Sonntag, 28. Februar 2016

Keine „Insel der Seligen“ – Teil 2

Eine Serie zum Thema Terrorismus und Nachrichtendienste in Österreich - als Kapitel erschienen in: "Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme und die Anfänge des modernen Terrorismus" (2015)
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Aus dem Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) von 2014 geht hervor: „Generell sind die Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste in Österreich ungebrochen hoch und stellen das BVT durch neue und moderne Möglichkeiten der Ausspähung vor große Herausforderungen. […] Trotz sich ständig weiterentwickelnder technischer Möglichkeiten haben auch herkömmliche nachrichtendienstliche Methoden nicht an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Klassische Spione mit großem Engagement für ihr Heimatland sind nach wie vor in einer überdurchschnittlichen Zahl im Einsatz und können eine Gefahr für die Sicherheit und Souveränität der Republik Österreich darstellen.“ So würden „bestimmte Nachrichtendienste“ versuchen, Fertigungstechniken und Forschungsergebnisse zu erlangen. „Ein weiteres Aufklärungsziel stellen für fremde Nachrichtendienste ausländische und u.a. in Österreich aufhältige Oppositionelle oder Oppositionsgruppen dar“, so der Bericht.

Es gibt für ausländische Nachrichtendienste noch viel mehr zu „holen“: Wien ist ein traditioneller „Begegnungsort“, zahlreiche internationale Organisationen haben hier ihren Sitz – angefangen von der OPEC, über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), bis hin zur Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO). Weiters sind hier wichtige Botschaftsstützpunkte angesiedelt: Neben dem Iran und Nordkorea (zwischen 1982 und 2004 wickelte die Golden Star Bank AG in der Kaiserstraße Nr. 12 Geschäfte nordkoreanischer Firmen und Personen ab – als einzige Bank des kommunistischen Regimes in der westlichen Hemisphäre) verfügt Russland in der Donaustadt seit den 1980er Jahren über eine regelrechte „Stadt in der Stadt“ – eine der größten Vertretungen weltweit. Aber auch der Veteran der US-amerikanischen CIA, Jack Devine, erinnerte sich an das „sehr gute Jagdrevier Wien“: „Zudem war Österreich ungefährlich, es war weder feindlich gegenüber dem Osten noch dem Westen. Deshalb war der Standort noch attraktiver. Hinzu kommt, dass Wien wunderschön ist. Es gibt ein Denguefieber oder Menschen, die andere köpfen. All das machte es zu einer Stadt, in der jeder sehr aktiv war.“

Nur manchmal werden konkrete Operationen bekannt: So soll etwa 2007 ein Team des israelischen Geheimdienst Mossad in die Wiener Wohnung des Chefs der syrischen IAEA-Mission, Ibrahim Othman, eingedrungen sein. Auf einem Laptop wurden Pläne für einen Reaktor gefunden, woraufhin die Baustelle sechs Monate später bombardiert wurde. Schon im Jahr 2000 spielte die CIA dem iranischen Geheimdienst in Wien die Blaupause eines Nuklearsprengkopfs zu. Das sollte die Forscher im Iran auf eine falsche Fährte locken („Operation Merlin“). Gerade im Zuge der Verhandlungen rund um das iranische Atomprogramm kam es Anfang 2015 zu so dichten Überwachungsaktionen, dass die beteiligten Diplomaten aufgrund der freigesetzten Mikrowellenstrahlung keinen Mobiltelefonempfang mehr hatten. „Die Amerikaner, Briten, Franzosen, Israelis, Iraner sind alle hier. Jeder tut das, die ganze Zeit über“, sagte der „Mossad“-Experte Yossi Melman.

Nicht umsonst wird geschätzt, dass die Hälfte der rund 17.000 in Wien akkreditierten Diplomaten Geheimdienstverbindungen unterhält. Diesen status quo zu ändern, dafür gibt es keinen politischen Willen. Ex-Sicherheitsbürochef Edelbacher vermutet in Hinblick auf die Verantwortlichen: „Sie nehmen das halt in Kauf, um Wien als diplomatische Drehscheibe aufrechtzuerhalten. Das hat auch ökonomische Effekte.“ Österreich selbst sei ohnedies „nur selten im Blickfeld ausländischer Dienste“, so der ehemalige Leiter der BVT, Gert Rene Polli: Ganz anders sei das nicht nur bei den internationalen Organisationen, „vor allem dem internationalen Kommunikationsverkehr, insbesondere aber bei österreichischen Firmen mit interessanten Exportmärkten“. Seit den vergangenen Jahren gelte „zentrales Interesse“ dem österreichischen Bankensektor und seinen Aktivitäten im Ausland, aber auch in Österreich.

Ein wichtiges begünstigendes Element ist die Rechtslage. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 20. April 1956 verbrieft, dass Spionagetätigkeit nur dann geahndet wird, wenn diese sich unmittelbar gegen Österreich richtet. Wer laut § 256 einen „Geheimen Nachrichtendienst zum Nachteil der Republik Österreich“ betreibt, muss höchstens mit drei Jahren Haft rechnen. Wer einen „militärischen Nachrichtendienst“ für einen fremden Staat betreibt (§ 319), kommt mit zwei Jahren davon. Die Einhaltung dieser ohnehin laxen Bestimmungen wird nicht einmal besonders effektiv überwacht. Abgesehen vom Heeresnachrichtenamt (HNaA) und dem Abwehramt (AbwA), die für militärische Aufklärung bzw. Eigenschutz zuständig sind, verfügt Österreich traditionell über keine weitere rein nachrichtendienstliche Struktur. Wenn es um Spionageabwehr oder den Schutz vor staatsgefährdenden Bedrohungen wie Terrorismus geht, so lag die Zuständigkeit jahrzehntelang bei der Staatspolizei, einem „Zwitterwesen“ aus Nachrichtendienst und Polizei. Am 8. August 1945 vom Staatssekretär für Inneres, Franz Honner (KPÖ), neu gegründet, hing der Staatspolizei lange der Ruf nach, kommunistisch unterwandert zu sein.

In den 1980er Jahren waren 600 von damals insgesamt 700 Staatspolizisten auf die Abteilungen I der Sicherheitsdirektionen der Bundesländer aufgeteilt und 100 bei der „Gruppe C“ im Innenministerium angesiedelt. 1987 gründete Innenminister Karl Blecha zusätzlich eine ihm direkt unterstellte Einsatzgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus (EBT). Die EBT hatte die Aufgabe, Präventions- und Aufklärungsarbeit zu leisten und gleichzeitig als Bindeglied zu Nachrichtendiensten im Ausland zu fungieren.

2002 gingen dann die EBT, die Staatspolizei und die EDOK im BVT auf. Vor dessen Gründung hatte die Staatspolizei neben der „Wahrnehmung staatsfeindlicher Vorgänge“ noch zahlreiche weitere Aufgaben erfüllt: Schutz verfassungsgesetzlicher Einrichtungen, Personenschutz für den Bundespräsidenten und Mitglieder der Bundesregierung, Schutz von ausländischen Konsulaten und Staatsbesuchen sowie Überprüfung von Flüchtlingen und Asylwerbern. In Wien standen dafür Mitte der 1980er Jahre nur „etwa“ 120 Mann zur Verfügung, in den Bundesländern rund 20. So überrascht es auch nicht, dass ein Beamter damals zum „Kurier“ sagte, dass man ausländische Spione außen vorlasse: „Solange sie mit ihrer Tätigkeit Österreich aus dem Spiel lassen, ist uns das wurscht.“ An dieser Einstellung hat sich nicht wesentlich viel geändert: Wie Polli kritisch angemerkt hat, ist an eine „effiziente Spionageabwehr“ nicht zu denken, auch weil diese politisch nicht gewollt sei. Österreich, so Polli, sei nach wie vor nur „bedingt abwehrbereit“: „Die Disproportionalität zwischen den einheimischen Abwehrbeamten und den hier agierenden Nachrichtenbeschaffern und Operateuren besteht unvermindert weiter.“

Trotz der Zusammenlegung ist auch das BVT eine spezialisierte Abteilung mit den Befugnissen der normalen Polizei geblieben – „Spione und Agenten gibt es dort nicht“, so der Journalist Andreas Wetz. Darüber hinaus kommt es zwischen BVT, HNaA und AbwA aufgrund von Überschneidungen in den Zuständigkeitsbereichen, die von Terrorbekämpfung, Cyber Security, Personenschutz bis hin zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität reichen, zu Spannungen: „Dies führt regelmäßig zu Animositäten zwischen den Akteuren und hemmt den Informationsaustausch dort, wo er im Sinne der nationalen Sicherheit notwendig wäre.“

