Aus:
Die „Wiener Residentur“ der Stasi – Mythos und Wirklichkeit, erschienen
in:
JIPSS (Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies), Vol. 7, No. 2/2013, 89-113.
JIPSS (Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies), Vol. 7, No. 2/2013, 89-113.
Der ehemalige Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Werner
Stiller, flüchtete 1979 in den Westen. Er brachte die Causa rund um die Wiener
Residentur ins Rollen. Im Rahmen seiner
Memoiren „Im Zentrum der Spionage“ (1986) sowie in „Der Agent. Mein Leben in
drei Geheimdiensten“ (2010) hat Stiller auf die Ereignisse Bezug genommen. Stiller
gilt bis heute als „die einzige westliche Quelle von Bedeutung in der Stasi“.
Frage (F): Welche Bedeutung hatte Technologiespionage für den Ostblock?
Antwort (A):
Die politische Spionage hat ja nicht viel gebracht – aber die
Technologiespionage, die hat viel gebracht. Allerdings war das auch ein
zweischneidiges Schwert: Wir konnten viel beschaffen und haben viel beschafft,
nicht alleine Mikroelektronik, sondern auch aus den Bereichen Chemie und
Biologie. Aber der Osten ist auch auf falsche Fährten gelockt worden. Zum
Beispiel war die Mikroelektronik, die aus der Wiener Residentur bezogen wurde,
hochpotent. Aber der Osten war wirtschaftlich nicht dazu in der Lage, etwas
daraus zu machen. Das ging völlig über Köpfe und Fähigkeiten hinweg und hat
damit entscheidende Ressourcen gekostet. Was Elektronik und dergleichen anging,
hinkte die DDR wenigstens zehn Jahre hinterher. Man konnte in den Laboratorien
nicht einmal die Luft sauber genug machen, um Chips zu produzieren.
F: War der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) des MfS innerhalb des Warschauer Pakts führend in der
Beschaffung von Technologie?
A: Wenn man
die Sowjetunion außer Acht lässt, dann sicher. Was die Russen genau konnten,
weiß ich nicht, aber ich hatte immer das Gefühl, wir sind besser. Der KGB war
hinter allem, das wir beschafft haben, her wie der Teufel hinter der armen
Seele.
F: Die gestohlene Mikroelektronik wurde zur Aufrüstung von östlichen
Waffensystemen verwendet?
A: Das stimmt
sicher zum großen Teil. Waffen und Prototypen wurden über alle möglichen Umwege
geliefert. Die Russen waren einfach nicht der Lage, selbst etwas auf die Beine
zu stellen. Die hingen praktisch am Tropf der Spionage.
F: Welche Rolle spielte Österreich in diesem Zusammenhang?
A: Es war der
neutrale Tummelplatz für alle Beteiligten. Die anderen Neutralen – Finnland
oder Schweden – haben nie diese Bedeutung gehabt. Es gab Flugverbindungen aus
der DDR und aus Moskau nach Wien. Von dort aus konnte man leicht weiterreisen –
die österreichischen Kontrollorgane waren nicht besonders eifrig, haben sich um
viele Dinge nicht gekümmert. Das wurde nicht nur vom Ostblock, sondern auch vom
Westblock ausgenützt. Außerdem stand Spionage für eine ausländische Macht gegen
eine ausländische Macht nicht unter Strafe. Das heißt, Österreich war ein
Spielfeld, wo man machen konnte, was man wollte. Wenn wir unsere Agenten in den
Westen geschickt haben, dann geschah das sehr oft über Österreich. Das Land war
Transitpunkt, aber auch personeller Stützpunkt.
F: Die Bezeichnung „Wiener Residentur“ war innerhalb des MfS geläufig?
A: Das ist im
Prinzip meine Schöpfung. Innerhalb der HVA oder des SWT wurde dieser Begriff
nie geprägt. Ich kriegte dann mit der Zeit mit, wie groß und bedeutend das Ding
war. Es war ja keine echte Residentur, denn eine solche Einrichtung hätte einen
Leiter aus dem Gastland oder aus dem Land, das sie ausspionieren wollen,
gehabt. So war es wohl bei der Wiener Residentur nicht. Das waren miteinander
verknüpfte Agenten, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen, sich aber alle
gegenseitig kannten und förderten. Zum Beispiel Rudi Wein: Der kam aus der
kommunistischen Ecke. Proksch hingegen war bei weitem kein Kommunist. Aber die
waren alle miteinander verbunden. Als mein Kollege Peter Bertag 1976 Weins Sohn
Wolfgang auf der Budapester Margareteninsel angeworben hat, habe ich die erste
konkrete Spur gekriegt. Weil ich wusste, dass sich Bertag mit jemand traf, habe
ich ihm nachgespürt und beide zusammen gesehen. Ich bin dann an Wein
drangeblieben und habe seine Autonummer notiert. Das war das erste fassbare
Beweisstück.
