluste anzurichten. Das Risiko, dass auch Österreich vom „Ruheraum“ zum „Aktionsraum“ wird, ist wahrscheinlich noch nie so hoch wie heute.

Sonntag, 13. März 2016

Quid pro quo: Warum die These vom Stillhalteabkommen Schweiz-PLO plausibel ist

Anfang des Jahres hat NZZ-Reporter Marcel Gyr für Aufsehen gesorgt. In seinem Buch „Schweizer Terrorjahre“ vertritt er die These, dass ein geheimes „Stillhalteabkommen“ mit der PLO getroffen wurde. Nach dem Attentat in Zürich-Kloten (1969), dem Bombenanschlag auf Swissair-Flug 330 (1970) und der Entführung einer anderen Swissair-Maschine ins jordanische Zerka (1970) sollte so weitere Gewalt gegen Schweizer Ziele verhindert werden. Im Gegenzug habe man der PLO die notwendigen Bewilligungen für ein Büro bei der UNO in Genf in Aussicht gestellt. Dokumentarischen Beleg hierfür konnte Gyr keinen vorweisen, wohl aber Aussagen einiger prominenter Zeitzeugen. „Schweizer Terrorjahre“ hat seitdem viel Widerspruch erregt. Wohl auch deswegen, weil an einem Tabu gerüttelt wird – nämlich, mit Terroristen zu verhandeln. Eine solche Vorgangsweise ist seit jeher moralisch und rechtlich heftig umstritten. Genauso ist es eine Tatsache, dass westliche Regierungen in der Vergangenheit Deals mit Terroristen abgeschlossen haben. Und betrachtet man das Schweizer Beispiel in diesem Kontext, dann erscheint Gyrs These keineswegs abwegig.

Anders als gegenwärtig bestand während des Kalten Krieges Raum für stille Diplomatie. In den 1970er und 1980er Jahren waren selbst berüchtigte Terroristen wie Ahmed Jibril, Carlos der „Schakal“ oder Abu Nidal eng an die Interessen ihrer jeweiligen staatlichen Sponsoren rückgebunden. Libyen, Syrien oder Irak kappten die Unterstützung, wenn sie sich kompromittiert fühlten oder diese Zweckallianzen ihren Interessen zuwiderliefen. Im Gegensatz zum heutigen radikal-islamistischen Terrorismus handelte es sich primär um säkular-nationalistisch orientierte Akteure, die klar definierte Ziele verfolgten – und dabei Pragmatismus an den Tag legten. Gerade die palästinensischen Gruppen, die damals das Spektrum des „internationalen Terrorismus“ wesentlich bestimmten, perfektionierten ein Nebeneinander von Gewalt und Geheimdiplomatie, das Anknüpfungspunkte ermöglichte. So profilierte sich Jassir Arafats „Fatah“ – die dominante Einzelorganisation innerhalb des Dachverbands PLO – ab 1974 als gemäßigt, wenn gleich sie in den besetzten Gebieten und in Israel weiter Terror praktizierte.

Das hinderte die USA aber nicht daran, sich 1973 von der Fatah die Zusage zu holen, dass diese künftig keine Angriffe mehr auf US-Bürger unternehmen würde. Genauso ging es um den Schutz diplomatischer Einrichtungen im Bürgerkriegsland Libanon – zu diesem Zweck pflegten laut einem Dokument des Auswärtigen Amts von 1975 auch Großbritannien, Frankreich, die BRD und selbst die Schweiz „Verbindung zu PLO-Vertretern“. Nicht viel anders war es in Italien: Als es 1973 ein palästinensisches Kommando auf dem Flughafen Rom ein Blutbad anrichtete, soll der PLO die baldige Eröffnung eines Büros versprochen worden sein. Frankreich baute seine Sicherheit überhaupt auf die „Schutzhafen“-Doktrin: Indem man allen möglichen Gruppierungen Aktivitäten erlaubte, würde das Land außen vorgelassen.