Einen weiteren Grund für das fehlende Aufklärungsinteresse ortet Polli in dem Umstand, dass gewisse Kooperationen mit ausländischen Nachrichtendiensten „selbst forciert“ wurden. So diskutiert man seit 2013 im Zuge der Enthüllungen durch den „Whistleblower“ Edward Snowden auch die jahrzehntelange Zusammenarbeit zwischen der National Security Agency (NSA) und dem HNaA im Bereich der signal intelligence, also abgehörter Kommunikation. Seit mehr als 50 Jahren tauschen die Dienste sensibles Material aus, berichtete „profil“ 2013: Dass damit flagrant gegen die Bundesverfassung, konkret gegen das Neutralitätsgesetz, verstoßen wurde, kümmerte nie einen der Beteiligten.“ Über seine Lauschstationen klärte das HNaA den Telefon- und Funkverkehr im Ostblock und am Balkan auf – „die Bänder gingen via Frankfurt direkt an die USA“. Heute ist Österreich nach wie vor „ständiger und diskreter Partner“ der NSA, wie der US-Journalist Glenn Greenwald herausstrich: „Man sammelt vielleicht gemeinsam Daten aus Afghanistan oder nimmt bestimmte Organisationen ins Visier.“

All die erwähnten Faktoren zusammengenommen – neutraler Status, günstige geografische Lage, dichte Präsenz internationaler Organisationen, diskreter Bankenplatz und schwach ausgebildete nachrichtendienstliche Strukturen machen Österreich nicht nur für Spione interessant, sondern auch für Terroristen. Auch deren Präsenz wurde gegebenenfalls toleriert – vorausgesetzt es gab keine Aktionen in Österreich. Offiziell hat es eine solche „Ruheraum“-Strategie zur Terrorvermeidung freilich nie gegeben, inoffiziell aber sehr wohl: Um nach einer Anschlagsserie der Abu Nidal-Organisation (ANO) Anfang der 1980er Jahre weitere Gewalt zu verhindern, ließ man zwischen 1988 und 1993 wechselnde Angehörige der ANO in Wien wohnen und stellte medizinische Hilfsgüter bereit. Darüber hinaus konnten sich Familienangehörige von Abu Nidal, einem der gefährlichsten palästinensischen Terroristen, im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Operationen unterziehen.

Obgleich dieser „Waffenstillstand“ brüchig war, kam es zu keinem weiteren Terroranschlag Abu Nidals in Österreich. Dafür nutzte die ANO unter anderem die Möglichkeiten, die der Finanzplatz Wien damals wie heute bietet. Ganz allgemein zählen dazu: Strenges Bankgeheimnis (fällt ab dem vierten Quartal 2016 für ausländische Staatsbürger weg), Privatstiftungsrecht sowie verschwiegene Steuerberater und Rechtsanwälte. „Neben der Schweiz und Liechtenstein genießt Österreich für seine finanzielle Diskretion nämlich Weltruhm. Nirgendwo anders lässt sich Vermögen einfacher investieren, tarnen und dann wieder außer Landes schaffen als in Wien oder Salzburg. Und es bleibt hierzulande genug hängen, um die Maschinerie aus Banken, Rechtsanwälten, Beratern, Steuerexperten und Polit-Günstlingen am Leben zu erhalten“, unterstreicht Florian Horcicka in seinem Buch „Das schmutzige Geld der Diktatoren“ (2015).

Diese Qualitäten haben sich auch der Terrorismus und die organisierte Kriminalität „mehrfach zunutze“ gemacht. So etwa im Fall der ANO: Seit 2000 sind auf einem Konto der Bank Austria 8 Millionen Euro eingefroren, die innerhalb von drei Jahrzehnten mit Zinsen auf mehr als 20 Millionen Euro angewachsen sind. Das Konto mit der Nr. 132195566 war am 4. August 1982 bei der damaligen Länderbank eröffnet worden – und zwar von der jordanischen Staatsbürgerin Halimeh Almughrabi. Zwischen 1982 und 1987 wurde die Millionensumme in vier Tranchen einbezahlt. Nach Ansicht der Ermittler fungierte Almughrabi dabei nur als „Strohfrau“ für ihren Ehemann Samir Najmeddin, dem 1984 eine Kontrollvollmacht für das Konto eingeräumt wurde. Der 1939 geborene Najmeddin, Kampfname „Abu Nabil“, war niemand Geringerer als der Finanzfachmann der ANO und für alle Auslandsinvestitionen zuständig.

Herz dieses Geschäftsimperiums war die Firma SAS Trade & Investment, deren Zentrale in Warschau von Najmeddin geleitet wurde. Weitere Zweigstellen befanden sich in Ost-Berlin, Kuwait, Griechenland und Zypern. Vor allem das kommunistische Polen und die DDR duldeten die Präsenz der ANO stillschweigend – und kamen im Gegenzug an Devisen bzw. an Informationen über die internationale Terrorszene heran. Auch von österreichischem Boden aus wurden Geschäfte mit den Terroristen abgewickelt: Anfang der 1980er Jahre hatte der syrische Waffenhändler Monzer Al-Kassar in der Wiener Zelinkagasse die Import-Export-Firma Alkastronic angesiedelt. 1985 kam es zu einer Hausdurchsuchung wegen Verdachts auf Terrorverbindungen. Beweise für eine strafbare Handlung wurden aber nicht gefunden. Was die damaligen Ermittler nicht wussten, die Alkastronic hatte nachweislich Geschäftskontakte mit der ANO: Und zwar wurden am 9. März 1984 Najmeddins SAS 553 Pistolen sowie eine „größere Anzahl Munition“ für 228.560 Dollar in Rechnung gestellt. Eine zweite Abrechnung vom 3. April 1984 lautete auf 20.000 Stück 7,65 mm-Munition und 20 Pistolen mit Gold- und Silbergravur. In diesem Fall belief sich der fällige Betrag auf 9.980 Dollar.

Gewinne aus solchen Waffengeschäften wurden bevorzugt bei der als „Weltbank des Verbrechens“ bekannt gewordenen Bank of Credit and Commerce International (BCCI) in London angelegt – wegen deren besonderer Fähigkeit Gelder zu „verstecken“. Darüber hinaus richtete man Konten in der Schweiz, Spanien und in Österreich ein. Laut dem britischen Autor Patrick Seale wurde dabei ein beträchtlicher Anteil des Geldes auf die Namen von Abu Nidals engsten Familienangehörigen deponiert. Wie aus staatspolizeilichen Ermittlungsakten hervorgeht, gab es bei österreichischen Banken gleich mehrere solcher Konten. Najmeddin selbst hatte 1986 bei der Zentralsparkasse das Konto Nr. 570309930 eröffnet. Als weitere Zeichnungsberechtigte schien dafür eine junge syrische Studentin auf, die zu diesem Zeitpunkt in Wien-Floridsdorf wohnte. Es handelte sich um Khalil Badia, die 1967 geborene Tochter Abu Nidals. So undenkbar es scheint, die Palästinenserin studierte jahrelang in Österreich – in jenem Land das von der Organisation ihres Vaters zuvor mehrfach angegriffen worden war. Badia blieb bis Anfang der 1990er Jahre und stand während dieser Zeit unter intensiver Beobachtung seitens der Staatspolizei.

1991 versuchte Najmeddin über das größte Guthaben, nämlich bei der Länderbank/Bank Austria, erstmals wieder zu verfügen. Doch das besagte Konto war im Zuge des Golfkrieges wegen Verdachts auf Irak-Verbindungen eingefroren worden. Am 13. Jänner 2000 betrat schließlich die seinerzeitige Kontoeröffnerin Almughrabi die Filiale in der Wiener Nordbergstraße 13, um auf das Guthaben zuzugreifen. Sie wurde vor Ort von WEGA-Beamten festgenommen. Weil sich die damals 65jährige Frau in zahlreiche Widersprüche verwickelte, klagte man sie wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation an. Später auf Kaution freigelassen, erschien Almughrabi nicht mehr zur Verhandlung. Es hieß, die libyschen Behörden würden ihr die Ausreise verweigern. Am 1. Juli 2008 gab es schließlich einen Knalleffekt in der Causa: Der Antrag der Staatsanwaltschaft, das Guthaben für verfallen zu erklären, wurde abgelehnt. Weil die ANO in der Zwischenzeit nicht mehr existierte, sah das Gericht keine Gefahr, dass das Geld terroristischen Zwecken zufließen könnte.

Das Urteil wurde in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Wien aufgehoben und zur neuerlichen Verhandlung an das Erstgericht zurückverwiesen. Obwohl mittlerweile nicht einmal mehr Klarheit darüber herrscht, ob Almughrabi noch am Leben ist, geht der Rechtsstreit weiter – der Prozess wurde im April 2011 vertagt, sämtliche Privatbeteiligte ausgeschlossen. Ganz abgesehen vom Ausgang wirft dieses Beispiel ein Schlaglicht auf die österreichische Vorgangsweise im Kampf gegen den Terrorismus und den Hang zur Pragmatik: Stets vermied man das Risiko möglicher Vergeltung, ließ gewähren und war gleichzeitig bedacht, sich aus der Schusslinie zu halten.

