Dienstag, 31. Dezember 2013

"Die Österreicher haben nicht reagiert": Technologiespionage im Kalten Krieg - die Wiener Residentur, Teil III

Aus:
Die „Wiener Residentur“ der Stasi – Mythos und Wirklichkeit, erschienen in: 
JIPSS (Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies), Vol. 7, No. 2/2013, 89-113.

Heftbestellung unter: http://www.acipss.org/journal


Interview mit Werner Stiller, 11. Mai 2013:

Der ehemalige Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Werner Stiller, flüchtete 1979 in den Westen. Er brachte die Causa rund um die Wiener Residentur ins Rollen.  Im Rahmen seiner Memoiren „Im Zentrum der Spionage“ (1986) sowie in „Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten“ (2010) hat Stiller auf die Ereignisse Bezug genommen. Stiller gilt bis heute als „die einzige westliche Quelle von Bedeutung in der Stasi“.

Frage (F): Welche Bedeutung hatte Technologiespionage für den Ostblock?
Antwort (A): Die politische Spionage hat ja nicht viel gebracht – aber die Technologiespionage, die hat viel gebracht. Allerdings war das auch ein zweischneidiges Schwert: Wir konnten viel beschaffen und haben viel beschafft, nicht alleine Mikroelektronik, sondern auch aus den Bereichen Chemie und Biologie. Aber der Osten ist auch auf falsche Fährten gelockt worden. Zum Beispiel war die Mikroelektronik, die aus der Wiener Residentur bezogen wurde, hochpotent. Aber der Osten war wirtschaftlich nicht dazu in der Lage, etwas daraus zu machen. Das ging völlig über Köpfe und Fähigkeiten hinweg und hat damit entscheidende Ressourcen gekostet. Was Elektronik und dergleichen anging, hinkte die DDR wenigstens zehn Jahre hinterher. Man konnte in den Laboratorien nicht einmal die Luft sauber genug machen, um Chips zu produzieren. 

F: War der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) des MfS innerhalb des Warschauer Pakts führend in der Beschaffung von Technologie?
A: Wenn man die Sowjetunion außer Acht lässt, dann sicher. Was die Russen genau konnten, weiß ich nicht, aber ich hatte immer das Gefühl, wir sind besser. Der KGB war hinter allem, das wir beschafft haben, her wie der Teufel hinter der armen Seele.

F: Die gestohlene Mikroelektronik wurde zur Aufrüstung von östlichen Waffensystemen verwendet?
A: Das stimmt sicher zum großen Teil. Waffen und Prototypen wurden über alle möglichen Umwege geliefert. Die Russen waren einfach nicht der Lage, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Die hingen praktisch am Tropf der Spionage.

F: Welche Rolle spielte Österreich in diesem Zusammenhang?
A: Es war der neutrale Tummelplatz für alle Beteiligten. Die anderen Neutralen – Finnland oder Schweden – haben nie diese Bedeutung gehabt. Es gab Flugverbindungen aus der DDR und aus Moskau nach Wien. Von dort aus konnte man leicht weiterreisen – die österreichischen Kontrollorgane waren nicht besonders eifrig, haben sich um viele Dinge nicht gekümmert. Das wurde nicht nur vom Ostblock, sondern auch vom Westblock ausgenützt. Außerdem stand Spionage für eine ausländische Macht gegen eine ausländische Macht nicht unter Strafe. Das heißt, Österreich war ein Spielfeld, wo man machen konnte, was man wollte. Wenn wir unsere Agenten in den Westen geschickt haben, dann geschah das sehr oft über Österreich. Das Land war Transitpunkt, aber auch personeller Stützpunkt.

F: Die Bezeichnung „Wiener Residentur“ war innerhalb des MfS geläufig?
A: Das ist im Prinzip meine Schöpfung. Innerhalb der HVA oder des SWT wurde dieser Begriff nie geprägt. Ich kriegte dann mit der Zeit mit, wie groß und bedeutend das Ding war. Es war ja keine echte Residentur, denn eine solche Einrichtung hätte einen Leiter aus dem Gastland oder aus dem Land, das sie ausspionieren wollen, gehabt. So war es wohl bei der Wiener Residentur nicht. Das waren miteinander verknüpfte Agenten, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen, sich aber alle gegenseitig kannten und förderten. Zum Beispiel Rudi Wein: Der kam aus der kommunistischen Ecke. Proksch hingegen war bei weitem kein Kommunist. Aber die waren alle miteinander verbunden. Als mein Kollege Peter Bertag 1976 Weins Sohn Wolfgang auf der Budapester Margareteninsel angeworben hat, habe ich die erste konkrete Spur gekriegt. Weil ich wusste, dass sich Bertag mit jemand traf, habe ich ihm nachgespürt und beide zusammen gesehen. Ich bin dann an Wein drangeblieben und habe seine Autonummer notiert. Das war das erste fassbare Beweisstück.

F: War Proksch in einem formellen Agentenverhältnis mit dem MfS?
A: Ja. Das kann ich natürlich nicht schriftlich, aber so nachweisen: Laut dem Journalisten Pretterebner hing Proksch seit Anfang der 1950er Jahre mit dem KGB zusammen. Als er schon für den SWT gearbeitet hat, wurde er zu einem großen Teil von meinem Kollegen Peter Bertag geführt. Und dieser erzählte mir einmal, dass sein Agent – er wusste ja nicht, dass ich mittlerweile herausbekommen hatte, wer das war – im Jahr 1960 nach Moskau fliegen wollte und dann die innere Eingebung hatte, nicht zu fliegen. Bei Pretterebner ist das so dargestellt: Eine AUA-Maschine mit US-Diplomaten, die aus China kamen, ist am 26. September 1960 beim Anflug auf Moskau abgestürzt. Proksch, der auf der Passagierliste stand, wurde vorher gewarnt, nicht zu fliegen.[i] Der nächste Hinweis war: Bertag hat sich mit seinem Agenten in Prag getroffen, der ihn seinen teuren Sportwagen – einen Lamborghini oder Maserati – ausprobieren ließ. Das konnte nur Proksch gewesen sein. Der war ein Hans Dampf in allen Gassen. Da muss jemand schon Agent sein, wenn man ein derartig enges Verhältnis zu seinem Führungsoffizier hat. Die haben sich oft getroffen, mal in Prag, mal in Budapest. Das war nicht bloß ein Gelegenheitstechtelmechtel. Und Proksch hatte ja eine umfangreiche Akte in der HVA.

F: Wie haben die österreichischen Behörden auf ihre Enthüllungen reagiert?
A: Der BND hat das an die Österreicher weitergeleitet und die haben nicht reagiert. Es kamen mal Rückfragen, aber die waren relativ belanglos. Die Durchsuchungen kamen auf meine Initiative zustande, aber wahrscheinlich um abzudecken. Proksch und Wein waren ja vernetzt und bekannt – da wurde alles getan, um die Geschichte zu verwischen und runterzuspielen. Als ich dann zur CIA in die USA kam, war die Wiener Residentur das erste und das Hauptthema. Die haben bis ins kleinste Detail noch mal nachgebohrt. Einige Jahre später habe ich dann bei Goldman Sachs gearbeitet. Da hat ein führender CIA-Mitarbeiter meinem damaligen Chef gesagt, Amerika kann mir nicht genug danken, für das, was ich für dieses Land getan habe. Wobei – ich habe ja nichts getan, sondern nur erzählt. Aber das musste für sie eine große Bedeutung gehabt haben. Es war für sie von sehr großer Bedeutung, die Schlupflöcher für die Technologie zu stopfen. Später, so vermute ich, haben sie die Kanäle auch genutzt, um die Russen mit gezielten Fehlinformationen zu ärgern.



[i] Proksch hatte für den Moskau-Flug mit der AUA-Maschine „Joseph Haydn“ gebucht, „kehrte jedoch – nach einem kurzen Telefongespräch – noch in der Abflughalle wieder um und ließ sein Ticket verfallen“. Auf Nachfrage erklärte Proksch später immer wieder, dass es Intuition gewesen sei, die ihn in letzter Minute davon abgehalten habe, die Unglücksmaschine zu besteigen. Angeblich soll bei der Katastrophe, die 30 Todesopfer forderte, der KGB die Fäden gezogen haben, um in den Besitz des in der Maschine transportierten US-Geheimdienstmaterials zu kommen. Vgl. Pretterebner, Fall Lucona, 37-40.

Montag, 30. Dezember 2013

Neues von den „Technobanditen“ - die Wiener Residentur, Teil II

Ausführlicher Artikel mit weiteren, neuen Informationen unter:
https://www.academia.edu/5557931/Die_Wiener_Residentur_der_Stasi_-_Mythos_und_Wirklichkeit


Sie trugen die Decknamen „Prokurist“ und „Sander“ – Topspione der Stasi in Österreich. Neue Dokumente beleuchten einen der spektakulärsten Spionagefälle des Kalten Krieges rund um Technologieschmuggel – mit von der Partie: Udo Proksch.

Er war ein Spion, „der aus der Kälte kam“: 1979 setzte sich Stasi-Oberleutnant Werner Stiller in den Westen ab. Seine Flucht aus der DDR war ein Coup. Denn mit brachte Stiller nicht nur Insiderwissen, sondern darüber hinaus 20.000 Seiten abfotografierter Geheimdokumente. Der Informationsschatz legte einige der wichtigsten Geheimstrategien des Ostblocks offen: Durch großangelegte Wissenschafts- und Industriespionage an westliches Hightech und Know-how heranzukommen – vorbei an einem 1951 verhängten Embargo.

Österreich, direkt am „Eisernen Vorhang“ gelegen, spielte bei diesem illegalen Technologietransfer eine besonders wichtige Rolle. Nach der Wende 1989 gab Stasi-General Markus Wolf unumwunden zu, dass „kleinere österreichische Firmen“ der DDR geholfen hätten, „die amerikanischen Embargobestimmungen zu umgehen“. Ein geheimer Komplex stach dabei besonders hervor: Die sogenannte „Wiener Residentur“, laut Stiller eine regelrechte „DDR-Geheimdienstkolonie“. Das 1977 gestartete Mikroelektronikprogramm der DDR soll auf der „Ausbeute“ der darin zusammengefassten Agenten beruht haben. Diese kauften oder stahlen alles, was sie an Unterlagen, Mustern und Einzelteilen bekommen konnten. Der wirtschaftliche Schaden für den Westen soll „immens“ gewesen sein, so Stiller. Schon in den 1980er Jahren hatten US-Autoren passenderweise von den „Technobanditen“ gesprochen.

Wer und was verbarg sich genau hinter der „Wiener Residentur“? Zunächst einmal bestand seit 1969 in der Apollogasse die Rudolf Sacher Ges.m.b.H. Die Firma des Physikers Sacher hatte von Anfang an enge DDR-Verbindungen. Über eine in den USA eröffnete Tochter, die Semiconductor Systems International, wurde Mikrotechnologie nach Österreich exportiert. Im Rahmen eines Firmenkonglomerats war Sacher weiters eng mit zwei schillernden „Stars“ der Wiener Promiszene verbunden: Rudi Wein, Inhaber des Cafes „Gutruf“ und Udo Proksch, damals vor allem als Designer, Besitzer der Hofzuckerbäckerei Demel und Mitgründer des berüchtigten „Club 45“ bekannt. Proksch hatte selbst als Osthändler begonnen: Seine erste Firma, Kibolac, lieferte Plastik- und Elektronikprodukte hinter den „Eisernen Vorhang“. Wein war an der Gründung beteiligt.

Als Stasi-Technologiespione ins Gespräch gebracht wurden Proksch und Wein schon 1979 vom Überläufer Stiller. Dieser nannte Namen zahlreicher „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi im Westen, darunter auch in Österreich. Stiller zufolge war Rudi Wein (alias IM „Prokurist“) Drahtzieher der „Wiener Residentur“. Anders als in der BRD, wo es umgehend zu Verhaftungen kam, wurde die Staatspolizei verspätet aktiv. Die am 1. Februar 1979 durchgeführten Hausdurchsuchungen erbrachten jedoch nichts. Kein Wunder – man hatte nicht in Sachers Firma, sondern an dessen Privatadresse gesucht und nur das private Telefonverzeichnis sichergestellt. Gut möglich, dass die Spione längst vorgewarnt waren – von einem gut platzierten Stasi-„Maulwurf“: Dem Staatspolizisten Gustav Hochenbichler, alias IM „Bau“.

Sacher stellte sich als „normaler“ Osthändler dar: „Man wirft mir vor, dass ich ein DDR-Spion bin, weil ich Geschäfte mit der DDR mache. Ist jeder, der Geschäfte mit der DDR macht, ein DDR-Spion?“ Auch Proksch dementierte heftig: „Ich bin kein Spion, ich bin ein neutraler Österreicher, ich bin der Meinung, dass Handel und Wandel mit dem Osten genauso betrieben soll wie mit dem Westen.“

1980 befragte der Bundesnachrichtendienst (BND) Stiller noch einmal zur Materie. Die Ergebnisse leitete man an das österreichische Innenministerium weiter. „Doch die Verbindungen von Proksch und seinen Freunden reichten offenbar so weit nach oben, dass danach nichts geschah. Ganz im Gegensatz zu den vielen Verhaftungen in der Bundesrepublik ist in Österreich nicht ein einziger MfS-Agent belangt worden“, beklagt Stiller erst kürzlich in seinen Memoiren (Der Agent, 2010). Gab es für diese Nachlässigkeit vielleicht politische Motive? Ende 1980 besuchte die „graue Eminenz“ der DDR, Erich Honecker, Österreich. Es war sein erster Staatsbesuch im Westen. Im Rahmen der Visite wurde ein Auftrag über 2,3 Milliarden DM an die VOEST zur Errichtung eines Stahlwerks in Eisenhüttenstadt unterschrieben. Kann es sein, dass man auf eine effektive Verfolgung der Spione verzichtete, um diesen wichtigen Deal für die krisengeschüttelte Verstaatlichte nicht zu gefährden?