Was das Beispiel BRD angeht, so hatte der Anschlag bei den Olympischen Spielen in München 1972 einen traumatischen Einschnitt bedeutet. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, bemühte man sich um Absprachen mit Entscheidungsträgern in Arafats Sicherheitsapparat. 1977 nahm auf Einladung des österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky ein Mitarbeiter von Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski an einem Geheimtreffen in Wien teil: Im Gegenzug für „eine gewisse Anerkennung“ und die „politische Unterstützung Arafats“ boten die PLO-Emissäre Fahndungshilfe gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) an. Deren Angehörige hielten sich nämlich teils im Nahen Osten verborgen. Das Bundeskriminalamt (BKA) profitierte infolge von Informationen über Pläne und Aufenthaltsorte deutscher Linksextremisten. Bei weiteren Gesprächen 1979 erhielt das BKA sogar die Zusage, dass die PLO „weder auf deutschem Boden noch weltweit Anschläge gegen deutsche Interessen verüben werde“. Eine schriftliche Garantie gab’s freilich nicht wie sich einer der Unterhändler erinnerte – „wenn ein Araber sein Wort gebe, genüge das“.

Österreich ging noch einen Schritt weiter – wegen seiner Rolle als Schleuse für die jüdische Auswanderung aus dem Sowjetlock nach Israel war die Alpenrepublik in den Nahostkonflikt involviert. Mehrmals versuchten arabische Gruppen diese demographische Stärkung Israels zu unterbinden. Um für Sicherheit zu sorgen, trachtete Bundeskanzler Kreisky danach, den Nahostkonflikt zu entschärfen. Er protegierte den Dialog zwischen der PLO und der israelischen Friedensbewegung und fungierte als Gastgeber der ersten Empfänge Arafats auf dem diplomatischen Parkett. 1980 wurde die PLO offiziell anerkannt. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Der PLO-Abtrünnige Abu Nidal wollte jede Entspannung zwischen Israel und den Palästinensern verhindern. Und deshalb traf sein Terror in den 1980er Jahren Länder wie Österreich, die sich um Vermittlung bemühten. Daran hatte auch die Informationen der PLO, die über Arafats Gesandten Issam Sartawi direkt an den österreichischen Innenminister gingen, nichts ändern können.

Diese heiklen Manöver im Nachhinein als „Appeasement“ abzutun, ist zu einfach. Tatsächlich stellte der internationale Terrorismus die westlichen Staaten vor ernste Herausforderungen. In den 1970er Jahren mussten erst mühsam Kapazitäten im Sicherheitsapparat aufgebaut werden. Außerdem wurden die Kooperationen nachrichtendienstlich ausgebeutet – so ergab die Überwachung von PLO-Büros einen „Schatz“ an Informationen, den die Staaten beispielsweise über den „Club de Berne“ auch untereinander teilten. Das haben Recherchen der Basler Historikerin Aviva Guttmann kürzlich ergeben.

Und die Schweiz? Es ist in der Tat augenfällig, dass der PLO nach dem Terrorjahr 1970 relativ rasch erlaubt wurde, ein inoffizielles Büro in Genf zu eröffnen. Für die Palästinenser bedeutete das Zugang zu einem der weltweit wichtigsten diplomatischen Zentren. Aus der Schweiz wollten sie „ein Fenster auf ganz Europa“ ausbauen, wie der Genfer PLO-Vertreter Daoud Barakat 1973 ausdrückte. Spätestens zwei Jahre später besaß seine Einrichtung den Status einer Mission mit allen Privilegien und Immunitäten. Und hier soll es kein „quid pro quo“ gegeben haben?

Am 15. März 1971 setzte laut einer Aktennotiz Bundesrat Pierre Graber, die Schüsselfigur von Gyrs Buch, den Bundesrat „anlässlich einer Aussprache davon in Kenntnis, dass in dieser Angelegenheit [die palästinensische Präsenz in Genf] gewisse Kontakte zwischen Beamten des EPD [Eidgenössisches Politisches Departement] und Vertretern der Palästinenser stattgefunden haben.“ Diese kryptische, aber interessante Notiz ist nur eine von vielen Primärquellen, die über die die Internetseite der Forschungsstelle der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (dodis.ch) einsehbar sind. Man erfährt hier auch, dass Bundespolizeichef André Amstein persönlich den israelischen Geheimdienst vor einem Attentat auf Barakat warnte – der Mossad führte damals nämlich eine Vergeltungskampagne gegen PLO-Führer. So überrascht es auch nicht, dass Barakat 1973 süffisant meinte, die Schweiz genieße „heute einen guten Ruf“ im PLO-Hauptquartier und sei somit „keinen Gefahren“ ausgesetzt. Zwei Jahre später lobte er das „jetzige gute Verhältnis“. Und: Die PLO habe bereits „verschiedentlich“ palästinensische Splittergruppen von Attentaten, „in oder gegen die Schweiz“, abgehalten. Solche Äußerungen genügen selbstverständlich nicht als Nachweis für einen Geheimdeal. Insofern ist die Entscheidung, die Beziehungen Schweiz-PLO von einer Arbeitsgruppe offiziell zu untersuchen, nur zu begrüßen. Man darf gespannt sein!