Während sich die ANO-Mitglieder mit Wissen der Behörden in Wien aufhielten und hier Gelder investierten, wurde die Anwesenheit anderer Terroristen spät oder erst gar nicht erfasst. Mitglieder der RAF hielten sich in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre immer wieder in Wien auf. Österreich fungierte als Transitland, um nach Anschlägen in der BRD nach Skandinavien, in Ost-Blockstaaten oder in den Libanon weiterzureisen – je nachdem, wo sich die Gruppe gerade besonders sicher fühlte. Nur einmal kam es zu einer größeren Operation westdeutscher Terroristen in Österreich selbst – die Entführung des Fabrikanten Walter Palmers durch die „Bewegung 2. Juni“ 1977, die später in der RAF aufging. Die an dem Coup beteiligte Inge Viett schrieb in ihren Memoiren: „Wien ist keine Stadt für revolutionäre Aktivitäten. Es ist eine Stadt für Agenten, Ganoven, für Spießbürger und ihre Politiker, gerade richtig für die Entführung eines Industriellen.“

Ein Jahr nachdem sich die RAF offiziell aufgelöst hatte, am 15. September 1999, gerieten der 43jährige Horst Ludwig Meyer und seine Partnerin Andrea Klump in Wien in eine Polizeikontrolle. Die beiden Mitglieder der RAF-Führungsebene hatten sich in den Monaten davor fast täglich an der Ecke Wagramer Straße/Schrickgasse in Wien-Donaustadt getroffen. Wegen ihres konspirativen Verhaltens sowie der auffälligen Tarnung mit Schirmkappen und Sonnenbrillen waren sie Anrainern aufgefallen, die wiederum die Polizei informierten. Als die Beamten schließlich eine Personenkontrolle durchführen wollten, zückte Meyer eine Beretta. Es kam zu einer kurzen Verfolgungsjagd einige Hundert Meter weiter in die Donaufelderstraße hinein. Dort wurde Meyer bei einem kurzen Schusswechsel tödlich in die Brust getroffen, Klump ließ sich daraufhin festnehmen. Es stellte sich heraus, dass die beiden seit 1995 in Wien in einer Wohngemeinschaft gelebt hatten. Ihrem Mitbewohner gegenüber hatten sie sich als Heidi Pieri aus Dänemark und als Jens Jensen ausgegeben. Zu diesem Zeitpunkt dürften die beiden keine aktiven Mitglieder der „dritten“ RAF-Generation mehr gewesen sein, sondern im Rahmen der Anti-Imperialistischen Brigaden zeitweise mit anderen europäischen Linksextremen kooperiert haben. Von der RAF einmal abgesehen, nutzten auch andere linksextreme Gruppen Österreich als Basis: So legte die dänische Blekingegade-Bande, die aus „internationaler Solidarität“ heraus die palästinensische Volksbefreiungsfront (PLFP) mit Geldern aus Banküberfällen unterstützte, im Jesuitenholz, einem Waldstück bei Hollabrunn 40 km nordwestlich von Wien, ein Waffendepot an. 

Fortsetzung folgt

Donnerstag, 25. Februar 2016

Keine „Insel der Seligen“ – Teil 1

Eine Serie zum Thema Terrorismus und Nachrichtendienste in Österreich - als Kapitel erschienen in: "Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme und die Anfänge des modernen Terrorismus" (2015)
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1971 besuchte der damalige Bundespräsident Adolf Schärf den Vatikan. Im Rahmen des Empfangs bekundete Papst Paul VI., Österreich wäre „eine wahre Insel der Seligen“. Das Zitat ist seitdem zum geflügelten Wort geworden und steht für ein sicheres, konsensorientiertes und neutrales Land, das sich von negativen internationalen Entwicklungen abkoppeln konnte. Das gilt insbesondere für Terrorismus. Dieser ist im Kontext der politischen Entwicklung der Zweiten Republik selten geblieben. Eine statistische Auswertung des Kriminalisten Richard Benda und der „Kurier“-Journalistin Ingrid Gabriel für das Buch „Terror rot/weiß/rot“ ergab für die Jahre 1959-1988 16 Todesopfer und 112 Verletzte. Bei den Toten handelte es sich um einen Politiker, den Wiener Stadtrat Heinz Nittel, drei Diplomaten, sechs Unbeteiligte, drei Polizisten und zwei Täter. In den knapp drei Jahrzehnten fanden außerdem insgesamt 113 Bombenanschläge statt, deren Hauptschauplatz eindeutig in Wien (64), gefolgt von Kärnten (20) und der Steiermark (9) lag.

Nicht in dieser Statistik erfasst sind die im Jahr 1989 von iranischen Agenten in Wien ermordeten drei kurdischen Politiker, von denen einer österreichischer Staatsbürger war. Zu einem weiteren Fall von Staatsterrorismus kam es 2009: Der 27jährige Umar Israliov war am 13. Jänner vor einem Wiener Supermarkt mit zwei Schüssen ermordet worden. Nach Erkenntnissen des Landesamts für Verfassungsschutz hatte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrov den Auftrag zur Ermordung seines ehemaligen Leibwächters „von oberster Stelle“ angeordnet. 1995 starben zwei Linksradikale bei einem missglückten Sprengstoffanschlag gegen einen Strommasten im niederösterreichischen Ebergassing. Weiters forderten sechs Briefbombenserien zwischen 1993 und 1996 vier Todesopfer und 15 Verletzte (darunter der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk), ehe der später als Einzeltäter verurteilte Franz Fuchs 1997 bei einer Routinekontrolle verhaftet werden konnte. Als im Sommer 2007 ein 44jähriger Arzt einen Jugendlichen mit einem Pistolenschuss schwer verletzte, stellte sich in der Folge heraus, dass der Mann für einen Anschlag auf die Wiener Osmanli-Moschee am 15. November 2005 verantwortlich war. Die Detonation des Sprengsatzes hatte damals Sachschaden in der Höhe von 5.260 Euro verursacht. In der Gerichtsverhandlung bezeichnete sich der Arzt selbst als „Terrorist“.

2009 wurden dann bei einer Schießerei in einem indischen Tempel in Wien ein Prediger getötet und 15 Menschen verletzt. Die Auseinandersetzung dürfte „ausschließlich religiös motiviert“ gewesen sein, dennoch scheint sie als Exkurs im Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz- und Terrorismusbekämpfung auf. Nimmt man diese Opferzahlen in die Statistik auf, dann handelt es sich um insgesamt 27 Tote und 141 Verletzte durch terroristische Gewalt in den vergangenen 50 Jahren. Der Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern zeigt, dass Österreich damit relativ „glimpflich“ davon gekommen ist: So forderte alleine der jahrzehntelange Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) in der BRD 67 Tote, 230 Verletzte, 230 Millionen Euro Sachschaden. Mehr als eine Million Asservate im Polizeiarchiv und elf Millionen Blatt Ermittlungsakten wurden zusammengetragen. Man verurteilte insgesamt 517 Personen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und 914 wegen Unterstützung. In Italien wurden die „bleiernen Jahre“, die Ende der 1960er Jahre begannen und bis Mitte der 1980er Jahre andauerten, zum Synonym für schrankenlose Gewalt: Bei acht größeren Sprengstoffanschlägen zwischen 1969 und 1987 wurden 419 Menschen getötet und 1.181 verletzt. Besonders blutig gestalteten sich auch separatistische Konflikte: Im Nordirlandkonflikt – zwischen republikanischen Gruppen und der britischen Armee bzw. protestantischen Organisationen – starben 1.778 Menschen, 642 davon waren Zivilsten.

Die Gründe, warum Österreich weniger betroffen war, sagen viel über die Verfasstheit der Zweiten Republik aus: Zunächst war in der Bevölkerung weder ein Potential, noch eine verständnisvolle Haltung für radikale politische Veränderung vorhanden. Unter dem Primat des „Wiederaufbaus“ nach 1945 seien „gehorsame Jahrzehnte“ gefolgt, so der Befund des Zeithistorikers Oliver Rathkolb: „Erst in den späten fünfziger Jahren regte sich Widerstand – vor allem in der Jugendkultur, der in den sechziger Jahren politisch geprägt war, ohne auch nur annähernd die Explosionskraft der Jugend- und Protestbewegungen in Frankreich oder auch der Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen.“ Vor dem Hintergrund der blutigen Auseinandersetzungen in der Zwischenkriegszeit war das System der Zweiten Republik bewusst auf die Herstellung von Konsens hin ausgerichtet. Institutionen wie die Sozialpartnerschaft oder die anteilsmäßige Verteilung von Macht und Einfluss im öffentlichen Dienst und der verstaatlichten Wirtschaft („Proporz“) garantierten Interessens- und Konfliktausgleich zwischen zwei annähernd gleich großen Parteiblöcken. Während in vielen anderen Ländern Reformen und gesellschaftlicher Wandel wesentlich konfliktträchtiger erkämpft werden mussten, erfolgte dies in Österreich in der Tradition des aufgeklärten Josephinismus – als ein von „oben“ vorangetriebener Modernisierungsprozess: Die Arbeits- und Strafrechts-, Hochschul-, Rundfunk-, Heeres- und Raumordnungsreformen der Ära Kreisky bedeuteten Weichenstellungen in politischer, sozialer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht – und verminderten so gleichzeitig Konfliktfelder, die anderswo einen „Nährboden“ für politische Gewalt darstellten.