1991, nach dem Fall der Mauer, flüchtete sich Stasi-General Wolf kurzfristig nach Österreich. Er gab zu, dass die Firma Sacher von seinem Dienst als „nachrichtendienstliche Spitzenquelle“ gewertet wurde. Daraufhin sei klar gewesen, dass die Angaben des Überläufers Stiller „alle gestimmt haben“, meinte dazu Staatspolizei-Chef Oswald Kessler. Belangen konnte man niemanden mehr, die Fälle waren verjährt.

Klartext „spricht“ auch ein Dokument der Stasi von 1979: Penibel werden darin alle Quellen aufgelistet, die der „Verräter“ Stiller gefährdete. So auch IM „Prokurist“ unter seinem eigentlichen Namen: „Wein, Rudolf – österr. Staatsbürger, […]. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik. Abdeckung durch Aktivitäten mit Außenhandelsbetrieben der DDR. Der IM konnte die inoffizielle Arbeit durch seine offizielle Geschäftstätigkeit mit DDR-Organen abdecken.“

Kurz nach der Wende 1989 wurde ein Großteil des Aktenbestands zur DDR-Auslandspionage noch rechtzeitig in den Reißwolf gesteckt. Deshalb ist es bis heute schwierig, die genauen Hintergründe der „Wiener Residentur“ aufzuklären. Zumindest eine wichtige Quelle steht zur Verfügung. Die 1998 entschlüsselte Datenbank SIRA, auch das „Pharaonengrab der Stasi“ genannt. Die darin enthaltenen Informationen sind kurz, aber aussagekräftig: IM-Decknamen sowie Zeitpunkt, Art, Umfang und „Benotung“ der von ihnen gelieferten Informationen.

Diese SIRA-Dokumente werfen neues Licht auf die Geschichte der „Technobanditen“ – vor allem ist ersichtlich, wie umfassend der Informationsfluss hinter den „Eisernen Vorhang“ wirklich war: Zwischen 1969 und 1978 war alleine IM „Sander“ Quelle von 329 Einzelinformationen. IM „Prokurist“ kam im selben Zeitraum auf 75. Gleich ob es um die Apollo 11-Raumfahrtmission ging oder um Know How in Sachen Halbleitertechnik, Transistoren, integrierter Schaltkreise oder Gaschromatographen, die Wiener Spione beschafften, was die DDR benötigte.

Das Überlaufen Stillers und die Nachforschungen der Staatspolizei ließen die „Wiener Residentur“ keineswegs verstummen: Nach nur einem Jahr „Pause“ wurde die Spionagetätigkeit, wenn gleich reduziert, wieder aufgenommen. IM „Sander“ besorgte unter dem neuen Decknamen „Wendel“ noch bis 1984 Spitzeninfos. So etwa einen Forschungsbericht zu Mikroelektronik im Umfang von 1585 Seiten. Die Stasi war begeistert: „Material ist von hoher strategischer Bedeutung. Es unterstützt maßgeblich Erzeugnisentwicklung und Verfahrensentwicklung und festigt Forschungsverlauf. Es erspart Recherchekapazität und führt zu einem hohen volkswirtschaftlichen Nutzen.“ Im selben Jahr lieferte „Wendel“ zwei weitere mit Bestnote bewertete technische Berichte: „Material entspricht Informationsbedarf, unterstützt Verfahrensentwicklung und hilft Entscheidungen vorzubereiten.“ Empfänger war in den meisten Fällen das Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik in Dresden, High Tech-Herzstück der DDR.

Auch „Prokurist“ war noch bis 1985 für die Stasi tätig – unter dem neuen Alias „Richter“. Der Spion reichte unter anderem ein Verzeichnis von Handelshäusern weiter, die keine Exportlizenzen der US-Regierung erhielten sowie eine Liste von Waren, die vom Embargo betroffen waren. „Thema ist von außenwirtschaftlicher Bedeutung, Unterlage ist internes Überblicksmaterial“, merkte die Stasi an. „Richter“ beschaffte weiteres hochbrisantes Material – etwa zu „Aktivitäten eines vermutlichen BND-Agenten in der Volksrepublik Polen“ sowie zur Kontrolle des Technologietransfers in Österreich. „Richter“ war auch die Quelle eines Berichts zu „Medien“ und „Feindtätigkeit“. Als „Personen-Hinweis“ wird in diesem Zusammenhang kryptisch der Osteuropa-Korrespondent Paul Lendvai genannt.

Als dann Österreich Anfang der 1980er Jahre aufgrund von massivem US-Druck seine Außenhandelsbestimmungen verschärfte, läutete dies das Ende der „Wiener Residentur“ ein. 1984 wurde die Firma Rudolf Sacher Ges.m.b.H liquidiert. Zuvor waren noch sämtliche Maschinen und Einrichtungen abgebaut und von der staatlichen DDR-Transportfirma mitgenommen worden.

Und Udo Proksch? War auch er ein Ostspion? Schon Ende der 1970er Jahre waren Fahnder in den Unterlagen der  US-Tochterfirma Sachers auf eine mysteriöse Telefonnummer gestoßen: 661717, einen Anschluss der Demel-Zuckerbäckerei. Aus den SIRA-Daten ergibt sich darüber hinaus kein Hinweis für eine  formelle Stasi-Tätigkeit. Lapidare Erklärung einer Expertin: Proksch sei den Geheimdienstlern einfach „zu skurril“ gewesen.

Technologietransfer
Ab Mitte der 1960er Jahre sahen die Sowjetunion und ihre Satelliten ein, dass sie im Bereich Hochtechnologie gefährlich hinterherhinkten. Die pragmatische Lösung für dieses Problem: Wo es nicht möglich war, westliche Lizenzen und Patente zu legal erwerben, wurde dieses Wissen eben von Spionen beschafft. Der Einsatz der „Schlapphüte“ war vor allem im besonders kritischen Bereich der Mikroelektronik von Nöten: Seit 1951 war der Export solcher Technologie in den kommunistischen Osten verboten.

Die Lösung: Über ein Netzwerk aus Export-Import-Unternehmen, Investitionsbüros und Laboratorien wurden westliche Informationen und Technologien ausgespäht und beschafft. Auf diese Weise ersparte sich der Ostblock nicht nur Milliarden an Entwicklungskosten, sondern konnte beispielsweise eigene Waffensysteme mit westlichen Mikrochips, Halbleitern, Computersteuerungen oder Motoren aufrüsten. Eine besondere Rolle spielte dabei das neutrale Österreich: Anfang der 1980er Jahren galten den USA insgesamt 100 Unternehmen verdächtig, in Technologietransfer verwickelt zu sein.

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Die „Wiener Residentur“ der Staatssicherheit – Mythos und Wirklichkeit, Teil I

Erschienen in: JIPSS (Journal for Intellligence, Propaganda and Security Studies), Nummer 2/2013, S. 89-113. http://www.acipss.org/wp-content/uploads/Jipss_V7N2_extract.pdf

Auszug:

Bis heute handelt es sich um eine der abenteuerlichsten Geschichten aus Schattenwelt des Kalten Krieges in Österreich:  Die sogenannte „Wiener Residentur“. Eine Gruppe Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) soll Ende der der 1970er Jahre das Hochtechnologie-Programm der DDR mit embargogesperrten Informationen und Know-how aus dem Westen „gefüttert“ haben. Schon in den 1980er Jahren sprachen britische und US-amerikanische Journalisten deswegen von den Wiener „Technobanditen“, die dem Westen im Kalten Krieg durch illegalen Technologietransfer großen Schaden zugefügt hätten. Bislang konnte jedoch nur spekuliert werden: Hat die Wiener Residentur in dieser Form tatsächlich existiert? Was genau wurde verraten? Und wer war darin verwickelt - Udo Proksch? Szenewirt Rudi Wein?

Die Beantwortung dieser Fragen gestaltet sich vor allem aufgrund der dürftigen Quellenlage schwierig. So ist der Aktenbestand im Wiener Staatsarchiv, der die Ermittlungsakten der Staatspolizei enthält, noch bis mindestens in die 2020er Jahre gesperrt. Viele der Unterlagen des MfS sind dagegen in der Berliner Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) für die Forschung zugänglich – jedoch klaffen gerade im Bestand der für Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) große Lücken. Die HVA hatte sich in den Wirren der Wende 1989/1990 ein Sonderrecht ausgehandelt: Während alle anderen MfS-Abteilungen ab Januar 1990 aufgelöst wurden, betrieb die HVA bis Juni 1990 ihre Abwicklung selbst. Sie nutzte die Gelegenheit und vernichtete ihr Archiv fast vollständig. Auch die Karteikarten der HVA wurden aus der Zentralen Personenkartei des MfS entfernt. Zumindest ein Quellenbestand, der erhalten blieb und 1998 entschlüsselt wurde, ermöglicht Rückschlüsse auf die Wiener Residentur: Die „SIRA“-Datenbank, auch das „Pharaonengrab“ („Der Spiegel“) genannt. Bei SIRA – dem „System zur Informationsrecherche der HVA“ handelt es sich um das Inhaltsverzeichnis der gesamten Auslandsspionage von 1969 bis 1987, insgesamt 180.564 Datensätze. Aufgelistet sind die Decknamen der Inoffiziellen Mitarbeiter im Westen sowie Zeitpunkt, Art, Umfang und „Benotung“ der von ihnen gelieferten Informationen. Da die Dokumente, auf die sich diese Angaben beziehen, aber zum Großteil nicht mehr existieren, ist der Aussagewert beschränkt. Zumindest ermöglicht die Auswertung der relevanten SIRA-Daten zur Wiener Residentur eine Übersicht Art und Umfang der an die HVA gelieferten Informationen und werden deshalb im Rahmen dieses Artikels erstmals aufbereitet.

Was die bislang erschienene Literatur zur Wiener Residentur betrifft, so ist vor allem Hans Pretterebners Buch „Der Fall Lucona“ (1989) herauszustreichen, das zum Teil auf vorangegangene Recherchen durch den „Wochenpresse“-Journalisten Gerhard Freihofner aufbaut. Allerdings ist Pretterebners Argumentation nicht nur wegen der deutlichen politischen Schlagseite bis heute umstritten und daher nur bedingt als zeithistorische Quelle geeignet. Darüber hinaus hat vor allem der ehemaligen MfS-Offizier Werner Stiller, der 1979 die Causa rund um die Wiener Residentur ins Rollen brachte, im Rahmen seiner Memoiren ("Im Zentrum der Spionage“, 1986)  sowie in „Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten“ (2010) auf die Ereignisse Bezug genommen. Stiller gilt bis heute als „die einzige westliche Quelle von Bedeutung in der Stasi“. Von ihm stammt auch die Bezeichnung „Wiener Residentur“ – weder das MfS, noch die Beteiligten selbst verwendeten diese.

Abgesehen von der Sekundärliteratur und den SIRA-Daten baut dieser Artikel vor allem auf Interviews mit Zeitzeugen – darunter Werner Stiller. Was die inhaltliche Gliederung betrifft, so wird zunächst auf die Rahmenbedingungen eingegangen: Die Bedeutung von Technologietransfers im Kalten Krieg und die daraus resultierenden Konflikte zwischen Österreich und den USA in den 1980er Jahren. Danach wird der Kenntnisstand zur Wiener Residentur vorgestellt – ergänzt durch die neuen Informationen aus den Zeitzeugen-Interviews und der SIRA-Abfrage durch den Autor im Jahr 2011.

Weitere Infos folgen....

Dienstag, 17. Dezember 2013

"Angst vor Terror, Angst vor Kernkraft"

Auszüge aus dem Staribacher-Tagebuch zur Palmers-Entführung/Linksterrorismus

Am Abend des 9. November 1977 war der Wiener Textilindustrielle Walter Palmers vor seinem Haus in Währing in ein Auto gezerrt und 100 Stunden lang in einer Wohnung in Mariahilf gefangen gehalten worden. Seine Familie zahlte mehr als 30 Millionen Schilling (2,18 Mio. Euro) Lösegeld. Die Entführung diente der Bewegung 2. Juni als Geldbeschaffungsaktion. Kurz zuvor, am 5. September 1977, hatte die Rote Armee Fraktion in der BRD den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt und diesen später ermordet. Dies schürte in Österreich Sorgen vor einem Übergreifen des Linksterrorismus. Als wichtigste Konsequenz wurde der Aufbau des Gendarmerieeinsatzkommandos, der heutigen „Cobra“, veranlasst. 

