Am
1. Mai 1981, vor 35 Jahren, wurde der Wiener Stadtrat Heinz Nittel von
Terroristen erschossen. Er ist bis heute der einzige Politiker der 2. Republik,
der einem Anschlag zum Opfer gefallen ist. Mehr als drei Jahrzehnte nach den
Schüssen in Hietzing herrscht in Österreich wieder Terrorangst. Die Explosionen
in Brüssel am 22. März 2016 haben die Bedrohung unterstrichen, die nunmehr von
Seiten radikaler Islamisten kommt. Auch wenn die Nittel-Mörder im Vergleich von
einer säkularen Organisation stammten, so gibt es doch viele Parallelen zum
Heute: Die Brutalität sowie das Kalkül, mit der Verbreitung von Angst und
Schrecken einen Politikwechsel zu erzwingen. Der Tod Heinz Nittels stand
insofern am Anfang einer längeren Periode von Gewalt, die das bis dahin als
„Insel der Seligen“ bekannte Österreich nachhaltig erschütterte.
Gedenktafel am Turm des Wiener Rathauses (alle Fotos: Autor) |
Es hat an diesem
Freitag-Vormittag leicht geregnet: Um 06.45 Uhr ist Chauffeur Herbert R. in die
Bossigasse in Wien-Hietzing bestellt. Dort sollt er seinen Chef, den
Amtsführenden Stadtrat Heinz Nittel, von Zuhause abholen und zum Liebenbergdenkmal
im 1. Bezirk bringen. Nittel und seine Gattin wollen sich anschließend in eine
Gruppe von Straßenbahnern einreihen, um dann zum „Tag der Arbeit“ auf dem
Rathausplatz einzuziehen. Doch soweit sollte es nicht kommen. Gegen 7 Uhr kommt
Nittel – in grüner Joppe und einem „Bergsteigerhut“ – zum Wagen und nimmt am
Beifahrersitz Platz. Man wartet noch auf Frau Nittel. Genau in diesem Moment
fallen drei Pistolenschüsse aus nächster Nähe. Der Schütze hatte sich zuvor auf
dem Gehsteig zwischen Bossigasse und dem Wohnhaus genähert und mit einer
Pistole durch die Scheibe gefeuert. Nittel ist auf der Stelle tot. Der
Chauffeur bleibt unverletzt und bekommt alles aus nächster Nähe mit: „Ich sah
sofort, dass der Stadtrat am Kopf getroffen wurde. Er rutschte etwas seitlich
zu mir und sein Kopf hing etwas nach der linken Seite. […] Noch während die
Schüsse abgegeben wurden und ich das Fensterglas des Wagens zersplittern hörte,
beugte ich mich tief nach vor, um gegen die Schüsse Deckung zu haben.“ Der
geschockte Fahrer sieht noch einen Unbekannten, der sich eine Kapuze über den
Kopf gezogen hatte, weglaufen - „ganz locker, wie ein Jogger“.
Gedenkstein am Roten Berg - unweit vom Tatort |
„Appartschik
als Supermann“
Die Nachricht vom
Tode des 51jährigen Stadtrates stieß auf ungläubiges Entsetzen. Auf dem Rathausplatz
wurde gegen 08.10 Uhr mitten in den Mikrofonproben verlautbart: „Der heutige Maiaufmarsch
der Wiener SPÖ ist abgesagt.“ Stattdessen fand eine improvisierte Trauerkundgebung
statt. Während die Fahnen auf Halbmast wehten, erklärte Bürgermeister Leopold
Gratz, dass es noch zu früh sei, „zu sagen oder auch zu vermuten, was hinter
diesem unerklärlichen Mordanschlag steckt. Aber eines sollten wir mit aller
Deutlichkeit jenen sagen, denen unser Land und unsere Demokratie am Herzen
liegt: Erkennen wir, dass das eine Mahnung ist an alle, die in der politischen
Auseinandersetzung die extreme Personalisierung und nicht nur die politische
Gegnerschaft, sondern den politischen Hass erzeugen.“ Gratz spielte darauf an,
dass Nittel in seiner Eigenschaft als Wiener Verkehrsstadtrat nicht unumstritten
gewesen war. Eine von ihm befürwortete Flötzersteig-„Autobahn“ hatte Proteste
hervorgerufen. Der Stadtrat erhielt Drohbriefe. Von diesen Querelen abgesehen
galt Nittel als pragmatischer Macher. Der Nichtraucher, Anti-Alkoholiker und Präsident
der Arbeiterfischer saß seit 1976 in der Stadtregierung. Ab 1979 war er für die
Geschäftsgruppe Straße, Verkehr und Energie zuständig. profil-Journalist Alfred Worm bescheinigte Nittel einmal den
„politischen Charme einer Großkläranlage“, streute dem „Realist(en) im
sozialistischen Wiener Rathaus“ aber gleichzeitig Rosen: „Appartschik als
Supermann“.