Es gibt allerdings noch weitere Faktoren, die dazu geführt haben, dass Österreich als „Ruheraum“ und nicht als Schauplatz terroristischer Gewalt gilt. Im Gegensatz zum „Aktionsraum“ wird ein „Ruheraum“ (oder sanctuary) für Reisebewegungen, für Vorbereitungen von Operationen an anderen Orten oder einfach als Versteck genutzt. Anhand zahlreicher Beispiele, die im Verlauf dieser Studie noch vorgestellt werden, wird belegt, dass Österreich diese Funktionen für Terroristen erfüllte. Paradoxerweise gilt das Land gleichzeitig als „Spielweise“ internationaler Geheimdienste. Und darüber hinaus gerät die Bundeshauptstadt auch immer wieder als ein bevorzugter Wohn- oder Anlageort osteuropäischer Oligarchen, arabischer Potentaten und Mafia-Paten in die Schlagzeilen. „Wien war immer ein Rückzugsgebiet für Schmuggler und Verbrecher aller Art. Immer gab es auch politische Verflechtungen und daraus entstandene Freundschaftskontakte. Das alles hat sich im Wesen bis heute nicht verändert“, meinte dazu der ehemalige Leiter des Wiener Sicherheitsbüros Max Edelbacher. Die Frage, warum Wien so viele dubiose Gestalten anziehe, beantwortete Edelbacher so: „Da ist einmal das sehr einladende Bankensystem, diese balkanesische Gastfreundschaft und die Mentalität des Gebens und Nehmens. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Geld stinkt nicht in Österreich, da fragt niemand, woher das stammt.“

Dass Österreich zu einem „Ruheraum“ bzw. zu einem Umschlagplatz für geheimdienstliche Informationen und dunkle Geschäfte geworden ist, war nicht kalkuliertes Ergebnis einer offiziellen Politik. Dies erklärt sich vielmehr aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Zentrale geografische Lage, seit 1955 verbriefte Neutralität, diskrete Absprachen sowie bis in die Nachkriegszeit zurückreichende Abhängigkeiten, die schwer rückzubauen sind. Jedenfalls ist Österreich nach dem Ende des Kalten Krieges und „heute vielleicht sogar mehr denn je“ ein Zufluchtsort für undurchsichtige Gestalten geworden, brachten es Emil Bobi und Othmar Lahodynsky 2010 in „profil“ auf den Punkt: „Für diese Zielgruppe hat Wien historisch gewachsene Strukturen parat, die nicht nur diesen Gästen, sondern auch dem Land Vorteile bringen. Das ist zwar nicht immer sympathisch, aber fast immer nützlich.“

2014 ging Bobi in „Die Schattenstadt“ der Frage nach, warum Wien zudem „Welthauptstadt der Spionage“ geworden ist. Seine These: „Der Grund ist nicht, wie immer behauptet wird, der Kalte Krieg und nicht die Attraktivität der Stadt, sondern: Der Wiener und sein Wesen. […] Der Wiener ist ein Natur-Agent.“ Bobi erklärt das mit der Mentalität. Die „rätselhaften Packeleien mit der Halbwelt“ seien Produkt einer Überlebensphilosophie: „Den Vorteil nehmen, anstatt sich der Konfrontation auszusetzen, mitkassieren, statt anzustreifen. Man kann ohnehin nichts ändern, die Obrigkeiten nicht brechen; aber man kann sein eigenes Auskommen arrangieren.“

Das neutrale Österreich habe somit einen auf den ersten Blick paradox anmutenden Weg gefunden, für stabile Verhältnisse zu sorgen: Allen potentiellen „Unruhestiftern“ ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich wohlfühlen und ungestört ihren Aktivitäten nachgehen können – solange nichts „passiert“ und damit Österreichs Sicherheit betroffen ist. Dazu hält Bobi fest: „Spione sind willkommen und gegen die eine oder andere Gegenleistung erfahren sie alles, was man hier weiß. Dafür wird die Stadt selbst verschont: Die Geheimdienste, die Mafia-Größen, die Großkriminellen, die terroristischen Schläfer und die anderen Schattenfiguren der Macht nutzen Wien als Ruheraum, bringen ihre Schäfchen ins Trockene, genießen das Bankgeheimnis und das einschlägige Verständnis der Stadt für ihre Zielgruppe. Ihren Organisationen ist es strikt verboten, in dieser Stadt aufzufallen oder gar Schießübungen zu veranstalten. Tatsächlich ist Wien, verglichen mit der Dichte der anwesenden einschlägigen Personen, unverhältnismäßig ruhig.“

Nicht umsonst ließen die Behörden in den 1990er Jahren die Mafiapaten aus Osteuropa gewähren, so der Ex-Sicherheitsbürochef Edelbacher: „Wir konnten sie nur beobachten. Wir sind dann vor dem Hilton, dem Ana Grand Hotel, dem Marriott gestanden. Alles sinnlos. Wir durften zusehen, wie sie vorgefahren sind, aber nicht mithören, was sie dann im Hotel besprochen haben.“ Es habe tatsächlich so etwas wie ein Stillhalteabkommen gegeben: „Es wurde nicht groß an die Wand geschrieben, aber der geheime Slogan war, dass wer Ruhe gibt, auch Ruhe hat.“ Hier spielte auch die Schwäche spezialisierter Sicherheitsstrukturen hinein: Die Einsatzgruppe zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (EDOK) zählte damals rund 60 Mitarbeiter, darunter zwei mit akademischem Abschluss. Die überwiegende Mehrheit – rekrutiert aus Gendarmeriedienststellen und dem Wiener Sicherheitsbüro – musste sich nun mit komplexen Transaktionen und verdächtigen Personen herumschlagen, die in ihren Herkunftsländern Verbindungen in höchste politische Kreise unterhielten. Die Sondereinheit des Innenministeriums, so lautete die Kritik von Fachleuten, konnte die organisierte Kriminalität „nicht einmal beobachten, von einer effizienten Bekämpfung ganz zu schweigen“. In Österreich, so Edelbachers Fazit 2008, bestehen „relevante Strukturen organisierter Kriminalität“: „Sowohl die sizilianische Mafia, die Camorra als auch russische Gruppierungen haben sich in Österreich festgesetzt.“ Das Land diene primär als „Ruhezone“, „doch niemand weiß, wie sich dieses Phänomen weiterentwickeln wird“. Ungeachtet der Morde an den Geschäftsleuten Sergej Achmedow (1994) und Izrael Laster (1996) sowie dem georgischen Mafia-Paten David Sanikidze (1996) gilt Wien bis heute als „sicherer Hafen“ – oder wie es der Journalist Florian Horcicka formulierte: „Geschossen wurde lieber in Budapest, Warschau oder Bratislava – in Wien ging und geht es österreichisch-gemütlich ab – meistens jedenfalls.“

Wenn es dennoch „laut“ wird und kein anderer Ausweg bleibt, als sich einzumischen, macht die Republik oft keine besonders gute Figur: Am 13. Juli 1989 wurden drei Kurden in einer Wohnung in der Linken Bahngasse Wien ermordet. Abdul Rahman Ghassemlou und Abdullah Ghaderi-Azar, beides hochrangige Mitglieder der Demokratischen Kurdischen Bewegung (DPIK), waren gemeinsam mit dem Universitätsprofessor Fadul Rasoul von einem Killerkommando der Iranischen Revolutionsgarden in eine Falle gelockt worden.