Weitere Infos zum Thema unter:
http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_EKO_Cobra/publikationen/files/Aufbau_ATK.pdf


Das Tagebuch von Handels- und Industrieminister Josef Staribacher [einsehbar in der Stiftung Bruno Kreisky Archiv] ermöglicht einen Einblick in diese dramatischen Monate:

12. 9. 1977:
Nach dem morgigen Ministerrat erwartet er [Bundeskanzler Bruno Kreisky], dass die Presse ihm fragt, wie es jetzt in Österreich mit dem Terrorismus weitergehen wird. Insbesondere steht noch das oberstgerichtliche Urteil über die Terroristin Boock [Waltraud Boock, 1976 nach Banküberfall in Wien verhaftet] aus. Er meint Lanc müsste sich jetzt den Kopf zerbrechen, wie wir gegebenenfalls Maßnahmen in Österreich treffen, die sich von den deutschen wesentlich unterscheiden müssen. Vielleicht ist es zweckmäßig, sowie bei der Gendarmerie auch bei der Polizei eine besondere Abteilung für Terrorbekämpfung zu errichten. Jetzt gibt es eine Welle für die Todesstrafe. Er meint politisch wirksam ist aber nur ein Gegenstromsystem, d.h. über dieses Problem dürfe man dann erst diskutieren, keinesfalls aber die Todesstrafe propagieren bis dieser Terror in Deutschland abgeflaut ist.

Meldung der Arbeiterzeitung vom 11. 11. 1977 (www.arbeiter-zeitung.at)
14. 11. 1977:
Lanc [Erwin Lanc, Innenminister 1977-1983] wird aufgefordert, über die Entführung Palmers zu referieren und ist sehr zurückhaltend mit seinen Informationen. Der Sohn, der das Geld übergeben hat, verweigert teilweise die Aussage und wenn er Informationen gibt, so sind sie unvollständig. Lanc erklärt, das Wiener Sicherheitsbüro muss jetzt mittags eine Pressekonferenz machen, weil die Mitarbeit der Bevölkerung verlangt wird  Kreisky bemerkt, ohne Lanc kritisieren zu wollen, wie er feststellt, dass der österreichische Apparat nicht maximal ist. Die jetzigen Schutzvorschriften gefährden nur junge Leute, die z.B. jetzt zu seinem persönlichen Schutz abkommandiert sind. Was unbedingt verhindert werden muss, ist dass wie in Deutschland die Schutzbedürfnisse dann einen Kontakt der Politiker mit der Bevölkerung verhindert wird. [...] Ob eine politische Aktion dahintersteht, muss erst geprüft werden. Ein gewisser Terrorist Sonnenberg [Günter Sonnenberg] sei vor etlicher Zeit im Hilton abgestiegen, die große Gefahr ist, dass der Mann von der inhaftierten Terroristin Boock [Peter Jürgen Boock], der der übelste Terrorist sein soll, eine Befreiung versuchen wird. Auch in Prag werden jetzt neue Terroristen ausgebildet. Kreisky wird dort als der Hüter des Zionismus hingestellt.

18. 11. 1977:
Nach dem Essen hat Kreisky beim Kaffee den Ministerpräsidenten über die Palmers-Entführungsaffäre einige Informationen gegeben, weil Kreisky davon überzeugt ist, dass der Terror weitergehen wird. Kreisky erwartet die Befreiung von der bei uns inhaftierten Terroristin Boock. Da er mit Palmers eine Aussprache gehabt hat, glaubt er allen Ernstes jetzt besser informiert zu sein als die Polizei und auch die Untersuchung nach seinem dafürhalten anders führen zu müssen. Ich bin überzeugt dass die Polizei nicht nur alle diese Details, die ja auch nicht weiterhelfen schon weiß, ich bin auch überzeugt, dass sie mit allen zur Verfügung stehenden Mittel die sicherlich aber unzulänglich sind, bestrebt ist, den Fall zu lösen. In der Politik, ob Innen, Polizei, ob Außenpolitik usw. kann Kreisky mit seiner Autorität natürlich immer eine Theorie vertreten, die niemand widerlegen kann. Erst bis der Fall eintritt - oder nicht eintritt - kann man dann die Richtigkeit seiner Theorie bestätigt finden. Da dies aber, wenn überhaupt, zeitlich spät erfolgt, ist eine Kontrolle kaum möglich. Die Oppositionspartei, die dies genau verfolgen müsste, versagt zu unserem Glück in dieser Hinsicht vollkommen. Kreisky hat deshalb die Möglichkeit durch Andeutungen schon immer irgendetwas vorauszusagen, was in manchen Fällen dann zutrifft.

19. 10. 1977:
Das Referat Kreiskys war dem Terror gewidmet, nachdem er einleitend die ÖVP als kleinbürgerliche Partei charakterisiert hat. Ursache und Ausgangspunkt dieser Terrortätigkeit war die seiner zeitige Studentenrevolution Dutschkes und Cohn-Bendit. Die geistigen Väter waren absonderliche Gelehrte, die APO [Außerparlamentarische Opposition] in weiterer Folge, die Kontinuität, diese macht entweder den langen Marsch durch die Institutionen der Partei und Gewerkschaften oder werden Anwälte und Manager. Ein kleiner Teil davon landet aber im Faulbett des Anarchismus. Dort wird nichts mehr nachgedacht, wie man etwas verbessern kann sondern es entscheidet nur mehr die Tat. Anarchisten hat es zu jeder Zeit gegeben, die Sozialdemokratie muss unerbittlich gegen den Terror auftreten. Die Demokratie muss sich gegen das Wiederaufleben des Faschismus, Terrorismus mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln wehren.

28. 11. 1977:
Bock und insbesondere jetzt der neue Menschenraub zeigt Ansätze zum Terrorismus. Einzelne Intellektuelle wie Hrdlitschka beginnen jetzt als Sympathisanten zu wirken. Der Bildhauer hat jetzt überall einen gelben Sympathisanten-Stern ausgesendet. Im Forum sind einige tätig und Kreisky warnt deshalb und meint, der linke Rand der SPÖ müsste reingehalten werden. Kepplinger und Gratt [die Studenten Othmar Kepplinger und Thomas Gratt waren an der Entführung von Palmers beteiligt] seien nicht auf Grund der österreichischen Leistungen von Sicherheitsorganen verhaftet worden, sondern ausschließlich durch Zufall in der Schweiz. Terroristen sollen und wollen Menschenraub nicht als ihre Aktion deklarieren. Da brauchen sie nur das Geld und womöglich keine Publicity. […] Auf Aufforderung Kreiskys musste Lanc wieder über die Palmers-Affäre berichten. Einige Sätze, dass die Wahrnehmung Palmers, dass ein Deutscher beteiligt ist, stimmen dürfte, die Organisation aber bei Österreichern lag. Lanc ist ungeheuer zurückhaltend, spricht noch langsamer als Kreisky und will nichts sagen. Andererseits sagt er auch nichts gegen die Behauptung Kreiskys, dass die österreichischen Sicherheitsorgane versagen.

10. 1. 1978:
Lanc berichtete dann über seine Maßnahmen für die Terror-Bekämpfung Kreisky ist fest davon überzeugt, dass bei den zukünftigen Wahlen die Sicherheit, die Kernkraftwerke und die Wirtschaft die entscheidenden Wahlthemen und letzten Endes die Wahlentscheidung her beiführen wird. Bei Sicherheit will Lanc die entsprechende Aufstockung des Gendarmeriebegleitkommandos [wurde später in Einsatzkommando Cobra umbenannt] von 44 auf  127 - mit den Beamten für das neue Areal werden insgesamt 138 – zur Verfügung stehen. Die Truppe soll nämlich aus dem Kasernenbereich herausgenommen werden und eine eigene Ausbildungs- und Aufenthaltsstätte bekommen.

16. 5. 1978:
Kreisky berichtet über die wachsenden Rechtsextremisten und meint, hier müsse mehr vom Rechtsstandpunkt aus geschehen. Hitler-Münzen können vertrieben werden und man hat keine Möglichkeit dagegen einzuschreiten. Überhaupt liegen wir wahnsinnig schlecht in der Rechtspolitik bei der Bevölkerung. Broda antwortet, dass die Grundsätze der Rechtspolitik ja einvernehmlich festgelegt wurden, was Kreisky nicht bestreitet. Die Gesetze reichen seiner Meinung nach voll aus, wir brauchen keine Sondergesetze wie in Deutschland. Kreisky befürchtet, dass, nachdem jetzt 3 Terroristen bereits in Österreich sind [gemeint offenbar: Boock, Gratt, Kepplinger] und noch Tiedemann [Gabriele Kröcher-Tiedemann] eventuell dazu kommt, dass dann der österreichische Terror beginnen wird, weil diese von den anderen befreit werden würden.

29. 5. 1978:
Lanc teilte mit, dass die  Minister jetzt von der Polizei kontaktiert werden, um notwendige Vorkehrungen zu treffen, wenn der Fall einer Entführung oder sonstigen Terroraktion eintritt man mehr über den Minister schon weiß. Kreisky hat mit Helmut Schmidt eine Aussprache gehabt über dieses Problem, denn er wurde auch durch einen Brief der RAF verständigt, dass alle, die mit Schmidt zu tun haben, seine Politik unterstützen, genauso verurteilt werden wie Schmidt selbst. Kreisky ist nach wie vor der Meinung, dass Boock und Kröcher-Tiedemann, wenn sie nach Österreich ausgeliefert werden sollten mit den zwei Österreichern, die man in der Schweiz verhaftet hat, sicherlich dann befreien wird. Er erwartete insbesondere diese Angriffe vom Mann der Boock, […]. Lanc meinte, eine Zielfahndung, wie sie in Deutschland besteht, ist in Österreich nicht möglich. dort wird auf jeden Terroristen ein eigener Beamter eingesetzt und ausschließlich zu dessen Aufstöberung eingesetzt. Lanc meint, das österreichische System der schachbrettartigen Überwachung wie z.B. bei den Bankrauben, sich sehr bewährt, müsste sich auch sonst durchführen lassen. Kreisky hatte wegen der Terrortätigkeit große Angst, dass die nächsten Wahlen für uns schlecht ausgehen. Die Bevölkerung fürchtet sich vor dem Kernkraftwerk, dazu kommt jetzt noch die Angst vor dem Terror und dies geht auf Kosten der soz. Wählerstimmen. Nach seiner Meinung verlieren wir wegen dieser Kombination. Angst vor Terror, Angst vor Kernkraft. 

Montag, 16. Dezember 2013

Die Geheimdienste und der Südtirolkonflikt - Teil 2

Abgesehen von dieser beträchtlichen Rolle italienischer Geheimdienste in Südtirol, waren auch östliche Dienste involviert. Südtirol wurde insofern zu einem Nebenschauplatz des Kalten Krieges. Für das strategische Interesse des Ostblocks gab es mehrere Gründe: Zunächst einmal fiel die virulenteste Phase des Südtirolkonflikts in den 1960er Jahren in den Kontext der Entkolonialisierung und der Auflösung der europäischen Kolonialreiche. Einige dieser Konflikte zogen sich bis an die europäische Peripherie hin. So hatten zionistische Gruppen bereits in den 1940er Jahren einen erfolgreichen Kampf gegen die britische Mandatsverwaltung in Palästina geführt. 1954 entzündete sich der Algerienkrieg, der sich bis 1962 hinziehen sollte und in einem Sieg der Nationalen Befreiungsfront (FLN) endete. 1960 war zudem Zypern nach mehrjährigem Guerillakrieg gegen die britische Besetzung unabhängig geworden – ein Beispiel, dem einige Südtiroler Aktivisten besonders nacheiferten. Die Sowjetunion hatte die Sache der „nationalen Befreiungsbewegungen“ generell substanziell unterstützt, um die westliche Position in der „Dritten Welt“ zu schwächen bzw. die neu entstandenen linksnationalistischen Regime in den eigenen Machtbereich hineinzuziehen. Im Falle Südtirols, eines ähnlich gelagerten ethnisch-nationalen Konflikts, wurde die Aufstandsbewegung nicht direkt unterstützt, auch wenn es angeblich Hilfsangebote gegeben hat.