Warum nun ausgerechnet
Nittel einem Mord zum Opfer gefallen war, darauf konnte sich zunächst niemand
einen Reim machen. Bundeskanzler Bruno Kreisky dachte gar an ein Attentat der
Wiener Unterwelt – auf der Mariahilfer Straße war er im Dienstwagen einmal selbst
in einen Schusswechsel geraten. Der damalige Innenminister Erwin Lanc erinnert
sich noch heute an die aufgeregte Stimmung: „Es ist alles Mögliche herumgeraten
worden. Ein Kolumnist ist ganz aufgeregt zu mir gekommen: Da waren vorher
einige Demonstrationen von 15- bis 17jährigen, die ‚keine Macht für Niemanden‘
gefordert haben. Und mir hat man den Vorwurf gemacht, dass ich nicht
entsprechend dreinhauen habe lassen. Der Journalist hat mich gefragt: ‚Waren das
nicht die?‘ Und ich habe gesagt, ‚das waren sie sicher nicht.‘ Daraufhin hat er
geschrieben: ‚Was ist das für ein Innenminister, der weiß schon jetzt, wer es
nicht war, er soll wissen wer es war.‘“
Auf seiner Flucht ließ der Mörder in dieser Hecke seine "NATO-Jacke" zurück |
Kreiskys
Nahostpolitik und ihre Feinde
Schon am 3. Mai 1981
war ein obskures Bekennerschreiben einer palästinensischen Terrorgruppe
eingelangt, das in der Debatte lange bagatellisiert wurde. Dabei hatte die Spur
Substrat: Der konfessionslose Nittel war ab 1978 Präsident der
Österreichisch-Israelischen Gesellschaft (ÖIG) und Mitbegründer des Jewish Welcome Service. Er trat für
Solidarität mit Israel ein – was ihn mitunter in Gegensatz zu Kreisky brachte, der
mit der Sache der Palästinenser sympathisierte. Dieses Engagement Kreiskys
verfolgte auch das Ziel, präventiv Sicherheit zu schaffen. Denn als Transitland
für die jüdische Emigration aus dem Sowjetblock nach Israel war Österreich
damals in den Nahostkonflikt involviert: Mehrmals hatten arabische
Terrorgruppen Geiselnahmen von Auswanderern geplant oder durchgeführt. Daher
stärkte Kreisky dem als „gemäßigt“ geltenden Vorsitzenden der Palästinensischen
Befreiungsbewegung (PLO), Jassir Arafat, den Rücken.
1976 hatte der
Bundeskanzler, von einer Nahost-Reise zurück, seine Strategie im Rahmen einer
Pressekonferenz umrissen – es sei wesentlich, die PLO aus dem Untergrund „ins
Licht der vollen Verantwortung“ zu holen: „Sie hat jetzt bei den Vereinten
Nationen Beobachterstatus und kann nicht mehr ignoriert werden. In dem Maße, in
dem sich eine solche Organisation aber Gehör verschaffen kann, ist für sie
Terror nicht mehr notwendig.“ Von der OPEC-Geiselnahme habe sich die PLO
ohnedies glaubwürdig distanziert: „Der Überfall sei von der sogenannten ‚Front
der Ablehnung‘ begangen worden.“ In den darauffolgenden Jahren protegierte
Kreisky einen geheimen Dialog zwischen PLO-Emissären und der israelischen
Friedensbewegung. Er sorgte für die Vernetzung von PLO-Repräsentanten mit
Entscheidungsträgern der Sozialistischen Internationale (SI) und fungierte als
Gastgeber für die ersten Empfänge Arafats auf dem diplomatischen Parkett. Vor
allem aber erkannte Österreich als erster westlicher Staat die PLO 1979
offiziell an, um damit eine internationale Vorbildwirkung zu entfalten. Auf
diese Weise sollte es Arafat möglich sein, die innerlich zersplitterte PLO
hinter einer friedlichen Lösung des Konfliktes zu vereinen und letztlich auch
Terror von Österreich fernzuhalten.