Allerdings unterlief den Mördern im Zuge der kurzen Schießerei ein Missgeschick: Der Anführer des Kommandos, Mohammed Djafari-Saharoodi, wurde von einem Querschläger verletzt. Gemeinsam mit seinem Untergebenen Amir Mansour Bozorgian wurde er am Tatort aufgegriffen. Obwohl sich der Verdacht erhärtete, dass die Iraner am Blutbad zumindest beteiligt waren, erging gegen sie zunächst kein Haftbefehl. Bozorgian flüchtete sich sofort auf das exterritoriale Gelände der iranischen Botschaft, wo er dem Zugriff der Behörden entzogen war. Saharoodi wiederum durfte sobald es sein Gesundheitszustand erlaubte, das Land verlassen: 11 Tage nach dem Mord an den drei Kurden wurde er von einer Polizeieskorte zum Flughafen Schwechat gebracht, um nach Teheran zu fliegen. Bozorgian gelang dann wahrscheinlich im Dezember 1989 die Flucht: Zuvor hatte man die lückenlose Polizeiüberwachung vor der iranischen Botschaft, in die er sich geflüchtet hatte, auf Druck des Außenministeriums abgezogen. Die Furcht vor möglicher Vergeltung war zu groß gewesen. Man wollte die Beziehungen zum Iran normalisieren und „weitere Opfer“ vermeiden, wie Außenminister Alois Mock meinte.

Als sich 2007 eine junge Ukrainerin unter ungeklärten Umständen auf dem Grundstück der Wiener Villa von Saif Gaddafi (dem Sohn des gestürzten libyschen Diktators) lebensgefährlich verletzte, reiste dieser nur wenige Stunden später ab – an Bord des Jets eines österreichischen Bauunternehmers. Die Ermittlungen wurden ohnedies eingestellt. Am 14. Juli 2011 wurde der mit Interpol-Haftbefehl gesuchte ehemalige KGB-Offizier Michael Golowatow am Wiener Flughafen verhaftet. „Vertreter der russischen Botschaft bemühten sich sofort um den Festgenommenen, der Botschafter intervenierte telefonisch um 3.20 Uhr beim Wiener Oberstaatsanwalt Werner Pleischl und konnte eine Überstellung Golowatows in eine Justizanstalt verhindern. Wenige Stunden später war er frei und konnte ein Flugzeug nach Moskau besteigen“, berichtete die „Zeit“.

Schon fast zu einer Staatsaffäre ausgewachsen hat sich die Causa um Rakhat Alijev: Dieser war bis zur Zwangsscheidung Schwiegersohn des seit 1990 amtierenden kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew gewesen. Außerdem war er Hauptaktionär einer der größten kasachischen Banken, der Nurbank. Als zwei Manager dieser Bank 2007 verschwanden, verlangten die kasachischen Behörden von Österreich (wo Alijev damals Botschafter war) die Auslieferung. Weil erhebliche Zweifel daran bestanden, dass Alijev ein rechtsstaatliches Verfahren erwartete, wurde dies 2007 und 2011 verweigert. Dreimal soll der kasachische Geheimdienst KNB daraufhin eine Entführung Alijevs geplant haben. Österreich sei seinem Ruf, „der Tummelplatz schlechthin für Spione aller Herren Länder zu sein“, gerecht geworden, merkte Alijev in seiner Verteidigungsschrift „Tatort Österreich“ (2013) an: „Die illustren Aktivitäten der kasachischen Geheimdienste nahmen hierzulande nämlich die Züge eines schlechten James-Bond-Films an.“

Um die guten wirtschaftlichen Kontakte zwischen Österreich und Kasachstan nicht zu stören, wurde Aliyev 2011 aufgefordert, Österreich zu verlassen. Er tat dies mit einem eigens für ihn ausgestellten Fremdenpass und hielt sich danach in Malta auf. Erst nachdem der Anwalt Gabriel Lansky für seinen Mandanten – den Unterstützungsverein der Witwen der Mordopfer mit angeblichen Verbindungen zum KNB – Druck auf die Strafverfolgungsbehörden aufbaute, wurde ein Haftbefehl erlassen. Alijev wurde nach seiner Rückkehr nach Österreich im Juni 2014 verhaftet. Die Anklage gegen ihn und zwei kasachische Mitverdächtige wegen Erpressung, Freiheitsentzug, schwerer Nötigung und Mord hatte das Potential, „eines der größten Strafverfahren in der österreichischen Justizgeschichte zu werden („Tagesanzeiger“). Doch am 24. Februar 2015 wurde Alijev erhängt in seiner Gefängniszelle gefunden – Hinweise auf Fremdverschulden ergaben sich keine.

Mysteriös geblieben ist auch der Tod des ehemaligen libyschen Premierministers Shukri Ghanem: Am 29. April 2012 trieb dieser ertrunken in der Neuen Donau. Zuvor soll er laut Staatsanwaltschaft einen Herzinfarkt erlitten haben. Tatsächlich spricht vieles gegen die offizielle Version. Unter Gaddafi war Ghanem Chef der staatlichen Erdölgesellschaft gewesen und hatte die Kontrolle über zahlreiche libysche Investmentfonds. Laut den Recherchen von Florian Horcicka soll sich Ghanem im Wiener Exil geweigert haben, Gelder an den revolutionären Übergangsrat freizugeben. Daraufhin wurde ein Killerkommando in Marsch gesetzt. Dessen Einreise bzw. die Identitäten der Mitglieder sollen dem Wiener Landesamt für Verfassungsschutz schon im Vorfeld „detailliert“ bekannt gewesen sein. 2014 wiederum machte ein angebliches Mordkomplott gegen den ukrainischen Oligarchen Dmitro Firtasch die Runde. Firtasch, gegen den wegen Veruntreuung von 250 Millionen Dollar ein US-Haftbefehl vorliegt, sitzt bis zur Entscheidung über eine etwaige Auslieferung in Österreich fest. Zwischenzeitlich soll ein Killerkommando aus Ungarn und Rumänien eingereist sein, um Firtasch im Auftrag von geprellten Gegnern zu ermorden. Ein Staatsanwalt meinte dazu: „Ich habe mich nicht sonderlich gewundert, denn erstens kommt Firtasch aus dem Osten und zweitens ist viel Geld im Spiel.“

Ansonsten spielen sich Aktivitäten von „Schattenkräften“ diskret im Geheimen ab. Was etwa Spionage betrifft, so kann diese mittlerweile auf eine jahrzehntelange Tradition am Standort Wien zurückblicken. Nach Kriegsende 1945 hatten sich die Geheimdienste eingerichtet und blieben seitdem. Die Nähe zum Eisernen Vorhang prädestinierte die Stadt als Ausgangspunkt für Geheimoperationen, „Schleusungen“ und Kontaktstelle für Agenten beider Lager. Schaden für Österreich wurde schon damals nicht befürchtet. Die Sicherheitsbehörden, so der „Kurier“ 1983, gingen davon aus, dass „alles, was bei uns des Auskundschaftens wert wäre, längst ausgekundschaftet ist und es den Geheimdiensten bloß noch darum geht, sich über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten“. Mitte der 1980er Jahre waren rund 6.000 „einschlägige“ Personen registriert, darunter zirka 40 Prozent des Personals östlicher und einen geringeren Prozentsatz jenes westlicher diplomatischer Vertretungen. Doch die „Dunkelziffer“ wurde als doppelt so hoch angenommen. Die für Spionageabwehr zuständige Staatspolizei konnte dagegen gerade einmal 200 Beamte in Wien aufbieten. „Wie könnten wir denn da auch nur die geringsten Erkenntnisse gewinnen? Da müssten wir ja jeden einzelnen observieren – und das geht ganz sicher nicht“, kommentierte ein verantwortlicher Sektionschef das Missverhältnis.

Im Nachhinein stellte das für den früheren Innenminister Karl Blecha kein Problem dar: „Ist doch völlig Wurscht, wenn da einer auf einer Parkbank einem anderen ein Kuvert zusteckt! Was geht uns das an? Wir Österreicher nehmen das zur Kenntnis – und überwachen nur, dass diese Leute keine österreichischen Gesetze verletzen. Umgekehrt haben die gewusst, dass sie hier nichts unerkannt tun können. Wenn es Verletzungen dieser ungeschriebenen Agreements gab, dann sind wir eingeschritten.“ Österreich sei ein „bequemes Land“ für die Aktivitäten seines Dienstes gewesen, befand nicht umsonst Markus Wolf, der zwischen 1952 und 1986 die „Hauptverwaltung Aufklärung“ der Stasi geleitet hatte: „Wir konnten mit Diplomatenpässen einreisen, auch war es auf Grund des großen Fremdenverkehrs leicht.“ 

Fortsetzung folgt

Freitag, 5. Februar 2016

Ein Waffenlager im Schrebergarten: Das vergessene stay behind-Depot in Wien-Lainz

Ein Zufallsfund in Wien-Lainz lüftet eines der letzten Geheimnisse des Kalten Krieges in Österreich. Ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, wurde 2014 ein umfangreiches Waffen- und Sprengstoffdepot der britischen Armee geöffnet – aber erst jetzt lassen sich Hintergrund und Funktion bestimmen.