HINWEIS: Gekürzte Version ist am 13. März 2016 in der Neuen Züricher Zeitung erschienen

Mittwoch, 2. März 2016

Keine „Insel der Seligen“ – Teil 3

Eine Serie zum Thema Terrorismus und Nachrichtendienste in Österreich - als Kapitel erschienen in: "Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme und die Anfänge des modernen Terrorismus" (2015)
http://www.amazon.de/dp/B018NX2AHQ/ref=cm_sw_r_tw_dp_CbDZwb0Z92SRF

Mit dem Ende des Kalten Krieges (1989) änderte sich die strategische Bedeutung Österreichs: Ab diesem Zeitpunkt begann der radikale Islamismus die vorher dominanten säkularen terroristischen „Player“ abzulösen. Das geschah im Zuge des jugoslawischen Bürgerkriegs, als Wien zur Schaltstelle für illegale Waffenlieferungen nach Bosnien wurde. Dort kämpften zwischen 1991 und 1995 tausende Freiwillige aus arabischen Ländern und dem Iran auf Seiten der muslimisch-nationalistischen Regierung von Präsident Alija Izetbegović gegen Serben und Kroaten. Auch Osama Bin Ladens Al-Qaida stellte Kämpfer. Es war das wichtigste Operationsfeld des Jihad nach dem Kampf gegen die Rote Armee in Afghanistan in den 1980er Jahren. Laut westlichen Geheimdienstkreisen erfüllte die in Wien-Wieden angesiedelte Third World Relief Agency (TWRA) eine Schlüsselrolle, wenn es darum ging, die radikal-islamistischen Kräfte finanziell und logistisch zu unterstützen. 

Die TWRA war 1987 von den sudanesischen Brüdern Fatih und Sukarno Hassanein gegründet worden. Bevor er nach Wien kam, fungierte Fatih Hassanein lange als Osteuropa-Beauftragter der Nationalislamischen Front (NIF). Diese Partei beherrscht seit Ende der 1980er Jahre den Sudan und hat diesen in einen islamischen Staat auf Basis der Scharia umgewandelt. Zwischen 1991 und 1996 beherbergte das NIF-Regime Bin Laden nachdem dieser Saudi-Arabien verlassen musste. Hassanein wurde im März 1992 in Österreich als sudanesischer Kulturattaché akkreditiert und mit einem Diplomatenpass ausgestattet, der ihm Schutz vor polizeilichen Ermittlungen einräumte. Seine Mission fasste der Sudanese so zusammen: „Bosnien muss schließlich ein muslimisches Bosnien werden, denn wenn dies nicht passiert, wäre der ganze Krieg umsonst gewesen, und wir hätten für nichts gekämpft.“ Noch 1992 stellte der bosnische Außenminister Haris Silajdzic eine Vollmacht für die TWRA aus, die die Eröffnung eines Kontos bei der GiroCredit ermöglichte, die mittlerweile in der Erste Bank aufgegangen ist. 1993 bestätigte Izetbegovic noch einmal schriftlich, dass die TWRA das Vertrauen seiner Regierung genieße.