Doch diese Rechnung
ging nicht auf: Unterstützt von Syrien, Irak und Libyen wollte der
PLO-Abtrünnige Sabri al-Bana – genannt Abu Nidal („Vater des Schreckens“) – jede
Entspannung verhindern. Und deshalb traf sein stark antisemitisch motivierter Terror
gerade auch Länder wie Österreich, die sich um Vermittlung bemühten. Seit Ende
der 1970er Jahre befanden sich hier „Schläfer“ der Abu-Nidal-Organisation (ANO).
Einer von ihnen war der 1960 in Bagdad geborene Husham Rajih. Auf der Suche
nach „zionistischen Zielen“ in Österreich fiel Rajih am 24. Februar 1981 eine
Kurzmeldung in der Arbeiter-Zeitung
auf. Darin wurde über einen Tel Aviv-Besuch Nittels in seiner Eigenschaft als
ÖIG-Präsident berichtet. Rajih verständigte seinen Führungsoffizier, der den
Vorschlag an die Zentrale der Abu-Nidal-Organisation in Bagdad weiterleitete.
Ungefähr nach einer Woche kam das ok. „Nittel“, so Rajih später bei einer
Vernehmung, „war aus verschiedenen Gründen ein interessantes Ziel für uns, da
er einerseits Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft war,
weiters ein sozialistischer Politiker war, der nach unserer Ansicht der
österreichischen Vermittlertätigkeit PLO-Israel einen Anteil hatte und
zusätzlich seine internationale Bedeutung nicht so groß war, dass ein Negativeffekt
wie ja allenfalls bei Kreisky zu befürchten war.“
Bevor Rajih zuschlug,
hatte er die Lebensgewohnheiten Nittels ausgekundschaftet – weil ihm die
Telefonauskunft zunächst keine Adresse geben wollte, besuchte er eine Bekannte
an ihrem Büroarbeitsplatz. Dort nutzte Rajih eine Gelegenheit, um über das
Firmen-Telefon anzurufen. Diesmal klappte es, und er bekam die Info. Der „Tag
der Arbeit“ wurde dann von Rajih bewusst als passender Zeitpunkt für das
Attentat ausgewählt, „weil wir annahmen, dass Nittel bei den diversen Maifeiern
anwesend sein würde und daher irgendwann sein Haus verlassen musste.“ So war es
dann auch.
„Warnung
an Kreisky“
Am 25. Mai 1981
konnte das Nachrichtenmagazin profil
mit einer sensationellen Meldung aufmachen. Das Magazin hatte nach
Bekanntwerden des ersten Bekennerflugblattes eine freie Journalistin damit
beauftragt, im Nahen Osten zu recherchieren. Über Quellen bei der PLO in Beirut
gelang es Renate Possarnig, mit der ANO in Kontakt zu treten. Sie führte mit
drei Mitgliedern in deren offiziellen Büro in Damaskus ein zweistündiges
Interview. In dessen Verlauf bekannten sich die ANO-Leute zum Mord an Nittel:
„Die Gründe, die uns veranlasst haben, diesen Mann hinzurichten, sind: Er hat
Aktivitäten gegen die Palästinenser in Wien unternommen. Zweitens: Er hat
Spionage gegen die Palästinenser betrieben. Drittens: Er hat die Rolle eines
Vermittlers zwischen Personen in der Führung der PLO und den Zionisten
übernommen. Nittel hat Zusammentreffen in Wien und außerhalb Wiens arrangiert.
Das betrachten wir als aggressive Handlung.“ Possarnigs Gesprächspartner
sprachen von einer „Warnung an Kreisky“ und kündigten an, auch den
Bundeskanzler zu töten, falls dieser seine „Vermittlertätigkeit zwischen Israel
und der PLO nicht einstellt“ – „Wenn er seine Verschwörungen gegen das
palästinensische Volk nicht aufgibt, werden wir auch ihn umbringen.“
Lässt man die völlig
abstrusen Rechtfertigungsversuche außer Acht, so war das Kalkül der Terroristen
klar. Am 16. Juni 1981 berichtete Lanc der Regierung zum diesbezüglichen
Ermittlungsstand: „Es ist jetzt eindeutig erwiesen, dass es sich um die
Terrorgruppe Abu Nidal, die vom Irak gesponsert wurde, handelt. Die PLO hat Abu
Nidal selbst zum Tode verurteilt. Der Irak hat sich dann auch von dieser
Terrorgruppe zurückgezogen, deren Operationssitz und die Unterstützung
finanzieller Art erfolgt jetzt in Syrien. Das erklärte Ziel ist es,
PLO-Botschafter, Moderate, Arafat, Nittel und Kreisky zu ermorden. Nittel hat
bei einer Pressekonferenz im Februar dieses Jahres in Israel mitgeteilt, dass
es ihn freut, dass immer mehr wachsende Verhandlungsbereitschaft Israels zu
einer friedlichen Lösung vorliegt. Genau aber eine friedliche Lösung will diese
Terrorgruppe unter gar keinen Umständen.“ So notierte es ein
Sitzungsteilnehmer, Handels- und Industrieminister Josef Staribacher, in sein Tagebuch.