Eine beschaulich ruhige ehemalige Kleingartenanlage in Wien-Lainz am Rande des Hörndlwalds: Wer würde ausgerechnet hier eines der letzten Geheimnisse des Kalten Krieges in Österreich vermuten? Genau das trat am 14. Juni 2014 zutage: Eine zugezogene Familie hatte sich daran gemacht, in einem verwucherten Schrebergarten neu zu bauen. Das Wochenendhäusen der Vorbesitzerin war bereits geschliffen. Unter der Beton-Grundfläche in zwei Meter Tiefe stieß der Bagger plötzlich auf Wellblech. Als darunter stark verrostete Metallkisten und Patronen zum Vorschein kamen, war es für die herbeigerufene Polizei ihrerseits an der Zeit, den Entminungsdienst zu verständigen. Die „sachkundigen Organe“ bargen schließlich mehrere Dutzend kg Sprengstoff, acht bis zehn Munitionsbehälter, Sprengschnurrollen, in Plastik eingeschweißte Zünder und spezielle Exemplare für die Sabotage von Eisenbahnlinien (Fog Signal Igniter), Sten Mk6-Maschinenpistolen, FN-Pistolen, Bajonette, Stangenmagazine, Leukoplast sowie einen Erste-Hilfe-Kit mit Skalpellen, Injektionsnadeln und gläsernen Medizin-Fläschchen. 

Vor allem die Waffen befanden sich in erbärmlichen Zustand – lediglich in Holzkisten verpackt hatte die Lagerung in dem rotlehmigen und Hangwasser führenden Boden nicht gut getan. Die besser geschützte Munition war immer noch schussfertig. Und es bestand Explosionsgefahr – der Baggerfahrer hatte laut den zwischenzeitlich nervös gewordenen Entschärfern sogar Glück gehabt. Niemand durfte die „Rostleichen“ anfassen. Die Druckzünder beispielsweise waren immer noch scharf und hätten mit einer größeren Sprengstoffmenge auch heutige Lokomotiven zum Entgleisen gebracht. Die Bergung ging aber ohne Zwischenfälle zu Ende. Laut offizieller Auskunft vom Bundesministerium für Landesverteidigung wurden die „230 kg Kriegsmaterial“ anschließend vernichtet.



In Wien-Lainz gefunden: Zünder, Sprengschnur, Munitionsbehälter und Medizin-Flasche (von o. nach u. - Quelle: privat)

In Tageszeitungen wurde am 16. Juni 2014 kurz über den Fund von "Briten-Kriegsmaterial" berichtet: "Eine Metallkiste mit Munition, Bayonetten und zwei Pistolen." Tatsächlich war die Ausbeute viel umfangreicher und auch keiner der üblichen Zufallsfunde aus dem 2. Weltkrieg. Das zeigte schon die Zusammensetzung: Sprengstoff und Zubehör für Sabotage sowie die ikonische „Sten Gun“, der sich Spezialeinheiten und der antifaschistische Widerstand gerne bedient hatten. Eindeutig zu bestimmen war alles durch den „Broad Arrow“ – einem heraldisches Zeichen, mit dem britischer Regierungsbesitz ausgewiesen wird. Dieses Zeichen fand sich sowohl auf den Munitionskisten als auch auf den Medizinfläschchen. Somit scheidet der 2. Weltkrieg als „Ursprung“ aus – vielmehr war das Lainzer Depot Teil von Vorbereitungen für den Fall, dass aus dem Kalten Krieg ein „heißer“ geworden wäre. Das lässt sich mit Rückgriff auf vormals geheime Unterlagen im Wiener Staatsarchiv belegen.
Eines der wenigen erhaltenen Artefakte - Medizinfläschen mit dem "Broad Arrow" (Foto: Autor)
Französischer Partisan mit Sten Gun 1944 (Quelle: Wikimedia Commons)
Vorbereitung auf den „Tag X“
Ende der 1940er Jahre schien eine Invasion der Roten Armee jederzeit möglich. Hatten doch die Sowjets 1948 Berlin abgeriegelt und die Macht in Ungarn sowie der Tschechoslowakei an sich gerissen. 1950 entbrannte der Koreakrieg. Die immensen Spannungen, die sich zwischen den Supermächten aufbauten, spürte man im besetzten Nachkriegsösterreich besonders stark: Hier stießen Ost und West unmittelbar aufeinander, eine Teilung des Landes oder ein Putsch lagen in der Luft. In dieser Situation koordinierte die CIA in ganz Westeuropa ein dichtes Netz von Guerilla- und Partisaneneinheiten auf, das unter den Bezeichnungen „stay behind“ oder „Gladio“ (Deckname der italienischen Formation) geläufig geworden ist.

Dafür rekrutierte Agenten sollten im Kriegsfall hinter der Front aktiv werden. Ihre Aufgaben: Sabotage, Informationsbeschaffung und Durchschleusen von VIPs, abgeschossenen Piloten und Kriegsgefangenen. Damit am „Tag X“ alles bereit war, wurden Erddepots mit Waffen, Sprengstoff, Funkgeräten und anderer Ausrüstung angelegt. In Österreich wurden 1996 65 dieser geheimen Lager nach entsprechender Information durch die USA lokalisiert – 33 in Oberösterreich, 27 in Salzburg und fünf in der Steiermark. Das Kriegsmaterial hätte für bis zu 1.000 Mann gereicht. Weniger bekannt ist dagegen, dass auch die britische Besatzungsmacht solche Vorkehrungen traf – und zwar schon zu einem früheren Zeitpunkt als die USA. Vielleicht schon 1946/47 oder Anfang der 1950er Jahre legten die Briten in ihrer Zone Waffen- und Ausrüstungslager an und zwar fast ausschließlich in Kärnten. Es gab nur eine besondere Ausnahme – das nun gefundene Versteck in Wien-Lainz am Rande des britischen Sektors.
Britische Kommando-Soldaten 1942 in Frankreich (Quelle: Wikimedia Commons)
Einsatzgebiet Kärnten
Simon Preston, in den 1950er und 1960er Jahren Mitglied des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, gab 1996 der „Presse“ ein Interview. Er wäre im Falle einer militärischen Konfrontation mit dem Fallschirm über Österreich abgesprungen. 1952 führte Preston eine Mission nach Kärnten: „Wir waren vier Soldaten und hatten die Aufgabe, sechs geheime Waffendepots anzulegen.“ Pro Lager gab es einen österreichischen Verbindungsmann. Dieser hätte die Aufgabe gehabt, die britischen Agenten im Ernstfall zu den Verstecken zu führen.  

Erst 2014 hat der norwegische Historiker Olav Riste neue Belege veröffentlicht, wonach gerade britische Stellen kurz nach Kriegsende 1945 besorgt waren, dass es in Westdeutschland und Österreich zu sowjetischen Umsturzversuchen kommen könnte. Deshalb wurde die Installierung von Untergrund-Widerstandsnetzen in den britischen Besatzungszonen empfohlen. Im Oktober 1945 gaben die Stabschefs eine entsprechende Direktive heraus, wonach das Special Operations Executive (SOE) eine Organisation aufbauen sollte, die im Notfall schnell einsatzbereit wäre. Dafür sei es notwendig ein klandestines Kontakt- und Kommunikationsnetz vorzubereiten.

Das SOE war eine Sondereinheit für Einsätze hinter feindlichen Linien und hatte zwischen 1940 und 1946 Bestand. Priorität für das SOE, dessen Know-how bald in neuen Formationen aufging, hatten jene Länder, die bereits früh unter sowjetische Kontrolle zu fallen drohten, also Österreich und die BRD. Darüber hinaus befand sich gerade die britische Besatzungszone (Kärnten, Osttirol und Steiermark ohne Salzkammergut) in einer prekären Lage. Kurz nach Kriegsende 1945 war es zu gefährlichen Spannungen mit Jugoslawien gekommen, die erst 1948/49 abflauten, als Tito mit Stalin brach. Danach kam es für die Alliierten darauf an, die strategisch wichtige Laibacher Pforte – die Landverbindung zwischen Oberitalien, Südösterreich und Jugoslawien – gegen einen Vorstoß der Roten Armee zu halten. Die Depots in Kärnten dürften daher vor allem solchen Szenarien geschuldet gewesen sein. Zeitzeuge Preston wiederum hielt es für möglich, dass Waffen aus den Verstecken im Rahmen des Ungarnaufstandes 1956 tatsächlich zum Einsatz kamen. Er selbst war im Oktober 1956 als Agent in Budapest gewesen.
SOE-Agenten (3. und 4. von rechts) mit französischen Partisanen 1944 (Quelle: Wikimedia Commons)
1959: Die ersten Depots werden entdeckt
Im Unterschied zu den US-Lagern, die erst in den 1990er Jahren Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse wurden, flogen die britischen Pendants relativ früh auf. Am 18. Dezember 1959 wurden im Waldkogelgebiet nahe der Ortschaft Baierberg (Gemeinde Guttaring) mehrere mit Wellblech eingefasste Waffenbunker entdeckt – die Gendarmerie war darauf aufmerksam geworden, weil Einheimische in Uniformstücken herumgelaufen waren. Es handelte sich um US-amerikanische Waffen, Munition und Sprengstoff, Bekleidung, Verpflegung und Sanitätsmaterial. Angelegt worden waren die Depots von britischen Soldaten, die sich 1952 für drei Wochen in dem Gebiet aufgehalten hatten. Im Rahmen von Nachforschungen gab ein pensionierter Kärntner Gendarmerieoffizier 1960 Auskunft: „Die Bunker sind damals im Rahmen eins Manövers der britischen Truppen angelegt worden, wobei das Manövergelände für den Zutritt fremder Personen gesperrt worden sei. […] Während ein ähnliches Lager bei Arnoldstein, welches jedoch nur Munition enthalten habe, noch vor dem Abzug der britischen Besatzungsmacht geräumt wurde, seien die Bunker im Waldkogelgebiet offenbar vergessen worden.“