Laut zahlreicher Untersuchungen war die TWRA eine der wichtigsten Nachschubkanäle, nachdem die UNO 1991 ein Waffenembargo für Jugoslawien verhängt hatte. Zwischen 1992 und 1995 sollen 350 Millionen US-Dollar nach Bosnien geflossen sein – wenigstens die Hälfte der Summe wurde aufgewendet, um Waffen zu kaufen und zu schmuggeln. Ursprünglich stammten die Finanzmittel aus dem Nahen und Mittleren Osten, darunter Länder wie Iran, Türkei, Brunei, Malaysia und Pakistan. Eng waren die Beziehungen auch zur Saudi High Commission for Relief of Bosnia and Herzegovina (SHC), die zwischen 1992 und 2001 alleine 600 Millionen US-Dollar bereitstellte – nominell für Hilfeleistungen und religiöse Zwecke. Der Beauftragte der Bank, über die die TWRA-Transaktionen liefen, beschrieb Fatih Hassanein als „Gepäckträger“ von Präsident Izetbegovic: „Wenn die bosniakische Regierung sagte, sie benötige Mehl, rannte er und beschaffte Mehl, wenn sie sagte, sie benötige Waffen, dann rannte er nach Waffen.“ In der Bank erinnerte man sich auch an einen saudi-arabischen Diplomaten, der in zwei Koffern fünf Millionen US-Dollar brachte.

Laut Aussagen eines abtrünnigen Al-Qaida-Mitglieds sollen TWRA-Gelder auch Bin Ladens Truppe in Bosnien direkt zugutegekommen sein. Die TWRA finanzierte die 107 Mann starke Truppe bzw. half auf andere Art und Weise. Großzügige Unterstützung soll darüber hinaus von der SHC gekommen sein. Zacarias Moussaoui, der wegen Verwicklung in die Anschläge vom 11. September 2001 eine lebenslange Haftstrafe verbüßt, gab Ende 2014 an, für Al-Qaida alle Spender in einer digitalen Datenbank erfasst zu haben: In diesem Zusammenhang nannte er auch die TWRA.

Obgleich westliche Dienste schon vor 9/11 einen guten Einblick in diese Machenschaften hatten, war damals keine ausreichende Handhabe gegeben, um effektiv einzuschreiten. Deshalb klingt in den Memoiren des damals zuständigen Antiterrorberaters im Weißen Haus, Richard A. Clarke viel Frustration durch: „Den europäischen und amerikanischen Geheimdiensten gelang es allmählich, die Finanzierung und Unterstützung der Mudschaheddin bis zu Bin Laden im Sudan und zu Einrichtungen, die bereits von den Mudschaheddin in Westeuropa selbst gegründet worden waren, zurückzuverfolgen. Die Kontakte zu der Moschee im Finsbury Park in London, zu dem islamischen Kulturzentrum in Mailand, zu der Third World Relief Agency mit Sitz in Wien. Sie führten auch zu der Benevolence International Foundation in Chicago und zu der International Islamic Relief Organization in Saudi-Arabien. Diese ‚wohltätigen Organisationen’ beschafften Gelder, Arbeitsplätze, Ausweise, Visa, Diensträume und andere Hilfsmittel für die internationale Brigade der arabischen Kämpfer in und um Bosnien. Westliche Regierungen, auch die amerikanische, fanden vor dem 11. September kein geeignetes juristisches Mittel, um gegen diese Organisationen vorzugehen.“

1994 musste Fatih Hassanein „wegen Missbrauchs der österreichischen Gastfreundschaft“ Österreich verlassen. Am 5. September 1995 führten dann deutsche und österreichische Ermittler eine Razzia im Wiener Hauptquartier durch und beschlagnahmten zahlreiche Unterlagen. „Neben dem Waffenhandel wird die TWRA als Schlepperorganisation verdächtigt“, sagte ein Münchner Staatsanwalt. Außerdem soll die TWRA in den organisierten Ankauf von hochwertigen, in deutschen Kaufhäusern gestohlenen Waren, verwickelt gewesen sein. Ungeachtet dessen soll die TWRA noch bis 1996 weitergearbeitet haben. Fatih Hassanein war zu diesem Zeitpunkt nach Istanbul verzogen, wo er auch nach dem Ende des Bosnienkriegs seinen Geschäften nachging. Die TWRA leitete daraufhin sein Bruder Sukarno Hassanein.