Die erwähnte Drohung
gegen das Leben Kreiskys war ernst – „seit Anfang Juni 1981 bestehen
Informationen“, dass die ANO „ein Attentat gegen den österreichischen
Bundeskanzler durchführen will“, heißt es in einem staatspolizeilichen
Schreiben, das direkt an den Kabinettschef ging. Um „optimale Sicherheit“ auch
im Bundeskanzleramt zu gewährleisten, würden seit dieser Zeit „verschärfte
Kontrollen“ durchgeführt. Allerdings seien bei den Pressegesprächen im
Anschluss an den Ministerrat auch Journalisten anwesend, die „unbekannt“ wären
– und weil Kreisky dafür bekannt sei, „auf Tuchfühlung“ zu gehen, ergäben sich
daraus „Probleme“. Daher wurden „ansteckbare Legitimationen“ angeregt. Aber
nicht nur der Arbeitsplatz des Bundeskanzlers wurde gesichert, auch rund um
dessen Privatwohnung in der Armbrustergasse zog man einen engen Kordon.
Die Kreisky-Villa in der Armbrustergasse heute |
Der Polizei ins Netz
ging der Nittel-Attentäter Rajih am 29. August 1981 – als er gemeinsam mit dem 25jährigen
Palästinenser Marwan Hassan versuchte, in den Wiener Stadttempel einzudringen.
Wäre dies den beiden ANO-Leuten gelungen, hätten sie ein Massaker unter den
Gläubigen angerichtet, die sich gerade zur Bar-Mizwah-Feier für den zwölfjährigen Sohn eines
„Schöps“-Teilhabers versammelt hatten. Glück im Unglück war, dass die
Tempelwächter das Tor noch geistesgegenwärtig verschlossen. Vor dem Gebäude
wiederum hatte der anwesende „Schöps“-Besitzer seinen Leibwächter zurückgelassen
hatten. Dieser 28jährige Mann schoss zurück, als die beiden Terroristen auf
eine Menschenansammlung vor der Synagoge feuerten und Handgranaten warfen.
Während sein Kollege schwer verletzt zusammenbrach, konnte Rajih noch ein paar
Gassen weiter flüchten, bis ihn ein Polizist stellte. Die Opferbilanz betrug zwei
Tote und 22 Verletzte. Ein paar Wochen später, am 28. Oktober 1981, klickten dann
auch für den ANO-Führungsoffizier Bahij Younis in seinem Salzburger Versteck die
Handschellen.
Die Synagoge in der Seitenstettengasse |
Falls die Terroristen
geglaubt hatten, sie könnten Kreisky zu einer Haltungsänderung zwingen, lagen
sie falsch. Am 1. September 1981, wenige Tage nach dem Synagogenanschlag, protokollierte
Staribacher folgende Aussage des Bundeskanzlers: „Obwohl er keine
Vermittlerrolle anstrebt, denn dazu müssten ihn ja beide also auch die Israeli
ersuchen. Er wird keine opportunistische Politik machen, er hält die Idee nicht
dabei zu sein, sozusagen sich zu distanzieren falsch. […] Kreisky meint, was
immer er gesagt hat, ist ihm auch recht, er will niemanden auf seine Politik
binden, doch er wird sie wie bisher fortsetzen. Kreisky meint auch, die
Regierungsmitglieder sollten darüber berichten, wenn sie sich damit nicht identifizieren
können, ist es ihm auch recht, wenn man sozusagen schweigt. Für Österreich hat
diese arabisch-freundliche Politik große wirtschaftliche Vorteile. Die Araber
sind nicht nur mit zwei Drittel die Energielieferanten der Welt, sondern auch
die größten Weltgeldgeber. Schon aus diesen wirtschaftlichen Gründen können die
Araber daher nicht politisch unterlegen. Seine Politik sei nicht Rechthaberei
und schon gar nicht Altersstarrsinn, sondern durch diese ökonomische, aber auch
politische Situation begründet und werde fortgesetzt.“
„Ich
werde mich nicht beugen“
Nicht viel anderes
argumentierte Kreisky, als ihn ein Journalist provokant fragte, ob nicht die Nahostpolitik
für den Tod von Nittel und der beiden Opfer des Synagogenanschlags
verantwortlich sei: Eben weil er über gute Kontakte in den Nahen Osten verfüge,
sei Österreich bislang vom Terror verschont geblieben: „Es gibt Hunderte
Menschen, die heute am Leben sind, weil wir diese Politik betrieben haben.