Hinweise aus Großbritannien
Nach diesem ersten Fund hatte die Nachrichtengruppe des Bundesministeriums für Landesverteidigung (BMfLV), Vorläufer des heutigen Heeresnachrichtenamts, insgeheim ermittelt. Man setzte sich mit den britischen Behörden in Verbindung, um herauszufinden, ob noch weitere Waffenlager bestünden. Der britische Militärattaché in Wien begab sich daraufhin nach London und richtete am 10. Februar 1960 aus, dass die „entsprechenden Pläne“ im Laufe der „nächsten Tage“ in Wien eintreffen würden: „Er übermittelte gleichzeitig das Ersuchen des britischen Militärischen Nachrichtendienstes, die Entleerung der Bunker tunlichst unauffällig vorzunehmen und Presseveröffentlichungen nach Möglichkeit zu verhindern.“

Die Heeresgeheimdienstler fügten die Puzzlestücke zusammen und analysierten bereits Ende Jänner 1960 zutreffend: „Die Anlage derartiger Depots wurde im Zuge vorsorglicher Räumungsmaßnahmen von besonders ausgebildeten Sonderkommanden in allen besetzten europäischen Ländern für den Fall der notwendigen Räumung vorgenommen. Die Depots hatten den Zweck, nach der Räumung der betreffenden Gebiete den dortigen Widerstandsgruppen hinter der feindlichen Front, bzw. den mit Flugzeugen abgesetzten eigenen Agenten bei dem Aufbau von Partisanen- (Untergrund-) bewegungen das notwendige Ausrüstungsmaterial zu bieten. Es ist als sicher anzunehmen, dass das jetzt in Kärnten aufgefundene britische Depot die gleiche Bestimmung hatte, umso mehr, als auch der US-Nachrichtendienst auf dem Gebiete der heutigen DDR nach der gleichen Methode bereits ähnliche Depots vorsorglich anlegte. “ Damit könnte das Project LCSTART gemeint sein, mit dem die CIA ab dem 21. Februar 1952 hinter dem Eisernen Vorhang in der DDR ein Programm für Sabotageeinheiten und andere paramilitärische Aktivitäten laufen hatte. Vorgesehen war eine weitere Operation mit dem Codenamen TEMPER zum Aufbau von Flucht- und Evakuierungsrouten bzw. zur Bildung eines Kerns für langfristigen Widerstand. Zu beiden Projekten sind bislang keine Unterlagen freigegeben worden.
Britischer Korporal mit Sten Gun im März 1945 (Quelle: Wikimedia Commons)
Waffen von „Südtirol-Aktivisten“ entwendet?
Im Juli 1965 kam es erneut zu einem öffentlichen Aufschrei: Nach „vertraulichen Mitteilungen aus der Bevölkerung“ wurde in  einem aufgelassenen Bergwerksstollen in der Nähe von Windisch-Bleiberg ein Depot sichergestellt, dessen Inhalt aber geplündert worden war. „Aus den erbrochenen Kisten konnte der Schluss gezogen werden, dass mindestens 30 Gewehre, einige Tausend Schuss MP- und Gewehrmunition sowie größere Mengen Sprengstoff in die Hand unbefugter Personen gelangt waren“, heißt es in einem Bericht der Sicherheitsdirektion Kärnten. 
Meldung der Arbeiter-Zeitung vom 31. 7. 1965 (Quelle: www.arbeiter-zeitung.at)
Der Verdacht kam auf, „Südtirol-Aktivisten“ könnten sich bedient haben. Die Staatspolizei schaltete sich ein und löste den Fall innerhalb von drei Monaten: Schüler der Fachschule für Handfeuerwaffen in Ferlach hatten die Waffen entwendet und teilweise weiterverkauft. Für die Kärntner Behörden war dies alles andere als ein Lausbubenstreich: „Im Interesse der inneren Sicherheit des Staates muss unbedingt verhindert werden, dass noch weitere Waffen- und Sprengstoffdepots von Unbefugten ausgeplündert werden. […] In welch dunklen Kanäle diese Waffen fließen könnten, ist gar nicht abzusehen. Unter den Schülern der bezeichneten Fachschule befinden sich zahlreiche deutsche Staatsangehörige, bei denen auf Grund ihrer größtenteils betont nationalen Einstellung eine Verbindung zu den Südtirol-Aktivisten keineswegs auszuschließen wäre.“

Die Stellen in Klagenfurt drängten das Innenministerium dazu, „ganz offiziell“ mit dem Verteidigungsministerium in Kontakt zu treten und „mit allem Nachdruck“ auf eine Herausgabe „allenfalls“ vorhandener Pläne und Informationen zu verlangen: „Der ho. Sicherheitsdirektion zur Kenntnis gekommene Informationen besagen, dass die ehemalige britische Besatzungsmacht alle von ihr im Bundesland Kärnten über die Ausrüstungs- und Waffendepots angelegten Pläne nach dem Abzug im Jahre 1955 den österreichischen Bundesheer übergeben haben soll. […] Offenbar hat das Bundesministerium für Landesverteidigung die Lage dieser Depots bisher deshalb geheim gehalten, um nicht Großbritannien gegenüber Jugoslawien auszuspielen und den Verdacht aufkommen zu lassen, dass Großbritannien sich für einen allfälligen Konflikt mit Jugoslawien vorbereitet habe. Eine Geheimhaltung ist jedoch jetzt keineswegs mehr am Platze, weil die Existenz derartiger Lager auf Grund der inzwischen in Guttaring und im heutigen Sommer wiederum in Windisch-Bleiberg gemachten Entdeckungen weitgehend bekannt ist.“
Kommando-Training in Schottland 1941 (Quelle: Wikimedia Commons)
Fast 20 größere Waffenlager in Kärnten
Am 16. November 1965 war es soweit: Vertreter des Innenministeriums und der Nachrichtengruppe trafen sich zu einer Besprechung, wobei letztere eröffneten, dass bereits 17 Lager „ausgeforscht und entleert“ worden waren. Das Lager in Windisch-Bleiburg sei ebenfalls bekannt gewesen, „doch sind die Gründe, warum dieses Lager nicht rechtzeitig entleert worden war, hier nicht bekannt“. Die Heeresspione klärten zudem auf, dass noch weitere 11 Lager existierten, die noch nicht geräumt worden seien. Aufgelistet wurden drei „Waffen-, Munitions- und Sprengmitteldepots“, sechs „Überlebendenlager, die lediglich aus „einem Mundvorrat, einer Pistole und einer Flasche Cognac“ bestanden sowie ein Lebensmittel- und Bekleidungsdepot bzw. ein Nachrichtendepot. Alle befanden sich bis auf eine Ausnahme – das Lager in Wien-Lainz – in Kärnten. 