Die Aktivitäten der TWRA waren kein Einzelfall: Bei der Erste Bank in Wien existierte noch im Jahr 2001 ein Konto der im Sudan registrierten Al Ahamal Islamic Bank, die vom US-Geheimdienst ebenfalls dem Finanznetzwerk von Osama Bin Laden zugerechnet wurde. Kurze Zeit später, am 15. Juni 2002, hörte der italienische Geheimdienst ein Gespräch zwischen zwei Jihadisten in Mailand ab: „Das Land, von dem alles seinen Ausgang nimmt, ist Österreich“, sagte der Algerier Abderrazak Mahdjoub. „Also ist Österreich eine große Macht geworden“, entgegnete sein Gesprächspartner, der ägyptische Imam Nasr Usama Mustafa Hasan. „Ja, alles verkehrt dort“, sagte Mahdjoub, „dort ist jede Menge Geld im Umlauf.“

Terrorismusfinanzierung ist weiterhin ein Thema geblieben: Zwischen 2011 und 2013 gingen beim Bundeskriminalamt (BKA) 214 Verdachtsmeldungen ein. Dabei handelt es sich um österreichische Bankverbindungen von Einzelpersonen oder Unternehmen, die auf internationalen Terror- oder Sanktionslisten geführt werden. „Über Details schweigt sich das Innenministerium aus. Nationale Sicherheit“, so Michael Nikbakhsh in „profil“. Laut Verfassungsschutz-Bericht kam es 2013 zu Verdachtsfällen im höheren zweistelligen Bereich: „Nur in Einzelfällen kommt es tatsächlich zu einer strafprozessualen Verfolgung, da oftmals das Bestimmungsland der Transaktion bzw. Namensteile als verdachtsbegründend angeführt werden.“

Neben dem neutralen Status und der großzügigen Handhabung des Bankgeheimnisses eröffnete auch die tolerante Haltung gegenüber Religionsgemeinschaften radikalen Islamisten hierzulande zahlreiche Möglichkeiten: „Weitgehend unbehelligt von der Exekutive können Kontakte geknüpft, Gefolgsleute angeworben oder versteckt und Gelder geparkt werden.“ Die Gefahr von Attentaten wurde lange als gering eingestuft. „Man will sich den Ruhe- und Planungsraum nicht durch Anschläge gefährden und die Aufmerksamkeit der Politik auf sich ziehen. Österreich sendet quasi stille Signale an die Extremisten, das Land außen vor zu lassen“, meinte 2004 der deutsche Terrorismus-Experte Rolf Tophoven. Otmar Höll vom Zentrum für internationale Politik pflichtete diesem Befund bei: „Österreich war nie eine Kolonialmacht, man muss hier keine außenpolitischen Abhängigkeiten fürchten, wir haben keine Interessen im arabischen Raum, daher ist Österreich aus Sicht von Terroristen ein akzeptables Land.“  

Politische Vertretungen von Organisationen, die in anderen Ländern als Terrororganisationen geführt wurden, werden nach wie vor in Österreich geduldet – auch um durch Gewährung einer legalen Basis nicht in auswärtige Konflikte mit hineingezogen zu werden. Kolumnist Rainer Nowak meinte dazu kritisch in der „Presse“: „Auf extreme politische Gruppierungen, egal ob gerade kurdischer oder arabischer Provenienz, wird kein Druck ausgeübt, damit verhindert man Radikalisierung und Aggression. An diesem ungeschriebenen Gesetz orientiert sich die aktuelle Sicherheitspolitik noch immer: Man habe den Extremisten das Wasser abgegraben, heißt es im Innenministerium heute stolz.“ So ließ man Aktivitäten der kurdischen PKK zu, die im Rahmen ihres Guerillakrieges gegen den türkischen Staat immer wieder Terroranschläge gegen zivile Ziele verübte. Während die Organisation in Deutschland 1993 verboten wurde, durfte die Nationale Befreiungsfront Kurdistan (ERNK), die politische Dachorganisation der PKK, mit offizieller Erlaubnis 1995 in Wien ein Büro eröffnen. Der damalige Innenminister Caspar Einem geriet deshalb unter Druck. Denn der Oberste Gerichtshof hatte ein Jahr zuvor, 1994, in einem Urteil festgestellt, dass die PKK (und auch die ERNK) eine „kriminelle Organisation“ sei. Das Büro befand sich daher unter ständiger Überwachung der Staatspolizei.