F: War Proksch in einem formellen
Agentenverhältnis mit dem MfS?
A: Ja. Das
kann ich natürlich nicht schriftlich, aber so nachweisen: Laut dem Journalisten
Pretterebner hing Proksch seit Anfang der 1950er Jahre mit dem KGB zusammen.
Als er schon für den SWT gearbeitet hat, wurde er zu einem großen Teil von
meinem Kollegen Peter Bertag geführt. Und dieser erzählte mir einmal, dass sein
Agent – er wusste ja nicht, dass ich mittlerweile herausbekommen hatte, wer das
war – im Jahr 1960 nach Moskau fliegen wollte und dann die innere Eingebung
hatte, nicht zu fliegen. Bei Pretterebner ist das so dargestellt: Eine
AUA-Maschine mit US-Diplomaten, die aus China kamen, ist am 26. September 1960
beim Anflug auf Moskau abgestürzt. Proksch, der auf der Passagierliste stand,
wurde vorher gewarnt, nicht zu fliegen.[i]
Der nächste Hinweis war: Bertag hat sich mit seinem Agenten in Prag getroffen,
der ihn seinen teuren Sportwagen – einen Lamborghini oder Maserati –
ausprobieren ließ. Das konnte nur Proksch gewesen sein. Der war ein Hans Dampf
in allen Gassen. Da muss jemand schon Agent sein, wenn man ein derartig enges
Verhältnis zu seinem Führungsoffizier hat. Die haben sich oft getroffen, mal in
Prag, mal in Budapest. Das war nicht bloß ein Gelegenheitstechtelmechtel. Und
Proksch hatte ja eine umfangreiche Akte in der HVA.
F: Wie haben die österreichischen Behörden auf
ihre Enthüllungen reagiert?
A: Der BND hat
das an die Österreicher weitergeleitet und die haben nicht reagiert. Es kamen
mal Rückfragen, aber die waren relativ belanglos. Die Durchsuchungen kamen auf
meine Initiative zustande, aber wahrscheinlich um abzudecken. Proksch und Wein
waren ja vernetzt und bekannt – da wurde alles getan, um die Geschichte zu
verwischen und runterzuspielen. Als ich dann zur CIA in die USA kam, war die
Wiener Residentur das erste und das Hauptthema. Die haben bis ins kleinste
Detail noch mal nachgebohrt. Einige Jahre später habe ich dann bei Goldman
Sachs gearbeitet. Da hat ein führender CIA-Mitarbeiter meinem damaligen Chef
gesagt, Amerika kann mir nicht genug danken, für das, was ich für dieses Land
getan habe. Wobei – ich habe ja nichts getan, sondern nur erzählt. Aber das
musste für sie eine große Bedeutung gehabt haben. Es war für sie von sehr
großer Bedeutung, die Schlupflöcher für die Technologie zu stopfen. Später, so
vermute ich, haben sie die Kanäle auch genutzt, um die Russen mit gezielten
Fehlinformationen zu ärgern.
[i]
Proksch hatte für den Moskau-Flug mit der AUA-Maschine „Joseph Haydn“ gebucht,
„kehrte jedoch – nach einem kurzen Telefongespräch – noch in der Abflughalle
wieder um und ließ sein Ticket verfallen“. Auf Nachfrage erklärte Proksch
später immer wieder, dass es Intuition gewesen sei, die ihn in letzter Minute
davon abgehalten habe, die Unglücksmaschine zu besteigen. Angeblich soll bei
der Katastrophe, die 30 Todesopfer forderte, der KGB die Fäden gezogen haben,
um in den Besitz des in der Maschine transportierten US-Geheimdienstmaterials
zu kommen. Vgl. Pretterebner, Fall Lucona,
37-40.