Rechnet man die unbedeutenden Klein-Verstecke weg, so waren dort insgesamt fast 20 größere Waffenlager angelegt worden – und zwar in Hüttenberg, Guttaring, St. Gertraud, Wieting, St. Oswald, Diex, Krumpendorf und Windisch-Bleiberg. Allerdings liegen nur von vier Lagern Inhaltsverzeichnisse vor. Demnach waren neben umfangreichen Munitions- und Sprengstoffvorräten Waffen unterschiedlichster Herkunft gebunkert worden, darunter Lee-Enfield-Gewehre, Sten-Maschinenpistolen und kanadische M-35-FN-Pistolen, die in der Folgezeit von Offizieren und Unteroffizieren der Nachrichtengruppe als Dienstwaffen weiterverwendet wurden. In Klagenfurt konnte jedenfalls ein Schlussstrich gezogen werden – am 7. Dezember 1965 wurde vermerkt: „Es ist nunmehr anzunehmen, dass keine weiteren Lager der britischen Besatzungsmacht in Kärnten bestehen.“

Das vergessene Lager in Wien-Lainz
Damit stellt sich abschließend die Frage, warum das Wiener Depot bis 2014 Bestand hatte. Aufschluss darüber gibt ein Aktenvermerk vom 17. November 1965. Darin heiß es: „Die Anlegung dieses Lagers durch die britische Besatzungsmacht wurde durch einen Österreicher geduldet, der auf dem bezüglichen Grundstück ein Einfamilienhaus besitzt. Das Waffendepot wurde so angelegt, dass es erst nach Beseitigung einer Betonmauer zugänglich ist. Eine Gefahr des Auffindens durch Unbefugte besteht nicht. Das BMfLV übernimmt die Verantwortung, dass Unbefugte nicht zu dem Waffenlager gelangen und dieses anlässlich eines zu erwartenden Umbaues des Einfamilienhauses in den nächsten ein bis zwei Jahren auch tatsächlich geräumt wird.“

Nicht alle Details stimmen hier: Tatsächlich befand sich das Objekt – ein ebenerdiges, kleines Wochenendhäuschen – seit 1952 im Besitz einer alleinstehenden Frau, die 2010 im Alter von 91 Jahren verstorben ist. In der Nachbarschaft kursieren bis heute Gerüchte, wonach sie im Innenministerium Karriere gemacht habe, was sich nicht belegen lässt. Ihr ebenfalls verschiedener Bruder hatte im 2. Weltkrieg bei den Gebirgsjägern gedient und war danach Bundesheer-Reserveoffizier. Ob er jene Person sein könnte, die im Dokument genannt wird, lässt sich ebenfalls nicht nachweisen. Die Gegebenheiten am Fundort passen jedenfalls zu der Beschreibung: Die Beton-Platte, auf dem das Häuschen stand, war größer als dessen Grundfläche und zweigeteilt - im vorderen Bereich fand sich ein Metalldeckel mit Griff, der einen darunterliegenden engen Schacht verschloss. Dieser wiederum war mit Ziegelsteinen ausgemauert und verfügte selbst über einen dünnen Beton-Boden. Darunter waren schließlich die mit Wellblech abgedeckten Waffen und der Sprengstoff. Aus dieser Anordnung ist zu schließen, das das Lager "zuerst" da war - als dieser Geländeabschnitt noch bewaldet und nicht parzelliert war. Betonfläche und Häuschen wurden nachträglich darüber errichtet und das Geheimnis so gewahrt. Dazu passt auch, dass die Besitzerin zeitlebens keinen Wasser-, Kanal- und Stromanschluss vornehmen ließ. 
Der Fundort - der Deckel zum Schacht ist rechts im Vordergrund der Betonfläche zu sehen (Quelle: privat)
Das Depot in Wien-Lainz ist wahrscheinlich in den späten 1940er Jahren angelegt worden, als die Besorgnis über sowjetische Absichten bei britischen Stellen besonders ausgeprägt war. Diesen Befund legt der Inhalt nahe - die aufgefundenen Waffen und der Sprengstoff waren vom Typus her im 2. Weltkrieg im Einsatz gewesen. Nach Erschließung des Geländes wenige Jahre später fand man offenbar eine pragmatische Lösung, indem das Wochenendhäuschen einer vertauenswürdigen Person über dem Versteck errichtet wurde. Anders als angekündigt wurde das Depot auch später nicht geräumt - vielleicht befürchtete man zu viel Aufsehen oder wollte abwarten.



Die Munition wäre immer noch verwendbar gewesen - die "doppelte" Lagerung in Holz- und Metallkisten hat die Patronen gut konserviert - die Waffen hingegen waren völlig verrostet (zweites Bild von oben - Quelle: privat)
Das Depot befand sich hier – im schwer einzusehenden „Außenposten“ der Kleingartensiedlung – an einem „perfekten“ Platz. Das wird deutlich, wenn man die nähere Umgebung miteinbezieht. Dort fallen einige neuralgischer Punkte ins Auge: So hätte ein Sabotagetrupp etwa die Verbindungsbahn im Wien-Tal sprengen können. Was heute Teil des S-Bahnnetzes ist, verband bis 2010 die West- und Südbahn bzw. die Süd- und Nordbahn. Ein weiteres lohnenswertes Ziel könnte die ursprünglich als Stadtautobahn konzipierte Schrutkagasse dargestellt haben, eine wichtige Süd-West-Achse. Vom Versteck war es außerdem nicht weit zu wichtigen britische Stellen – einem Lazarett im heutigen Geriatriezentrum am Wienerwald, der Fasangartenkaserne (heute: Maria-Theresienkaserne) und dem Hauptquartier des britischen Hochkommissars in Schönbrunn. Nah war auch der Gegner – der Lainzer Tiergarten, der sich im Westen an den Hörndlwald anschließt, war Teil des sowjetischen Sektors mit der Hermesvilla als nächsten Stützpunkt. Ebenso in sowjetischer Hand war die „Friedensstadt“, eine Siedlung gleich auf der gegenüberliegenden Seite des Hörndlwalds.
Ebenfalls erhalten geblieben: Ein Bajonett (Quelle: Autor)
Wie sich die Sabotageaktionen in der Realität abgespielt haben könnten, kann man in „Der totale Widerstand. Kleinkrieg für jedermann“ nachlesen. Das 1957 vom Schweizer Major Hans von Dach konzipierte Handbuch gibt detaillierte Anleitungen für den „letzten und äußersten Verzweiflungskampf“ gegen eine Besatzungsarmee: Die Bildung von Zellen, die richtige Bewaffnung, die Kommunikation über „tote Briefkästen“ oder das Verhalten bei Verhör und Folter. Der „totale Widerstand“ wurde international zum Bestseller und inspirierte auch Guerillaorganisationen, Rechtsextremisten und linksradikale Terrorgruppen wie die Rote Armee Fraktion. Und – ein Exemplar von „Der totale Widerstand“ wurde in einem britischen stay behind-Depot in der BRD gefunden – als Handlungsanleitung. So heißt es beispielsweise im Abschnitt „Angriff auf das Eisenbahnnetz“:

„Auf offener Strecke werden die Geleise immer in einer Kurve gesprengt. Gründe:
- Gebogene Schienen sind schwerer zu ersetzen als gerade.
- In Kurven entgleisen Züge leichter (Zentrifugalkraft!).
- Das Zugspersonal vermag Breschen im Schienenstrang später und schlechter zu erkennen als auf gerader Strecke.
- Sprenge immer den äußeren Strang. So treibt die Zentrifugalkraft den heranbrausenden Zug an der Zerstörungsstelle leichter aus den Schienen und wirft die Trümmer gleichzeitig auf das Nebengeleise. Fahrtrichtung der Züge im regulären Verkehr: Links.“
Britische Kommandos sabotieren ein Eisenbahngleis in Korea 1951 (Quelle: National Archives and Records Administration/Wikimedia Commons)
Konkret wurde das Handbuch 1996 in einem Depot im Berliner Grunewald, rund einen Kilometer westlich der US-amerikanischen Abhörstation auf dem Teufelsberg, gefunden. Dieses enthielt an zwei Stellen außerdem Container mit drei Pistolen samt Munition, drei Handgaranten, einen Kompass, militärische Karten, eine Funkanlage samt Verschlüsselungsunterlagen, Verbandszeug. Anders als im Vergleich zu Österreich ist die Geschichte der britischen Verstecke in der BRD und West-Berlin bislang noch nicht aufgeklärt. Trotz intensiver Suche konnten in Unterlagen genannte weitere Depots nicht gefunden, was den Verdacht nährt, diese könnten von Dritten geleert worden sein. Wie Erich Schmidt-Eenboom und Ulrich Stoll in ihrem Buch „Die Partisanen der NATO“ (2015) betonen, „bleibt auch der genaue Umfang der britischen Stay-Behind-Aktivitäten in den 1950er Jahren im Dunklen“.

In Österreich dürfte mit dem Zufallsfund in Wien-Lainz dürfte nun das letzte der britischen Lager geleert sein. Ein Grund mehr, die Diskussion darüber, wie sehr das Land vor und auch nach 1955 in den Blockkonflikt involviert gewesen ist, neu und umfassend zu führen.

Funde in Wien-Lainz: Deckel einer Munitionskiste, Eisenbahn-Zünder, Reste von Sten Guns, FN-Pistolen, Bajonette und Stangenmagazine (von o. nach u. - Quelle: privat)

Weiterführende Literatur:
Walter Blasi/Wolfgang Etschmann, „Überlegungen zu den britischen Waffenlagern in Österreich“, in: Walter Blasi, Erwin A. Schmidl, Felix Schneider (Hg.), B-Gendarmerie, Waffenlager und Nachrichtendienste. Der militärische Weg zum Staatsvertrag, Wien 2005, 139–153.
Erwin A. Schmidl, Österreich im frühen Kalten Krieg, in: Dieter Krüger, Felix Schneider (Hg.), Die Alpen im Kalten Krieg. Historischer Raum, Strategie und Sicherheitspolitik, München 2012, 109-129.