Schon bis in die 1960er Jahre zurück reicht die Präsenz der Muslimbruderschaft: Diese verfügt, so wie auch in anderen europäischen Staaten, über eine starke Präsenz, „weil sie der Staat in Ruhe gelassen hat“, so der Experte Lorenzo Vidno. Weiters ist Österreich eine „Zentrale“ der Hizb-ut-Tahrir, einer 1953 gegründeten Organisation, die einen Gottesstaat verwirklichen will, in dem „das islamische Recht in allen Bereichen zur Anwendung“ komme. In Deutschland wurde die Hizb-ut-Tahrir schon 2003 verboten.

Ab Ende der 1990er Jahre wurde festgestellt, dass die Predigten in gewissen Moscheen radikaler wurden und die Stimmung aggressiver. In strafrechtlich relevanter Hinsicht verhielten sich islamistische Kräfte aber großteils „unauffällig“, womit für polizeiliches Einschreiten die Grundlage fehlte. Während nach 2001 in anderen westlichen Ländern aktiv an der Identifizierung und Zerschlagung radikal-islamistischer Netzwerke gearbeitet wurde, blieb es in Österreich bei stiller Beobachtung – „nach dem Motto: Die Aktivisten sollen sich anständig benehmen und die Alpenrepublik mit Anschlägen verschonen, dafür stellen die Behörden ihren Vereinen nicht nach“, meinte „profil“ 2004. Solche Absprachen stellte der damalige Leiter des BVT, Gert Rene Polli, entschieden in Abrede: „So etwas mag es in den siebziger Jahren gegeben haben, aber das ist lange her. Heute wäre das nicht denkbar. Die Terrorismusbekämpfung funktioniert im internationalen Verbund. Wenn es da ein Vakuum gäbe, wäre der politische Druck auf Österreich enorm. Wir sind ein kleines Rädchen in der riesigen Maschine zur Bekämpfung des Terrorismus. Wir können es uns nicht leisten, abseits zu stehen.“ Man gehe bewusst einen anderen Weg als beispielsweise Deutschland: „Wir sperren die Leute nicht aufgrund einer nebulosen Verdachtslage ein, wir starten keine medienwirksamen Aktionen, sondern agieren auf Basis einer sicheren Beweislage.“

Danach gefragt, ob dieser österreichische Weg nicht „ein wenig defensiv“ sei, antwortete Polli: „Man muss differenzieren. Dass wir keine medienwirksamen Aktionen machen, heißt nicht, dass wir nicht hoch aktiv sind. Ich bin allerdings überzeugt, dass die Zukunft der Terrorismusbekämpfung in der Prävention liegt.“ Der Dialog zwischen den Behörden und den Religionsgemeinschaften rechne sich längerfristig: „Je mehr man aufeinander zugeht, Verständnis für einander entwickelt, umso geringer die Chance, dass sich hier radikale Elemente ansiedeln. Ich möchte aber alle Hoffnungen auf eine heile Welt zerstreuen. Terrorismus ist nicht berechenbar. Konzepte, die gestern gewirkt haben, können morgen überholt sein.“

Tatsächlich hatten sich in Wien, Oberösterreich, der Steiermark und in Salzburg radikal-islamistische Milieus verfestigt. Diese waren laut dem deutschen Experten Guido Steinberg auch über den österreichischen Kontext hinaus einflussreich. So sollen die afghanischen Brüder Jamaluddin Qarat und Farhad Qarat, in Wien lebende Österreicher afghanischer Herkunft, die Ersten gewesen sein, die den salafistischen Jihadismus öffentlich vertraten und bei dessen Transfer nach Deutschland eine wichtige Rolle spielten. Beide standen in engem Kontakt zu dem bosnischen Imam Nedzad Balkan, der ebenso wie der einflussreiche Prediger Abu al-Khattab in der Sahaba-Moschee in der Lindengasse Nr. 1, unweit der Wiener Stiftskaserne, wirkte. Die Sahaba-Moschee besuchte auch Mohamed Mahmoud, ein 1985 geborener Österreicher mit ägyptischen Wurzeln, der nach Verbüßung einer Haftstrafe 2011 in Berlin „Millatu Ibrahim“ gründete, die erste Jihad-Bewegung in Mitteleuropa. Weiters gilt die bosnische Salafisten-Gemeinde in Wien als Zentrale ähnlicher Gruppen auf dem Balkan, die von der Bundeshauptstadt aus strategisch, logistisch und finanziell unterstützt werden.