Was die Situation in Südtirol aus Sicht des Ostblocks so speziell machte, war die neuralgische Lage in Westeuropa zwischen zwei Schlüssel-NATO-Staaten. Vor allem Italien war ein „Eckpfeiler“ im Mittelmeerraum. Darüber hinaus bildete der Südtiroler Grenzabschnitt zu Tirol und Kärnten im Norden eine Außengrenze der westlichen Allianz gegenüber dem neutralen Österreich, dem „weichen Bauch im NATO-Leib“. Mit dem angrenzenden Jugoslawien befand sich weiters der kommunistische Machtblock in unmittelbarer Nähe. Dieser strategischen Bedeutung Südtirols trug die NATO insofern Rechnung, indem sie zahlreiche Basen einrichtete. In der Nähe von Brixen, auf der Hochfläche von Natz-Schabs, befand sich seit dem Ende des 2. Weltkriegs ein US-Stützpunkt. Ab 1979, nach dem Nachrüstungsbeschluss, wurden in den dortigen unterirdischen Bunkern atomare Lance-Raketen deponiert. Im weiteren Umkreis befanden sich zudem wichtige NATO-Stützpunkte wie die Aviano Air Base (Atomwaffenlager) und das alliierte Streitkräfte-Kommando für Südeuropa (LANDSOUTH in Verona). Das Südtirol-„Problem“ hatte somit das Potential, sowohl zwischen die wichtigen NATO-Länder Italien/BRD, als auch zwischen Italien und dem neutralen Österreich Keile zu treiben. Letzteres Land war seit dem Pariser Abkommen (1946) die völkerrechtliche „Schutzmacht“ und hatte die „Südtirolfrage“ 1960 vor die UNO gebracht. Aber auch im süddeutschen Raum gab es viel Sympathie für die Sache der Südtiroler: Unterstützung kam beispielsweise von der bayrischen CSU und dem rechten FDP-Flügel um Josef Ertl, der als Agrarminister der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Helmut Schmidt angehörte. Ein „Mitmischen“ im Südtirolkonflikt bot dem Osten daher die Möglichkeit, einen „dauerhaften Krisenherd inmitten des Westens zu schüren“, so Michaela Koller-Seizmaier: „In dem Alpenland hatte sich erstmals ein Konfliktpotential westlich des Eisernen Vorhangs aufgestaut, das gleich mehrfach politische Implikationen in sich barg: Ein ethnischer Konflikt, verbunden mit der Eigendynamik eines geteilten Landes, die eine separatistische Ausrichtung mit sich brachte und somit eine Territorialfrage im Bereich der NATO aufwarf.“

Unglücklicherweise ist die Aktenlage zur Frühphase des Konflikts spärlich. Angeblich soll der BAS-Führer Georg Klotz 1960 sogar überlegt haben, in der sowjetischen Botschaft in Wien direkt Hilfe einzuholen, wie sich seine Tochter Eva erinnerte: „Er habe dann gesagt, ‚Nein mit den Kommunisten mich verbünden, das kann ich nicht als Tiroler, als wertkonservativer Mensch nicht tun’. Und so ist er dann nicht hineingegangen.“ 1967/68 soll sich dann der tschechoslowakische Geheimdienst an Klotz „herangemacht“ haben: „Ich kann mich ganz genau an den Typen erinnern. Wir waren mit unserem Vater in Absam im Exil in Nordtirol. Da ist dieser Robert aus Tschechien gekommen, der meinen Vater überzeugen wollte, man müsse zuerst eine Bank ausrauben, in Südtirol, um zu Geld zu kommen, dann müsse man einige italienische Kasernen stürmen.“ Zu dieser frühen Involvierung von Ost-Geheimdiensten existiert auch ein Dokument in den Beständen der Stiftung Bruno Kreisky Archiv. Der westdeutsche Journalist Herbert Lucht teilte dem damaligen Außenminister Kreisky 1963 brieflich mit: „Interessant mag vielleicht noch sein, dass Mittelsmänner der Sowjetischen Botschaft in Wien 1960 bereits, vor der ersten ‚Terrorwelle’ also, an die ‚Bumser’ herangetreten sein und ihnen finanzielle und auch materielle Unterstützung unter der Bedingung zugesagt haben sollen, dass sie ihre ‚Aktionen’ auch auf die in Südtirol befindlichen NATO-Basen ausdehnten. Sie hätten diese Forderung abgelehnt und seither die Feindschaft der Kommunisten gegen sich, die im ‚Südtiroler Freiheitskampf’ als dem einzigen ‚nicht ihre schmutzigen Finger hätten’.“

Josef Frolik, ein Überläufer des tschechoslowakischen Geheimdienstes Státní bezpečnost (StB), behauptete in seinen 1975 erschienen Memoiren sogar, dass die Terrorwelle in den 1960er Jahren von seinem Dienst unter erheblichen Aufwand direkt eingefädelt wurde: Eine große Zahl an Agenten sei mobilisiert worden, nicht nur in Österreich, sondern auch in der BRD und in Ober-Italien. Diese Kräfte verübten dann Bombenanschläge und Sabotageakte. Ziel der federführenden „Abteilung für schmutzige Tricks“ des StB sei es gewesen, zwischen Österreich und dem NATO-Land Italien Spannungen zu erzeugen. Zur Aufstachelung der deutschsprachigen Bevölkerung habe man eigens Flugblätter im Namen eines „Befreiungskomitees“ produziert: „Danach zogen wir uns aus dem Gebiet wieder zurück und überließen den Heißspornen beider Seiten die Arbeit, die sie genüsslich ausführten. […] Der von den Tschechen an der österreichisch-italienischen Grenze angezettelte Krieg war ein heißer geworden.“ 1976 gab Frolik dem ZDF ein Interview und behauptete, dass einer seiner Untergebenen 1956 in Südtirol erste Attentate verübte. Für Hans Stieler, damals noch vor dem BAS mit einer Gruppe aktiv, war diese Darstellung aus der Luft gegriffen. Es habe aber in dieser Zeit einige kleinere Anschläge gegeben, deren Hintergrund nie aufgeklärt wurde. Froliks Angaben sind bis heute unbestätigt geblieben, und es erscheint zweifelhaft, ob es eine solche aktive „Provokation“ überhaupt jemals gegeben hat. Dafür ist ein strategischer Ansatz des ostdeutschen MfS in Sachen Südtirol vergleichsweise gut dokumentiert: Anhand des Hinweises auf die Rolle von Rechtsextremisten im Südtirolkonflikt exemplarisch darzustellen, dass sich die BRD im Kern nicht geändert habe, sondern nach wie vor einen Hort faschistischer-revanchistischer Reaktion darstelle. Das „Unterfutter“ für diese „nazistische“ Diskreditierung der Bonner Republik zu liefern, war 1962 als eine der „Hauptaufgaben“ der zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS festgeschrieben worden: „Stärkere Mithilfe bei der Durchführung von politisch-operativen aktiven Maßnahmen zur Entlarvung des Charakters des Bonner Staates, seiner Kriegsvorbereitungen und antinationalen Politik.“ Dadurch sollte die internationale Position der Bonner Regierung geschwächt sowie der in der „Hallstein Doktrin“ formulierte Alleinvertretungsanspruch und die damit verbundene diplomatische Isolation der DDR aufgebrochen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, griff des MfS u. a. zu sogenannten „aktiven Maßnahmen“ um westdeutsche Strategien und Organisationen zu schwächen sowie einzelne Vertreter der BRD als ehemalige Nationalsozialisten zu kompromittieren. 

Zu diesem Zweck suchte das MfS mit großem Aufwand nach Belastungsmaterial: Die beträchtliche Involvierung von österreichischen und westdeutschen Rechtsextremisten, die langjährige Förderung Südtiroler Angelegenheiten durch bundesdeutsche Ministerien, Organisationen und Stiftungen(„Stille Hilfe für Südtirol“, „Kulturwerk für Südtirol“) sowie die Tätigkeit von Vereinen wie dem Andreas-Hofer-Bund (München) waren Elemente, an denen man die Kontinuität des Nazismus nach 1945 propagandistisch festmachen und gleichzeitig den Charakter der DDR als antifaschistischen Staat herausstreichen konnte. So ließ das westdeutsche Ministerium für gesamtdeutsche Fragen ohne Wissen der italienischen Zentralregierung vor 1969 Gelder in unbekannter Höhe nach Südtirol fließen. Von 1969 bis 1976 überwies dann das Auswärtige Amt umgerechnet zehn Millionen Euro „in streng vertraulicher Weise und unter Abweichung von üblichem haushaltsrechtlichen Verfahren“. Als Empfänger fungierte die Südtiroler Landesregierung, die damit vor allem Bildungsmaßnahmen finanzierte. Das Auswärtige Amt sah in dieser Praxis auch eine moralische Wiedergutmachung für die Spätfolgen der NS-Südtirolpolitik. In einem Dokument des Auswärtigen Amts von 1975 heißt es beispielsweise zur Tätigkeit von „Stille Hilfe für Südtirol“ und „Kulturwerk für Südtirol“: „Die beiden letztgenannten Organisationen bringen Geld- und Sachspenden für die Einrichtung von Kindergärten und Schülerheimen, für Stipendien, Ausbildungshilfe und andere soziale und kulturelle Zwecke zugunsten der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol auf. Die beiden Organisationen zusammen haben ein durchschnittliches Jahresaufkommen von ca. DM 800.000,-.“ Mitte der 1990er Jahre  prüfte die Bozner Staatsanwaltschaft dann, ob Gelder der Düsseldorfer Niermann-Stiftung an die Terrorgruppe „Ein Tirol“ geflossen waren („Die Spur führt nach Deutschland“). Die 1977 gegründete Stiftung, die vom österreichischen Rechtsextremisten Norbert Burger beraten wurde, hatte eine Million D-Mark an bedürftige Südtiroler Bergbauern ausbezahlt – allerdings waren dort nur 500.000 D-Mark angekommen. Auch das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz hatte schon Ende der 1980er Jahre vermutet, Stiftungsgelder könnten „satzungswidrig zur Unterstützung terroristischer Aktivitäten in Südtirol veruntreut“ worden sein. Die Ermittlungen in Italien ergaben schließlich, dass Karl Außerer, Anführer von „Ein Tirol“, eine Zahlung der Niermann-Stiftung über 5.000 DM erhielt. Für eine Anklage reichten die Beweise aber nicht aus.

Schon in den frühen 1960er Jahre war es zu einem aufsehenerregenden Fall gekommen, wo mit großem Aufwand diese Verbindung zwischen dem Terrorismus in Südtirol, westdeutschen Rechtsextremismus und „Diversionsakten“ gegen die DDR hergestellt wurde: Herbert Kühn, ein 20jähriger Gelegenheitsarbeiter aus Essen, wurde am 26. Februar 1964 vom 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1963 in Ost-Berlin selbst gebaute Sprengkörper vor vier Regierungsgebäuden deponiert. Wegen der dilettantischen Bauweise kam es nur zu einer Explosion, die eine Fensterscheibe des Ministeriums für Außen- und innerdeutschen Handel beschädigte. Am 30. Juni 1963 wurde Kühn dann beim Versuch, eine Sprengladung am Gebäude des Zentralkomitees der SED anzubringen, auf frischer Tat ertappt. Das Potential dieses Falls war vom MfS schon im Vorfeld erkannt worden: Die Hauptabteilung IX/7 begründete Anfang 1964 den Vorschlag zur Durchführung eines Verfahrens gegen Kühn folgendermaßen: „Durch die Hauptverhandlung gegen den Terroristen und [unleserlich] Kühn soll der Weltöffentlichkeit erneut dargelegt werden, dass in Westdeutschland durch Förderung offizieller Dienststellen und staatlicher Einrichtungen neofaschistische und rechtsextremistische Elemente, wie Kühn und seine Bande nicht nur eine Basis haben, sondern mit Wissen, Unterstützung und Anleitung des Bundesnachrichtendienstes und des ‚Verfassungsschutzes’ friedensgefährdende Verbrechen, wie Mord, Terror, Diversion, Brandstiftung und andere Gewaltverbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik und andere sozialistische Staaten planten, organisierten und durchführten.“ Der Öffentlichkeit werde durch diesen Prozess „die Gefahr der internationalen Vereinigungsbestrebungen neofaschistischer Elemente vor Augen geführt und bewiesen, daß die von Westdeutschland ausgehenden Terrorakte in Europa ein sichtbares Zeichen des Expansionskurses des westdeutschen Imperialismus und Militarismus sind“. So war es nur konsequent, dass Kühn bereits im Vorfeld des Prozesses im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz am 6. Dezember 1963 zu einem bestens vernetzten neofaschistischen „Superterroristen“ gestempelt wurde: Angeblich hatte er an Attentaten der französischen Organisation de l’armée secrète (OAS) in Paris 1962 teilgenommen und im selben Jahr unter anderem einen Anschlag auf die Druckerei der SED-Zeitschrift „Die Wahrheit“ in West-Berlin organisiert. In einem Dossier zu Kühn hieß es weiters, er sei ein „Führungsmitglied“ des BAS und „Initiator von Gewaltakten und Diversionshandlungen in Südtirol und gegen die DDR“. 1963 soll Kühn dann von West-Berlin aus, „politische Attentate“ vorbereitet und durchgeführt haben, um diese als Aktionen von DDR-Bürgern erscheinen zu lassen. Es sollten „Fanale des Widerstands“ sein. Dabei soll Kühn vom Bundesamt für Verfassungsschutz, vom Bundesnachrichtendienst und von der westdeutschen Justiz aktiv gesteuert und gefördert worden sein. Das „Neue Deutschland“ klagte jedenfalls über ein „Bonner Komplott der Revanchisten und Terroristen gegen Entspannung und Anrüstung“. Westliche Prozessbeobachter dagegen beanstandeten einen „Schauprozess“ und beschrieben Kühn als „Wirrkopf“, „Möchtegern-Helden“ und „unreifen, rechtsradikal- verhetzten Jüngling“. Kühn habe offenbar Gefallen an der Märtyrerrolle gefunden – einer der Journalisten kritisierte die „fast töricht zu nennende Offenheit des Angeklagten“.