Eine besorgniserregende Entwicklung stellt der „Jihad-Tourismus“ dar, der seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs (2011) und dem Erstarken des Islamischen Staats (IS) im Irak und in Syrien eingesetzt hat: Nach Angaben des Innenministeriums von Ende 2015 zogen bis dahin 250 Personen aus Österreich als Freiwillige in die Konfliktgebiete im Nahen Osten. 70 von ihnen sind bereits zurückgekehrt, 40 wurden getötet. Im westeuropäischen Vergleich lag Österreich damit prozentuell im Verhältnis zur Bevölkerung gesehen hinter Belgien und Dänemark auf den vordersten Plätzen bei den Jihad-Freiwilligen. Einerseits erklärt sich dieser Umstand damit, dass es von Österreich verhältnismäßig einfach ist, in die Konfliktgebiete im Nahen Osten zu gelangen. Eine wichtige Route führt Jihad-Freiwillige über Bosnien in die Türkei, um dann dort entlang der 800 km langen Grenze in Syrien einzusickern. Andererseits weisen die österreichischen Jihad-Freiwilligen eine spezifische Zusammensetzung auf: „Bei einem wesentlichen Teil der aus Österreich nach Syrien reisenden Personen handelt es sich um österreichische Staatsangehörige, deren Familien aus Südosteuropa und der Westbalkan-Region stammen. Personen mit fremder Staatsbürgerschaft (insbesondere Personen aus der Kaukasus-Region), welche über einen gültigen Aufenthaltstitel in Österreich verfügen, stellen den größten Anteil.“ 

Hierbei handelt es sich vor allem um Tschetschenen. Erklärt wird dieser Umstand mit traumatisierenden Erfahrungen infolge von zwei Kriegen, dem Erstarken des radikalen Islamismus in der autonomen russischen Teilrepublik, sozialen Problemen und der „Macht des Internets“. Österreich ist eines der Zentren der tschetschenischen Diaspora: Laut Schätzungen (2014) leben 30.000 Flüchtlinge hier. Vor allem die Jihad-„Rückkehrer“ stellen laut BVT ein „erhebliches Sicherheitsrisiko“ dar: „Rückkehrer könnten für Missionierungstätigkeiten sowie für die Gründung neuer radikaler Zentren, in denen sie als Instruktoren fungieren können, auf europäischem Boden verwendet werden. Neben der Möglichkeit eines Anschlags seitens der Rückkehrer als sogenannte ‚Lone Wolves’ [häufig selbst-radikalisierter Einzeltäter] wird auch die Gefahr organisierter terroristischer Anschläge als mögliches Szenario bewertet.“

Ende November 2014 wurde die bislang größte Razzia gegen radikale Islamisten in Wien, Graz und Linz durchgeführt. 900 Beamte waren beteiligt, es gab 13 Festnahmen und Hausdurchsuchungen. Das offensive Vorgehen der Sicherheitskräfte markierte nach Meinung von Beobachtern einen Wendepunkt: „Österreich ist nicht länger der gut beheizte Wartesaal für Propagandisten, Krieger und Terroristen, sondern ein ganz normaler europäischer Staat, der gegen Bedrohungen nach einigem Zögern durchaus mit Härte vorgeht. Das ist ein Bruch der bisherigen Tradition, die Chimäre Neutralität auch gegenüber politischen Bewegungen mit terroristischem Arm anzuwenden und sich möglichst aus allem herauszuhalten. Dass eine österreichische Einrichtung Ziel eines Anschlags werden könnte, ist nicht mehr unwahrscheinlich. Das sollte die Regierung ohne jede Hysterie auch sagen. Mit diesem Freitag [dem Tag der Razzia, Anm. des Verfassers] wurde das Land möglicherweise sicherer, psychologisch gilt das aber wohl nur bedingt.“ 2014 wurden zehn Personen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt und eine verurteilt. Im Halbjahr 2015 kamen bereits 21 Anklagen hinzu, 16 Personen wurden verurteilt. Damit geht die Justiz in Österreich härter gegen Terrorismus-Verdächtige vor als in vielen anderen EU-Ländern.

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