In die Anklage gegen Kühn waren auch die Terrorakte in Südtirol einbezogen worden – und zwar eine besonders heimtückische Anschlagswelle in Verona, Trient und Bozen im Oktober 1962, die ein Todesopfer und mehrere Dutzende Verletzte gefordert hatte. Diese Attentate waren von der italienischen Polizei nicht geklärt worden. Der BAS selbst hatte sich damals in einem Schreiben an den österreichischen Bundespräsidenten Adolf Schärf umgehend distanziert. In einem Vermerk eines österreichischen Richters von 1965 heißt es sogar, dass es sich bei den Anschlägen „um Aktionen östlicher Geheimdienste gehandelt hat“. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Kühn in der DDR-Haft bereits selbst bezichtigt, den Sprengstoff gemeinsam mit dem österreichischen Staatsbürger Peter Kienesberger sowie dem deutschen Brüdern Heinrich und Fritz B. platziert zu haben. Dies sei unter dem Motto „Berlin hilft Südtirol – Südtirol hilft Berlin“ geschehen. Die Fäden im Hintergrund habe der Leiter des „Befreiungskomitees Südtirol“, der Innsbrucker Universitätsdozent Norbert Burger, gezogen. In einem Dossier der Hauptabteilung XX von 1964 heißt es dazu: „Aus den Aussagen des Terroristen Kühn geht hervor, daß Kühn mit den westdeutschen Terroristen B. […] im Oktober 1962 nach Innsbruck fuhren. Dort trafen sie mit dem österreichischen Terroristen Kienesberger, Peter […] zusammen. In einem Stützpunkt der Terroristen in der Nähe von Innsbruck schulte Kienesberger die genannten Personen im Umgang mit Sprengstoff. Zwischen dem 17. und 20. 10. 1962 hielten sich die B.s, Kühn und Kienesberger in Italien auf, schmuggelten Sprengstoff ein und verübten bzw. versuchten Sprengstoffanschläge in Verona, Bozen und Trient. Nach den erfolgten Anschlägen trafen sich B., Fritz und Kienesberger, Peter […] mit Burger in Innsbruck, um ihn über die Aktion Bericht zu erstatten.“ Burger habe daraufhin seine Anerkennung über die „gelungene Aktion“ zum Ausdruck gebracht. Kühns Angaben hatten ein Nachspiel, als er im Dezember 1974 entlassen und in die BRD abgeschoben wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die politische Situation wesentlich verändert: Weder Italien noch Österreich zeigten Interesse, den Fall neu aufzurollen. Obwohl die Bundesregierung diesen Sachverhalt auch dem nordrheinwestfälischen Justizministerium signalisierte, kam es dennoch zu einer Anklage vor einem Kölner Gericht. Nach siebenmonatiger Verhandlung wurden Kühn, Kienesberger und ein weiterer Beschuldigter im Jahr 1980 verurteilt, gleichzeitig ordnete man aber Haftverschonung an.

Die Fixierung auf den Rechtsextremismus hatte über den propagandistischen Aspekt hinaus aber auch eine praktische Bedeutung: Das MfS betrachtete die „neofaschistischen und anderen rechtsextremistischen Feindkräfte im Operationsgebiet“ generell als jene Kräfte, „deren Stoß- und Angriffsrichtung eindeutig gegen den Sozialismus gerichtet ist“. Spätestens Ende der 1970er Jahre gab es die ernste Befürchtung, diese „internationalen terroristische(n) Organisationen und Kräfte“ könnten den Versuch unternehmen, „ihre Aktionen auf das Territorium der sozialistischen Kräfte zu verlagern“. Von daher war die genaue Beobachtung der „Szene“ in der BRD und deren Verbindungen nach Südtirol auch Bestandteil einer, wie es das MfS verstand, vorbeugenden „Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung terroristischer und anderer politisch-operativ bedeutsamer Gewaltakte“. Um an verwertbare Informationen hinsichtlich des Nexus zwischen Rechtsextremismus und Südtirolterrorismus heranzukommen, bediente sich das MfS in den 1980er Jahren auch zweier Inoffizieller Mitarbeiter (IMs). Im folgenden Abschnitt wird deren Tätigkeit anhand der in der BStU vorhandenen Unterlagen dargestellt. Die IMs, die in der „Arbeit im und nach dem Operationsgebiet“ zum Einsatz kamen, galten als die „Hauptwaffe“ des MfS, um über alle „operativ“ relevanten Informationen des Gegners schon im Planungsstadium informiert zu werden. Unglücklicherweise sind viele der relevanten Informationen im Rahmen der Auflösung der „Auslandsaufklärung“ des MfS zwischen Ende Oktober 1989 und Februar 1990 vernichtet worden.

Ehemalige Zentrale des MfS, Berlin (Quelle: Stephen Craven/Wikimedia Commons)

IMB „Rolf Römer“: Peter Weinmann
Peter Weinmann, 1946 in Schwäbisch-Hall geboren, konnte auf eine abwechslungsreiche Laufbahn zurückblicken: Der gelernte Friseur war zweimal bester Haarschneider Nord-Württembergs geworden, versuchte sich dann Mitte der 1960er Jahre bei der Bereitschaftspolizei und als Bademeister. Ab 1966 begann Weinmann journalistisch zu arbeiten und brachte es im autodidaktischen Studium zum anerkannten Berufsjournalisten. Insgeheim verfolgte er jedoch eine geheimdienstliche Karriere bei westlichen und östlichen Diensten: Von 1969 bis 1976 beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), ab 1976 für die italienische Direktion für allgemeine Ermittlungen und Sonderoperationen (Direzione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali, DIGOS) und zwischen 1984 und 1989 für das MfS. Für diese Tätigkeit prädestinierten Weinmann seine ausgezeichneten Kontakte in die westdeutsche rechtsradikale Szene: Bis 1970 war er Mitglied in der Nationaldemokratischen Partei (NDP), ab 1972 gehörte er der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) des Neonazi-Führers Friedhelm Busse an, und im selben Jahr wurde er in die Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) aufgenommen. Letztere Gruppe wird immer wieder in Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat in München (1980) gebracht. Ein Gruppenmitglied ermordete im selben Jahr den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und dessen Ehefrau in Erlangen.

Unter dem Decknamen „Werner“ spähte Weinmann zunächst für das BfV die „gesamte rechte Szene in der Bundesrepublik Deutschland“ aus: „Ich habe Reisen gemacht bis nach Belgien, bin kreuz und quer durch die ganze Bundesrepublik gefahren, bin auch einmal bis nach Österreich gekommen.“  Der westdeutsche Geheimdienst habe ihn ausgebildet und eingesetzt – „und ich bin dann in diesem Kreis immer weiter mitgegangen“. Der V-Mann beschränkte sich aber nicht auf beobachtende Tätigkeiten, sondern gestaltete die Szene aktiv mit. So scheint er in einem Flugblatt des „Freundeskreises zur Förderung der Wehrsportgruppe Hoffmann“ von 1975 als „Informationsstelle Bonn“ im Impressum auf. Mit Zustimmung von WSG-Chef Karlheinz Hoffmanns drehte Weinmann auch einen Film über die Geländeübungen der Truppe, der dann im westdeutschen Fernsehen gezeigt wurde. Von der zunehmenden Radikalisierung der WSG Ende der 1970er Jahre wollte Weinmann dagegen nichts mitbekommen haben: „Zu dieser Zeit war ich nicht mehr bei Hoffmann. Ich wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz zurück gepfiffen.“ Die aktive Zusammenarbeit mit dem BfV soll 1976 geendet haben. Danach verlegte Weinmann infolge privater und finanzieller Schwierigkeiten seinen Wohnsitz kurzfristig nach Südtirol, wo er im Herbst desselben Jahres von der DIGOS kontaktiert wurde (einigen Berichten zufolge diente sich Weinmann der italienischen Abwehr selbst an).

Unter dem Decknamen „Siegmund“ sollte er Informationen über die separatistisch-nationalistische Bewegung innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung sammeln. Dem MfS erklärte Weinmann später: „Die Italiener haben enorme Schwierigkeiten, weil sie diese Leute einfach nicht verstehen können, weil die Deutschen einmal eine andere Mentalität haben. Ich wurde eingesetzt, weil ich wahrscheinlich mit meinen sogenannten eigenen Landsleuten besser umgehen konnte als manche Offiziere von der Abwehr.“ Weinmann gelang es auch „recht schnell“ Zugang zu finden: So wurde er „Stammgast“ im Haus der Lehrerin und Führerin der politischen Autonomiebewegung, Eva Klotz, der Tochter des im österreichischen Exil verstorbenen „Schützenmajors“ Georg Klotz, einem der wichtigsten Anführer aus der Gründergeneration des BAS. „Objektiv“ sei Weinmann wohl „ein Schweinehund“ gewesen, so Klotz später: „Aber eigentlich war er ein einsames, armes Manderl, das versucht hat, billig durchs Leben zu kommen, und immer da war, wenn an einem unserer Töpfe Knödel zu riechen waren.“

Welcher Art die „Interessen von DIGOS“ waren, die Weinmann bediente, darüber gab er dem MfS später folgende Auskunft: „Verstärkte Aufklärung von Personen aus dem Gebiet Nürnberg, die rechtsextremistische Kräfte aus/in Südtirol logistisch unterstützen; Ermittlung des Inhabers einer in der italienischen Tageszeitung ‚Corriere della Serra’ veröffentlichten Telefonnr. in Bonn, wo sachdienliche Hinweise zur Ergreifung von Terroristen gegen Belohnung gegeben werden konnten.“ Was die Verbindungen nach Südtirol anging, so interessierte sich der italienische Geheimdienst insbesondere für einzelne Personen aus der Deutschen Volksunion (DVU, Bremen) und von der Nationalistischen Front (NF, Bielefeld) sowie von „Die Republikaner“(REP, München).Weinmann wurde weiters gebeten, die Lebensumstände des in Nürnberg lebenden Peter Kienesberger auszuspähen. Dieser war wegen Anschlägen während der sechziger Jahre in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt worden und hatte dem Terrorismus abgeschworen. Dennoch verdächtigten ihn die italienischen Ermittlungsbehörden als Drahtzieher neuer Attentate. Für eine Leistungsprämie von 1.000 Mark fertigte Weinmann eine Lageskizze des Hauses an der Beilngrieser Straße an, in dem Kienesberger seinen „Buchdienst Südtirol“ unterhielt. Auf diese Weise „lokalisiert“ sollte er dann in Österreich gekidnappt und nach Italien geschafft werden. Im Falle eines Scheiterns der Entführung war geplant gewesen, Kienesberger in seinem Haus mit einem Präzisionsgewehr zu erschießen. Die Zusammenarbeit mit dem MfS, die dritte Station der Agentenkarriere Weinmanns, kam 1984 zustande: Am 21. August dieses Jahres flog er nach Berlin-Schönefeld und rief dann vom Ost-Berliner Hotel Metropol den Staatssicherheitsdienst an.

Die Offiziere der für Rechtsextremismus zuständigen Hauptabteilung XXII („Terrorabwehr“) waren zunächst skeptisch, ob sie es nicht mit einem Doppelagenten zu tun hatten: „Im Ergebnis der erarbeiteten Fragen, Hinweise und eingeleiteten Überprüfungsmaßnahmen war nicht auszuschließen, daß es sich bei den Aktivitäten des IM-Kandidaten in der DDR um eine geheimdienstlich gesteuerte Provokation gegen die DDR und insbesondere gegen das MfS handeln könnte.“ Die Reise habe Spionagezwecken gegolten, gab Weinmann ohne Umschweife an: Er sei von DIGOS beauftragt gewesen, auswertbare Informationen zu DDR-Grenzpassagen, dem Transitverkehr, militärischen Einrichtungen und festgestellten Bewegungen, der Stimmung der DDR-Bevölkerung und Verhaltensweisen italienischer Touristen in der DDR zu erarbeiten und nach seiner Rückkehr zur Verfügung zu stellen. „Die Motivation und die Beweggründe des W. [Weinmann] zur Verbindungsaufnahme mit dem MfS unterliegen eindeutig der Absicht, seine Dienste anzubieten“, stellten die MfS-Offiziere fest. Dabei sei sich Weinmann nicht im Klaren darüber, „in welche persönliche Gefahr er sich letztlich durch seine Auslassungen über feindliche Geheimdienstaktivitäten auf dem Territorium der DDR manövriert hat“. Wie aus einer Konzeption der Hauptabteilung XXII von Anfang 1986 hervorgeht, plante man sowohl in Richtung einer „Verhinderung möglicher Geheimdienstaktionen und Liquidierung des ‚Römer’“ [Deckname des MfS für Peter Weinmann], als auch hinsichtlich „seines Aufbaus für die perspektivische Gewinnung als IM des MfS […]“. Letztendlich zerstreuten sich die Bedenken der ostdeutschen Geheimdienstler: Im Rahmen des sechsten Kontaktgesprächs vom 25. bis 27. August 1986 im konspirativen Objekt „75“ wurde Weinmann als IMB [Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen (IMB)] angeworben. Die Aussicht, eine mögliche Topquelle zu erschließen, dürfte allzu verlockend gewesen sein: „Die Abschöpfung des W. über seine aktuellen Kontakte und inoffiziellen Arbeitsmöglichkeiten innerhalb rechtsextremistischer Terrorpotentiale des Operationsgebietes ließen erkennen, daß objektiv günstige Vorrausetzungen gegeben sind, operativ bedeutsame Informationen zu erarbeiten.“ Dieser „Wert“ Weinmanns, so der deutsche Historiker Tobias von Heymann, war „offenbar größer als jedes Risiko“. Das MfS investierte viel Zeit in die Erforschung und die Interpretation von Weinmanns Motiven. Er wurde bereits früh als primär kommerziell motivierter „Nachrichtenhändler“ eingestuft, der seine „Problemsituation als Doppelagent“ nicht wahrhaben wollte, sondern vielmehr bestrebt war, so viel Gewinn wie möglich aus seinen Kenntnissen und Kontakten zu ziehen – indem er neben dem MfS gleichzeitig die DIGOS und auch rivalisierende Kräfte innerhalb der rechtsextremen Szene bediente. Aus Weinmanns „Gesamtverhalten“ schlussfolgerten die Betreuer, „daß er seine Tätigkeit für das MfS auch in der Perspektive nicht missen will, da sie aus materiellen gründen einen festen Platz in seinem Leben eingenommen hat. Politisch modifizierte Faktoren liegen seiner Verbindung für das MfS nicht zugrunde.“ Weinmann erschien dem DDR-Geheimdienst überhaupt als unpolitische Natur, auch was seine Verbindungen in die rechte Szene anging: Diese seien ebenso „vorrangig von dem Bestreben getragen, den vorhandenen breitgefächerten ‚Absatzmarkt’ journalistischer Arbeiten für seine Lebensexistenz zu nutzen“. Ein anderes Mal notierte ein zuständiger Offizier kritisch: „‚Römer’ ist und wird auch weiterhin ein Nachrichten-Händler bleiben. In seinem Bestreben liegt es sicherlich – und er hat es ja auch schon getan – nicht nur für DIGOS erarbeitete Informationen an das MfS zu ‚verkaufen’, sondern auch umgekehrt. Es besteht die Gefahr, daß das ausufert. Deshalb müssen wir beim nächsten Treff noch konkretere Schritte dagegen unternehmen." Allerdings schätzte Weinmann offenbar seine neuen Auftraggeber: Im Vergleich zu BfV und DIGOS strich er „straffe Arbeitslage, Organisiertheit und hohe Konspiration, in der Berichterstattung Konkretheit, volle Forderung seiner Person“ als positive Unterschiede hervor.

Für die „Einsatzrichtung“ des IM gab es konkrete Ziele: Wie schon BfV und DIGOS war auch das MfS vor allem an Wissen über rechtsextreme Kleinparteien und Gruppierungen in der BRD. Weinmann erhielt unter anderem den Auftrag: „Erarbeitung von aktuellen Informationen und Hinweisen zu seinen engsten Freunden, insbesondere zu denen, die mit ihm in der Vergangenheit Terroranschläge begangen haben.“ Für die Autorin Regine Igel ist dies ein Beleg dafür, dass Weinmann selbst in Attentate verwickelt war – deren genauer Hintergrund geht jedoch aus der Aktenlage nicht hervor. Als „Szenebeobachter“ sollte Weinmann weiters über Pläne und Absichten der DVU, der Nationaldemokratischen Partei (NDP), der freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) und der Wiking-Jugend (WJ) berichten. Auch war dem MfS sehr daran gelegen, von Weinmann über die jeweilige „Interessenlage von DIGOS“ sowie ein jeweils aktualisiertes Lagebild des Südtirolkonflikts zu erhalten. Speziell was letzteren Punkt betraf, war das MfS mit Weinmanns Leistung sehr zufrieden: „‚Römer’ zeigte die Vielfalt und Kompliziertheit ‚der Forderungen und Zielstellungen der in Südtirol, Österreich und der BRD agierenden rechtsextremistischen Vereinigungen und Organisationen zur Südtirolproblematik auf." Hierzu gehörte auch, eine Einschätzung bezüglich der Hintergründe der Anschläge in den 1980er Jahren beizusteuern und über die Ermittlungen der italienischen Organe zu informieren. Später erklärte Weinmann gegenüber Medien: „Bei jedem Anschlag haben sich die Stasi-Leute gefreut, weil damit im NATO-Land Italien eine instabile Zone sichtbar wurde.“ Das MfS habe gesagt, „das ist gut, der Streit da unten, der gefällt uns, wir setzen uns rein und mischen da richtig mit, auf dass da unten richtig Tumult ist“, so Weinmann 1993. In einem Bericht der Hauptabteilung IX (Disziplinar- und Untersuchungsorgan des MfS) von 1988 heißt es sogar, dass der wieder aufgeflammte Südtirolterrorismus die italienischen Behörden vor eine ernstzunehmende Herausforderung stelle: „Dieser faschistische Terror habe nicht nur qualitativ zugenommen, sondern agiere auch mit äußerster Brutalität. Bewusst werde auf spektakuläre Anschläge mit vielen Toten abgezielt. Erst kürzlich habe in letzter Minute ein Sprengstoffanschlag auf eine Ortswasserleitung verhindert werden können, der während eines Volksfestes gezündet werden sollte und vermutlich viele Tote gefordert hätte.“ Die Terroristen seien mit modernster Technik ausgerüstet und fänden innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung Rückhalt. Verbindungen der Attentäter nach Österreich und in die BRD, vor allem in das Bundesland Bayern, seien „bekannt, aber weder nachgewiesen noch aufgearbeitet“ – weil in dieser Frage offenbar keine Zusammenarbeit mit den BRD-Partnerdiensten gebe: „In Bayern existiere angeblich sogar eine Ausbildungsbasis für Südtiroler Terroristen. Ebenso sollen Waffen, Funktechnik und Sprengstoff von Bayern nach Südtirol verbracht werden, jedoch seien die Verbindungslinien bisher unbekannt.“ Fazit des Berichts: „Die italienischen Geheimdienste und Abwehrorgane stünden zunehmend unter dem Druck der Öffentlichkeit, da keine Ansatzpunkte einer wirksamen Bekämpfung des Südtiroler Rechtsterrorismus erkennbar seien.“

Weiters erhielt das MfS durch Weinmann Informationen zu den Erhebungen nach dem Bombenanschlag auf das Palace-Hotel in Meran am 31. Dezember 1986: Demnach vermutete die DIGOS „eine mögliche Täterschaft aus rechtsextremen Kreisen, die dem in Südtirol agierenden ‚Andreas-Hofer-Bund‘ zuzuordnen sind“. Diese Organisation stünde „permanent im Blickfeld der italienischen Abwehr, da ihr zugehörige Kräfte in der Vergangenheit bereits mehrfach terroristische Anschläge verübten, die die staatliche Sicherheit Italiens gefährdeten“. Laut Tatortuntersuchung war der verwendete Sprengkörper mit der Aufschrift „Andreas Hofer“ versehen gewesen. V-Männer wurden daraufhin beauftragt, nach ähnlichem Rohrmaterial in Wohnungen, Kellern und Werkstätten von Personen, die der rechtsextremistischen Szene in Südtirol angehören, Ausschau zu halten. Wie das MfS festhielt, erstreckten sich diese Ermittlungen auf einen Verdächtigen in der BRD: Friedhelm Busse, der wegen terroristischer Anschläge selbst bis 1986 inhaftiert war und nun wieder Kontakte zum „Andreas Hofer Bund“ unterhalte. Ein persönlicher Bericht Weinmanns zur „politischen Lage in Südtirol“ von Ende 1988 zeichnete dagegen ein differenzierteres Bild des Anschlags in Meran. Seine ganze Argumentation ist auf die entscheidende Frage gemünzt: „Wer sprengt nun wirklich in Südtirol?“ Die Attentatswelle, so Weinmann, erscheine wie eine Neuauflage der Ereignisse der 1960er Jahre, doch dürften die Akteure „diesen Bogen doch etwas überspannt“ haben. Beispielsweise mit der Beschriftung der Rohrbombe von Meran mit „Andreas Hofer“: „Hierdurch sollte ganz einfach eine gedankliche Verbindung zum existierenden Andreas-Hofer-Bund hergestellt werden. Dies war selbst liberalen Zeitungen zu einfältig und auch die Bevölkerung mochte so etwas nicht glauben.“ Es bleibe ihm daher nur der Schluss übrig, „daß die italienischen Abwehrkräfte diese Sachen selbst inszeniert haben“. Darüber hinaus äußerte Weinmann seine Überzeugung, „daß die Kontakte zu Rechtsextremisten von dem italienischen Geheimdienst in jeder Beziehung kontrolliert werden, über den Geldverkehr, über den Postverkehr, über den Telefonverkehr“. Dieses Insiderwissen kam nicht von ungefähr – wie Weinmann 1993 gegenüber dem ZDF angab, hatte ihn sein italienischer Führungsoffizier noch vor dem Attentat in Meran instruiert. Damit sollte verhindert werden, dass Agenten mit den Anschlägen in Verbindung gebracht wurden: „Die mussten mich doch in Schutz nehmen, ich war ja ständig auf Tour. Man musste mich warnen, an dem Tag ins Palace-Hotel zu gehen, wo ich jeden Tag dran vorbeifahre. Die haben klipp und klar gesagt, da fahren Sie erst einmal zwei Tage nicht hin, es passiert etwas und morgen können Sie es bequem in der Zeitung lesen.“

„IM Förster“: Herbert Hegewald
Der zweite bekannte Spitzel des MfS in Südtirol hatte im Unterschied zu Weinmann auch direkten Kontakt zu Attentätern. Herbert Hegewald, 1937 in Dübrichen geboren, war abwechselnd Journalist und Privatdetektiv in Mannheim. Wie Weinmann verkehrte er in rechtsextremen Kreisen – in der „Aktion Widerstand“, der Wehrsportgruppe Hoffmann, den „Bismarck-Deutschen“ und der NDP. Schon Mitte der 1960er Jahre wurde Hegewald in Südtirol aktiv. „Zur damaligen Zeit fuhr er relativ häufig in dieses Gebiet in Urlaub und hatte so einen relativ großen Freundeskreis unter der dortigen Bevölkerung“, heißt es in Hegewalds Akte. Und weiter: „Er solidarisierte sich für diese, nahm an Aktionen teil, weil er darin eine ‚gerechte Sache‘ sah. Wegen Teilnahme an diesen Handlungen und unbefugten Waffenbesitz wurde er zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt, wo er Torf stechen durfte.“ Hegewald unterhielt damals Kontakte zum BAS, wurde aber von einigen Aktivisten als Informant für den italienischen Geheimdienst verdächtigt und deswegen bei der österreichischen Polizei angezeigt. Wegen des Waffenbesitz-Vergehens kam Hegewald 1965 in Schubhaft und wurde an Deutschland ausgeliefert. „Als man ihn festnahm,“ berichtete damals die APA, „fand man in seinem Gepäck interessanterweise mehrere NS-Bücher, wie z. b. ‚Mein Kampf‘, aber auch einen Brief des Dr. Norbert Burger, eine Spezialkarte von Südtirol, zahlreiche Adressen und Telefonnummern, zwei Stahlbohrer, einen Feldstecher sowie einen Gascolt vom Kaliber neun Millimeter.“ Nach Ende des gegen ihn verhängten Aufenthaltsverbots kontaktierte Hegewald Ende der 1970er Jahre wieder ehemalige Attentäter in Südtirol und Österreich. Oswald Astfäller, dessen Sohn gerade wegen eines Sprengstoffanschlags verhaftete worden war, empfand es als „Frechheit“, „dass ein Wildfremder bei mir anklopft und fragt, ob ich wieder etwas mache“. Einem anderen Aktivisten bot Hegewald eine Maschinenpistole an, die dieser aber ablehnte. Selbst 1955 aus der DDR geflüchtet, fiel Hegewald 1984 bei einem Einreiseversuch zum Verwandtenbesuch in Ostdeutschland auf. Es fanden sich Hinweise, „die auf Verbindungen zu terroristischen Gruppen im OG [Operationsgebiet] schließen lassen“. Schon davor war Hegewald mehrfach wegen Zollverstößen aufgefallen.Auf diese Weise hellhörig geworden, kontaktierte das MfS Hegewald 1985, um ihn als „IM Förster“ zu rekrutieren. Zu diesem Zeitpunkt war dieser seit zwei Jahren arbeitslos und bestrebt, „sich ständig noch etwas zusätzlich zu verdienen“. Aus Informationen, die offenbar von Weinmann stammten, geht hervor, dass Hegewald wegen seiner Verbindungen zu Rechtsextremisten innerhalb der Südtiroler Sympathisantenszene in der BRD und Österreich die Aufmerksamkeit der DIGOS auf sich zog. Der Dienst verdächtigte den Deutschen zudem, mit Terroranschlägen in Südtirol/Bozen am 17. Mai 1988 in Zusammenhang zu stehen.

Hegewald hatte vor allem Kontakt zu Karl Außerer, der als Anführer der Terrorgruppe Ein Tirol gilt. In dessen Umfeld soll es überhaupt von „eigenartigen Gestalten, die entweder als Berufsverbrecher ausgewiesen sind oder lange schon im Sold der Geheimdienste stehen“ gewimmelt haben.Den Kontakt zwischen Außerer und Hegewald hatte der ehemalige Südtirol-Attentäter Karl Schaffer hergestellt. Der Deutsche belieferte Außerer danach mit militärischer Ausrüstung, darunter Uniformen, Tarnanzüge und Offiziersmeldetaschen. Dass das Maschinengewehr, die Patronen, Magazine und Sprengkapseln, die Ende 1988 in Außerers Innsbrucker Tischlerei sichergestellt wurden, auch von Hegewald stammten, konnte vor Gericht nicht nachgewiesen werden. Zumindest laut einem nicht unterzeichneten Gedächtnisprotokoll der Aktivistin Karola Unterkirchner war diese selbst mehrmals dabei, wie Hegewald an Außerer Waffen und Sprengstoff übergab. Konkreter ist ein MfS-Bericht von 1989: Demnach bestand zwischen „IM Förster“ und Außerer ein „gutes Vertrauensverhältnis“ – „dieses kommt insbesondere darin zum Ausdruck, daß A. ihm im September oder Oktober 1988 bat, genau kann sich ‚Förster‘ nicht mehr erinnern, mit ihm zu einem gewissen […] in die Nähe von Innsbruck zu fahren, um von diesem Sprengstoff abzuholen. Dieser Bitte kam ‚Förster‘ nach. […] Drei Tage später erfolgte die Verhaftung des A. durch die österreichische Polizei. ‚Förster befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in seinem Wohnort in der BRD.“ Selbst wollte der IM nicht an Anschlägen teilgenommen haben. Tatsächlich wies ein Gutachten des Bundeskriminalamts Sprengstoffspuren sowohl im Kofferraum als auch im Innenraum von Hegewalds Opel Manta nach. Aufgrund solcher Indizien kam die Bundesanwaltschaft 1993 zum Schluss, dass der ehemalige IM nicht nur mit Außerer befreundet, „sondern wie dieser auch in die Anschläge der Kampfgruppe Ein Tirol verwickelt war“. Dennoch stellten die deutschen Behörden das Verfahren im selben Jahr ein, weil kein „hinreichender Tatbestand“ vorlag.

Zusammenfassung
Der Südtirolkonflikt ist ein gutes Beispiel für die Tätigkeit des MfS im „Operationsgebiet“: Grundsätzlich ging es darum, den politischen Gegner im Westen zu kompromittieren, Verunsicherung zu schaffen und Differenzen innerhalb der BRD als auch gegenüber anderen Staaten zu schaffen. Das „Mitmischen“ in Südtirol bot in diesem Zusammenhang mehrere Vorteile: Zunächst ging es dem MfS darum, über diesen Konflikt Zerwürfnisse innerhalb der NATO bzw. zwischen Italien und Österreich zu säen – handelte es sich zudem um ein strategisch wichtiges Gebiets in Grenzlage des westlichen Militärbündnisses. „Südtirol ist ein zentraler Platz für Stabilität oder Instabilität in Europa. Es gibt kein vereinigtes Europa, wenn hier Bomben fliegen“, erklärte dazu etwa der ehemalige österreichische Außenminister Alois Mock 2002. Spätestens 1988, als Österreich vor Beitrittsverhandlungen zur EG stand, war der Krisenherd Südtirol zur politischen Belastung geworden. Daher wurde Ein Tirol-Anführer Karl Außerer, der von Innsbruck aus agiert hatte, verhaftet und ein Informationsaustausch mit Italien eingerichtet. Zuvor hatte man Außerer noch „ungeniert gewähren lassen“ (Peterlini). Was die konkrete Rolle des MfS im Südtirolkonflikt angeht, so wurde dieser vor allem an der Propagandafront thematisiert. Das MfS trachtete stets danach, Informationen zur Diskreditierung der Bonner Republik zu gewinnen, so auch aus dem „Operationsgebiet“. Spitzel wie Peter Weinmann und Herbert Hegewald, die über enge Kontakte zur rechtsextremen Szene in der BRD verfügten, wurden daher zur gezielten Aufklärung der „Szene“ in Südtirol und ihrer Verbindungen eingesetzt. Anhand der so konstruierten „Spur nach Nürnberg“ konnte man eine pangermanistische Gefahr für den Frieden beschwören oder die „nazistische“ Kontinuität der Bonner Republik anklagen (wie im Fall Herbert Kühn). Genauso dürfte es darum gegangen sein, das Gefahrenpotential von möglichem rechtsextrem motiviertem Terrorismus gegen die DDR im Vorhinein abzuschätzen. Was letzteren Punkt angeht, so ist eine erstaunliche Parallelität in der Herangehensweise der italienischen Geheimdienste gegeben. Denn auch diese Akteure legten es darauf an, das gesamte Spektrum der Südtiroler Autonomiebewegung in der Öffentlichkeit als rechtsextrem zu brandmarken und damit zu kriminalisieren. Die Tatsache, dass IM Römer auch für die italienische DIGOS aktiv war und dasselbe Ziel auskundschaftete, unterstreicht diese Konvergenz der Interessen nochmals. Beide Seiten, so Hans Karl Peterlini, strebten danach „die Idee der Selbstbestimmung in ein rechtsextremes Licht zu rücken, zu kriminalisieren und zur Gefahr für den Frieden in Europa zu stilisieren“. Der MfS-Agenten Hegewald beispielsweise habe „nichts anderes getan, als dem italienischen Staatsmann Giulio Andreotti die Bestätigung dafür zu liefern, dass Pangermanismus und Tiroler Selbstbestimmung dasselbe und gefährlich sind. Es ist, bei näherem Hinsehen, nichts anderes als das besonders klare Destillat eines bekannten Geistes: der Strategie der Spannung.“ Die zahlreichen offenen Fragen hinsichtlich der Urheberschaft der Attentate in den 1980er Jahren, zeigen schließlich auf, dass es sich um einen Art „Schattenkrieg“ handelte, in dem Terrorismus auch politisch instrumentalisiert wurde. Westliche und östliche Geheimdienstakteure versuchten aus der Entwicklung für ihre jeweiligen Ziele Kapital zu schlagen, manipulierten teilweise die Attentäter, legten falsche Spuren und verbreiteten Desinformation. Dieser nachrichtendienstliche Aspekt des Südtirolterrorismus sollte Anlass für weitere Forschung sein, um so zu einem besseren Verständnis des Konflikts beizutragen.

Hinweis: Eine gekürzte Version dieses Beitrags ist in "zeitgeschichte", Heft 3/2013 erschienen.


Sonntag, 15. Dezember 2013

Die Geheimdienste und der Südtirolkonflikt – Teil 1

Der Südtirolkonflikt zählt bis heute zu den größten internationalen Auseinandersetzungen in Westeuropa seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Zwei Wellen von Attentaten (1961-1967 bzw. 1978-1988) forderten mindestens 35 Menschenleben und zahllose Verletzte. Der vorliegende Beitrag untersucht die substanzielle Rolle westlicher und östlicher Geheimdienste, vor allem des ostdeutschen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in Südtirol. Aufgrund der geopolitischen Bedeutung der Region zwischen den Machtblöcken des Kalten Krieges und des zeitlichen Zusammenhangs mit der Entkolonialisierungsphase der 1950er und 1960er Jahre war die Situation in Südtirol von strategischem Interesse für das MfS. Einerseits hatte der jahrzehntelange Konfliktherd das Potential, einen Keil zwischen die NATO-Mitgliedsländer Italien/BRD zu treiben, andererseits ließen sich gesammelte Informationen über die Rolle von rechtsextremistischen Organisationen und Individuen zur „nazistischen“ Diffamierung der Bonner Republik instrumentalisieren. In diesem Zusammenhang ergeben sich Parallelen zur Vorgangsweise der italienischen Geheimdienste, insbesondere was deren „pangermanistische“ Charakterisierung der Südtiroler Sezessionsbestrebungen angeht. Für die Untersuchung stützt sich der vorliegende Beitrag neben Sekundärliteratur vor allem auf Primärquellen, die aus der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) sowie aus der Wiener Stiftung Bruno Kreisky Archiv (StBKA) stammen.

Die erste Phase des Südtirolterrorismus (1961-1969)
Die Wurzel des Konflikts rund um nationale Selbstbestimmung und Minderheitenrechte in Südtirol bildete die Friedensordnung nach Ende des 1.Weltkriegs: Das deutschsprachige Gebiet zwischen Brenner und Salurner Klause war 1919 Italien zuerkannt worden. Unter dem faschistischen Regime wurde Südtirol dann einer strengen Politik der „Italienisierung“ unterworfen – durch Förderung italienischer Zuwanderung, „Entnationalisierung“ der deutschsprachigen Bevölkerung sowie „Umsiedlung“ von Südtirolern (Option) nach einem entsprechenden Abkommen mit Nazi-Deutschland (1939). Diese Erfahrung trug auch dazu bei, dass zahlreiche Südtirol-Aktivisten ihr späteres gewaltsames Vorgehen als antifaschistischen Widerstand rechtfertigten.Nach Ende des zweiten Weltkriegs einigten sich Österreich und Italien 1946 auf eine Autonomielösung für Südtirol, deren Umsetzung jedoch verschleppt wurde. Hatten dagegen schon Ende der 1940er Jahre vereinzelte Bombenanschläge stattgefunden, führte die weiter fortschreitende „Italienisierung“ Ende der 1950er Jahre zu einer allmählichen Radikalisierung des Protests.

Der 1958 gegründete „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) verschrieb sich der Forderung nach Selbstbestimmung und machte zunächst noch durch zivilen Ungehorsam auf sich aufmerksam. Das erste Attentat, zu dem sich der BAS bekannte, ereignete sich 1961. Die Anschläge in dieser Anfangsphase hatten „demonstrativen“ Charakter und richteten sich gegen Strommasten, Rohbauten und faschistische Denkmäler. Infolge der dadurch provozierten Repression, eskalierte der Südtirolterrorismus: Zwischen 1961 und 1967 wurden Sicherheitskräfte gezielt aus dem Hinterhalt erschossen oder mit Sprengfallen getötet, und es gab auch überregionale Anschläge auf italienische Fernzüge und Bahnhöfe. Insgesamt starben 15 Militärs, Polizisten und Zöllner. Weiters kamen zwei Zivilisten sowie vier Aktivisten ums Leben. Hatten einige der BAS-Aktivisten anfangs noch davon geträumt, Südtirol nach Vorbild des erfolgreichen antikolonialen Aufstands von General Georgios Grivas in ein „zweites Zypern“ zu verwandeln, mussten sie jedoch bald erkennen, dass hinter ihrer Organisation keine Massenbewegung stand. Die Situation blieb für Italien beherrschbar. Der Gegenoffensive, die gerade im nachrichtendienstlichen Bereich sehr effektiv geführt wurde, hatte der nach 1961 personell stark ausgedünnte BAS immer weniger entgegenzusetzen, und schließlich wurden 1967 auch die Verbindungs- und Rückzugslinien ins „Hinterland“ Österreich gekappt.

Vom "Aluminium-Duce" in Waidbruck blieb nach einem BAS-Anschlag 1961 nur der Sockel (Quelle: Wikimedia Commons)
Auf politischer Ebene jedoch hatten die ersten BAS-Attentate, vor allem die „Feuernacht“ vom 11. auf den 12. Juni 1961, nicht nur Dynamik in die bilateralen italienisch-österreichischen Verhandlungen gebracht, sondern auch dazu beigetragen, dass die Südtiroler Volkspartei (SVP) erstmals in inneritalienische Gespräche eingebunden wurde. Ob und in wieweit durch die Anschläge eine politische Lösung „herbeigebombt‘ wurde, ist aber bis heute umstritten. Der langjährige Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago etwa rückte die „Feuernacht“ in ursächlichen Zusammenhang mit der Entscheidung der römischen Zentralregierung, die Südtirolfrage zu prüfen. Der Zeithistoriker Rolf Steininger dagegen konstatiert eine „weggebombte Selbstbestimmung“: „Die Attentäter haben das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten. Im Bestreben nach Selbstbestimmung waren ihre Anschläge kontraproduktiv.“ Ein namhafter Vertreter der gegenteiligen Meinung ist der Journalist Hans Karl Peterlini: Für ihn ist die spätere Autonome Südtirols „kein Kind der Anschläge, aber die Anschläge gehören zu ihrer Geschichte, sind ein Kind des Ringens um Autonomie, das auch beigetragen hat zum Autonomieprozess. Die Attentäter mögen alles andere gewollt haben, aber sie haben sich in diese Geschichte eingetragen."

II. Die zweite Phase des Südtirolterrorismus (1978-1988)
Als die entscheidenden inneritalienischen Verhandlungen zwischen 1967 und 1969 über die Bühne gingen, war die erste Welle des Südtirolterrorismus bereits zu Ende gegangen. Es sollte aber bis 1992 dauern, ehe die Autonomie der Provinz vollständig umgesetzt war.Bis es soweit war, sollte sich die Gewalt noch ein weiteres Mal entzünden: Diese zweite Welle, die ab 1978 einsetzte, unterschied sich von der vorangegangenen in mehrfacher Weise. 

Hinsichtlich der Akteure traten mit dem Movimento Italiano Alto Adige (Mia – Bewegung der Italiener in Südtirol) und Associazione Protezione Italiani (Api – Vereinigung zum Schutz der Italiener) erstmals zwei italienische Gruppen auf den Plan. Sie unternahmen u. a. Anschläge gegen sechs Seilbahnen (1979), die Zugstrecke Meran-Bozen (1980) sowie auf den Landtag, die Villa des damaligen Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago, das Regierungskommissariat und den Sitz der Democrazia Cristiana in Bozen (1981). Die Terrorakte von Mia und Api richteten sich somit einerseits gegen die Südtiroler Autonomie und andererseits gegen jene Kräfte, die auf italienischer Seite als zu weitgehend empfundene Zugeständnisse gemacht hatten. 

Auf Südtiroler Seite waren noch in den Jahren 1978 bis 1982 Täter aus dem Personenkreis des BAS der 1960er Jahre aktiv. Danach – von 1986 bis 1988 – war die obskure Organisation Ein Tirol für zahlreiche Attentate verantwortlich. Insgesamt wurden 46 Anschläge, darunter gegen den Bahnhof Burgstall (1986), den Sitz des Rundfunks RAI, eine italienische Schule und die Banco di Roma in Bozen sowie gegen ein Kraftwerk in Waidbruck, die Dominikanerkirche in Eppan und die Wasserleitung in Lana (1988) verübt. Der Terror von Ein Tirol hatte eine ähnliche, wenn gleich gegensätzliche Leseart wie die Aktionen von Mia und Api: Hier richtete sich die Unzufriedenheit gegen die Kompromissbereitschaft der Südtiroler Volkspartei – statt weiter eine Autonomie auszuverhandeln, wollte Ein Tirol gleich eine Volksabstimmung über ein generelles „Los von Rom“ herbeibomben.Es war, schreibt der Südtiroler Journalist Hans Karl Peterlini, ein „Dialog mit Detonationen“: „Anschläge auf ‚italienische Ziele’ wechselten sich mit Anschlägen auf ‚deutsche Ziele’ ab.“Im Unterschied zur ersten Phase des Südtirolterrorismus verursachten die Attentate zwar erhebliche Sachschäden, kosteten aber glücklicherweise keine Menschenleben. 1984 wurden aber zwei Südtiroler Schützen bei einer Explosion getötet, als sie vermutlich einen Sprengkörper vorbereiteten. Ein weiterer Schützenfähnrich starb 1982 nach Misshandlungen in Polizeigewahrsam. Abgesehen von diesen Opfern führte die terroristische Offensive zu beträchtlicher Unruhe – vor allem gegen Ende der 1980er Jahre war die Lage in Südtirol angespannt, wie der Spiegel berichtete: „Tausende Polizisten mussten aus anderen Regionen angefordert werden, um gefährdete Politiker und Gebäude zu bewachen. Italiens Staatspräsident Cossiga sagte einen geplanten Meran-Urlaub aus Sicherheitsgründen ab. Nachts erinnert Südtirol heute an Spanien während der letzten Jahre der Franco-Diktatur: Militärjeeps patrouillieren durch die engen Gassen, Hubschrauber kreisen über den Städten, Geheimpolizisten kontrollieren die Gästelisten der Hotels."

Von Beginn an gab es allerdings Vermutungen, dass der Terrorismus von italienischer Seite geheimdienstlich manipuliert war. So berichtete beispielsweise der „Spiegel“ über die Attentate von Ein Tirol: „Den Terroristen gelang es immer wieder auf unerklärliche Weise, durch die dichten Polizeisperren zu schlüpfen. Eine freiwillige Bürgerwache stieß kurz vor der Sprengung der Rohrleitung bei Lana auf zwei verdächtige Männer, die sich als Carabinieri in Zivil auswiesen.“ Eine „geheimnisvolle Hand“ habe offenbar bei den Vorgängen Regie geführt: „Wie auf Knopfdruck explodierten serienweise Bomben, wenn sich Südtirols Regierung bei den Verhandlungen mit Rom wieder einmal querlegte. Ging es voran, herrschte Terrorpause.“ Schon bei der Bekämpfung des BAS in den 1960er Jahren hatten nachrichtendienstliche Methoden – Infiltration, Provokation, Gegenterrorismus und „effektive“ Verhörmethoden – eine wesentliche Rolle gespielt. So ist die Urheberschaft einiger Attentate, besonders in den Jahren 1966 und 1967, bis heute umstritten. Beispielsweise mehren sich Hinweise, dass die mysteriöse Ermordung des Carabinieri Vittorio Tiralongo (1964) den „Pusterer Buam“, einer besonders aktiven BAS-Einheit, untergeschoben wurde. Tatsächlich dürfte Tiralongo nach einem Streit von einem Vorgesetzten erschossen worden sein. Bereits 1965 gestand Robert K. in Innsbruck, im Auftrag des italienischen Geheimdiensts in einem Bozener Wohnhaus eine Bombe für Propagandazwecke platziert zu haben.Weiters begingen 1963 italienische Neofaschisten Vergeltungsattentate in Tirol und Oberösterreich, die ein Todesopfer und zahlreiche Verletzte forderten. Offenbar wollte man auf diese Weise Druck auf Österreich ausüben, die beträchtliche Unterstützung für den BAS von Nordtiroler Seite her zu unterbinden. Sämtliche Täter waren „schillernde Figuren der rechtsradikalen Terrorszene Italiens und hatten beste Kontakte zum italienischen Geheimdienst“, so das Fazit des Historikers Christoph Franceschini.

Was die Attentate in den 1980er Jahren angeht, so wurden 1990 geheimdienstlich-militärische Strukturen bekannt, die seitdem in Verdacht stehen, am „Anheizen“ der letzten Phase des Südtirolterrorismus zumindest beteiligt gewesen zu sein. Das sogenannte Stay Behind-Programm der NATO, das in Italien den Decknamen Gladio trug, war 1950 in Zusammenarbeit zwischen dem Office of Policy Coordination (OPC) der CIA und des britischen MI6 formuliert und zur praktischen Umsetzung in die westliche Verteidigungsallianz eingebettet worden. Die Stay Behind-Kräfte sollten im Falle einer sowjetischen Invasion in Westeuropa lokale Widerstandseinheiten aufbauen, die Flucht von abgeschossenen Piloten, NATO-Personal und wichtigen Persönlichkeiten organisieren sowie Widerstand und Sabotage gegen die Besatzungsarmee durchführen. Dieser konkrete Anlassfall trat nie ein, dafür wurden die Stay Behind-Einheiten in einigen NATO-Mitgliedsländern im Inneren aktiv, meistens gegen linke oder kommunistische Oppositionelle. In der Türkei bekämpften die dortigen „Kontras“ kurdische Nationalisten, während portugiesische Stay Behind-Kräfte an der Verteidigung des afrikanischen Kolonialreichs teilnahmen. Sowohl in Griechenland als auch in Italien, beides Länder mit starken linken Parteien, war eine Involvierung von Stay Behind-Personal in Staatsstreiche und Militärputsche gegeben.

Was den italienischen Fall, Gladio, so speziell macht, ist die politische Instrumentalisierung von Terrorismus. Zwischen 1969 und 1987 wurden bei acht größeren Sprengstoffanschlägen 419 Menschen getötet und 1.181 verletzt. Wie nach einem Drehbuch verfolgten die Behörden nach diesen wahllosen Attentaten zunächst immer eine „anarchistische“ oder linke Spur, während das im Hintergrund hörbare „Säbelgerassel“ des Militärs zum geflügelten Wort wurde. Für die Anschläge waren letztendlich Bombenleger aus dem neofaschistischen Lager, von Organisationen wie Ordine Nuovo und Avanguardia Nazionale verantwortlich. Aber darüber hinaus gab es ein erstaunliches Ausmaß an „stillem“ Komplizentum seitens des Sicherheitsapparats: Verschiedene Geheimdienste förderten nachweislich die Aktivitäten der Neofaschisten, manipulierten sie mittels eingeschleuster Provokateure und verwischten Spuren im Nachhinein. Dieses hochkomplexe Netz an Verbindungen reichte bis hin zu den italienischen Ablegern der Gladio-Struktur und zu Militärgeheimdiensten der NATO. Alles in allem zielte die so vorangetriebene „Strategie der Spannung“ im Italien der 1960er und 1970er darauf ab, bestehende Konflikte zu verschärfen, gewissen politischen Protest zu kriminalisieren und die Öffentlichkeit generell in Unruhe zu versetzen, um so den status quo zu legitimieren.Südtirol bildete in diesem Zusammenhang einen Präzedenzfall: In den frühen 1960er Jahren dienten dort zahlreiche Offiziere, die sich in den darauffolgenden Jahren für die „unkonventionellen“ Operationen verantwortlich zeichneten. Südtirol sei insofern eine „Trainingshalle“ gewesen, „in der man alle jene Methoden teste, die später unter dem Signum ‚strategia della tensione’ (Strategie der Spannung) zur blutigen und traurigen Realität Italiens werden sollten. Dazu gehören Unterwanderung genauso wie hausgemachte Anschläge, Entführungen und Desinformation oder die physische Eliminierung der Gegner.“

Was die zweite Welle des Südtirolterrorismus, vor allem Ende der 1980er Jahre, angeht, so gibt es laut dem Journalisten Hans Karl Peterlini „direkte Spuren“ von den bereits erwähnten italienischen Gruppen Mia und Api zu GladioAuf einem Flugblatt der Mia von 1988 war bereits das erst 1990 bekannt gewordene Gladio-Symbol aufgemalt: Ein römisches Kurzschwert. „Das kann nur bedeuten, dass die Terroristen von Mia genau um Gladio Bescheid wussten. Und weil Gladio zu diesem Zeitpunkt striktes Staatsgeheimnis war, bleibt fast nur die Schlussfolgerung übrig, dass es eine direkte Verbindung vom staatlichen Geheimdienst Gladio zum italienischen Südtirol-Terrorismus von Mia gibt“, so Peterlini. Außerdem sei 1980 der Agent Francesco Stoppani in einer Carabinieri-Kaserne mit dem Auftrag vorstellig geworden, „den Südtirol-Terrorismus mit allen Mitteln zu stoppen“. Stoppani untermauerte das mit der Aussage, er kenne den „Chef von Mia“. Bereits im Herbst 1966 sollen weiters Oberst Mario Monaco und Hauptmann Vito Formica, zwei wichtige Entscheidungsträger innerhalb der Gladio-Struktur, in Südtirol eingesetzt worden sein: Monaco war Kommandant des Gladio-Trainingszentrum auf Sardinien, Formica der verantwortliche Ausbildungsoffizier. Wie General Manilo Capriata 1992 vor einem Senatsuntersuchungsausschuss aussagte, wurde Gladio während dieser Jahre in Südtirol auch aktiv eingesetzt. Im April 1962 hatte der Befehlshaber des militärischen Nachrichtendienstes SIFAR (Servizio Informazioni Forze Armate), General Giovanni De Lorenzo die paramilitärischen Einheiten in Südtirol aktiviert: „He told me that the means availble in this area had been insufficent … and that thus one had to draw upon particular forces." Angeblich befand sich „in den Gängen von Schloß Siegmundskron ein Gladio-Waffenlager, während in den Sarntaler Alpen Waffen- und Sprengstoffausbildungen abgehalten wurden. Welche strategische Bedeutung Südtirol/Trentino innerhalb der Gladio-Struktur zukam, lässt sich auch daran ablesen, dass die dortige Stärke einschließlich des Unterstützungspersonals ungefähr 2.600 Mann betrug. Mit 200 von insgesamt 622 Zellen bildete die Region überhaupt das Schwerpunktgebiet von Gladio in Italien – laut eines anonymen Experten „auf Grund der Topographie und des Auftrags zur nachhaltigen Kleinkriegsführung“. 1991 wurden zudem die Namen von 21 Angehörigen von Gladio in Südtirol bekannt: Sie waren von Guiseppe Landi, dem Präsidenten des Bozner Fallschirmspringerklubs, seit Beginn der 1970er Jahre vor allem aus dem Klub rekrutiert worden. Landi bestritt, daß Gladio etwas mit den Südtirol-Anschlägen zu tun gehabt habe. Die Organisation sei vielmehr nur „gegen die kommunistischen Feinde“ gerichtet gewesen.

Die Verbindungen der pro-italienischen Gruppen zu den Geheimdiensten und Gladio mögen umstritten sein, aber der Hintergrund von Ein Tirol wirft genauso Fragen auf. Die Gruppe war nämlich von Mitgliedern der sogenannten Obermaiser Bande durchsetzt, die noch in den 1970er Jahren im Gebiet von Meran Überfälle, Einbrüche und Erpressungen beging. Darüber hinaus gab Ein Tirol-Mitglied Karl Zwischenbrugger vor Gericht Kontakte zum italienischen Geheimdienst zu. Die terroristischen Aktionen von Ein Tirol erwiesen sich als kontraproduktiv, denn politischen Profit aus dem Chaos zog alleine die pro-italienische Rechte. So wurde die post-faschistische Partei MSI in Südtirol von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre mehr als dreimal stärker, die Zustimmung stieg von 6,28 Prozent (1974) auf 22,6 Prozent (1985). Bezugnehmend auf sieben „antiitalienische“ Attentate im Jahr 1987 meinte daher Alexander Langer, Gründer der italienischen Grünen, „daß der Staat über die Geheimdienste seine Hand im Spiel hat“. Die Gewalt sei praktisch „eine Wahlkampfhilfe für die MSI“ gewesen. Gerade hinsichtlich dieser ausgesprochen negativen Konsequenzen für die Autonomiebewegung offenbarte sich hier das stabilisierende Kalkül hinter der „Strategie der Spannung“ am deutlichsten. „Das Ziel der italienischen Geheimdienste“, so der Journalist Markus Perner, „war offensichtlich die Stärkung jener Partei, die am konsequentesten für einen starken italienischen Staat eintrat. Die neofaschistische MSI wurde durch die Ein Tirol-Attentate von Wahlerfolg zu Wahlerfolg gebombt.“ Die Vorgänge wurden von Silvano Russomanno, einer der wichtigsten Fachleute des italienischen Innenministeriums und der Geheimdienste für Südtirol, so zusammengefasst: „Die Terroristen und uns, die sie bekämpften, eint am Ende eines: beide haben wir uns die Hände schmutzig gemacht.“

Fortsetzung folgt....