Vergessen Sie nicht, welche Bürde wir auf uns genommen haben, als wir uns
bereit erklärten, russischen Juden die Ein- und Weiterreise zu ermöglichen.“
Den Einwand des Redakteurs, wonach dies wohl eine „Selbstverständlichkeit“ sei,
ließ Kreisky nicht stehen: „Ja, aber den Umstand, dass es bisher keinen einzigen
Toten gegeben hat – wobei ich nicht weiß, was die Zukunft bringen wird – ,
buche ich nicht zuletzt darauf, dass es dieses gute Verhältnis zur PLO gegeben
hat.“ Der Zukunft sehe er allerdings „mit großer Besorgnis“ entgegen, mahnte
Kreisky: „Wir stehen am Anfang einer neuen Terrorwelle“ und fügte im
kämpferischen Ton hinzu: „Ich werde mich nicht beugen, ich weiche nicht der
Gewalt“. Mit letzterem Hinweis meinte Kreisky seine eigene nahostpolitische
Linie gegenüber der PLO, an der auch dann festzuhalten sei, „wenn damit gewisse
Gefahren verbunden sind“ – „man kann nicht sozusagen den Extremisten recht
geben und sich von ihnen einschüchtern lassen.“ Kreisky hielt hier auch Wort,
wenngleich er Arafat zunehmend illusionslos gegenüberstand. Nach seinem Rücktritt
1983 wurde die aktive Nahostpolitik allerdings schrittweise aufgegeben. Mit dem
Wechsel des Außenamts zur ÖVP (1987) erfolgte eine grundsätzliche
Neuorientierung hin zu europäischen Belangen.
Ein
ungesühnter Mord
Was im Falle der
inhaftierten ANO-Attentäter weiters geschah, ist kein Ruhmesblatt für den Rechtsstaat:
Anfang 1982 wurden Rajih und Hassan je zu Lebenslang verurteilt. Rajih, den man
auch wegen des Mordes an Nittel angeklagt hatte, wurde hier „nur“ wegen Beihilfe
verurteilt. Dass die Geschworenen zu diesem Schluss kamen, hing damit zusammen,
dass Rajih sein ursprüngliches Geständnis widerrufen hatte („Ich habe lediglich
die Tat selbst nicht getan“). Der Prozess gegen Younis musste gleich dreimal
wiederholt werden – 1984 kassierte er wegen „entfernter Mittäterschaft“ 20
Jahre Haft. Hinter den Kulissen lief danach ein schmutziges Spiel ab: Abu Nidal
wollte vor allem Younis freipressen. Ende 1985 griff seine Organisation den
El-Al-Schalter in Wien-Schwechat an – wiederum starben vier Menschen und 39
wurden verletzt. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, vereinbarte man einen
„Waffenstillstand“: Zwecks Betreuung „gefangener Kameraden“ wurde es der ANO erlaubt,
unter strengster Geheimhaltung einen „Botschafter“ in Wien zu platzieren. Bis 1993
kamen abwechselnd fünf ANO-Leute. Die zugewiesene Wohnung, zuerst in der
Koppstraße, dann in der Viaduktgasse und schließlich in der Geblergasse, wurde
„rund um die Uhr“ überwacht. Anschläge ereigneten sich keine mehr. Auch gelang
es, Forderungen nach vorzeitiger Entlassung von Younis auf die lange Bank zu
schieben. Erst nachdem er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hatte, durfte
er 1995 das Gefängnis verlassen. Rajih hingegen wurde 1994 an Belgien
überstellt, weil er in Verdacht stand, dort einen PLO-Vertreter ermordet zu haben.
Die Verdachtslage war dünn. Trotzdem wurde er ohne Bedingungen ausgeliefert. 1996
ging Rajih tatsächlich frei und tauchte prompt im Nahen Osten unter – der Mord
an Heinz Nittel ist damit ungesühnt.
Eine der ANO-Wohnungen befand sich hier in der Vidaduktgasse |
Heute:
Schrankenloser Terror
Heute ist Österreich
wieder vom Terror bedroht. Die Attentate der ANO waren war noch zum Teil von
staatlichen Hintermännern gesteuert und sollten ein bestimmtes Ziel
durchzusetzen – Österreich, davon abschrecken, sich für eine Friedenslösung in
Nahost starkzumachen. In den mehr als drei Jahrzehnten seitdem ist Terrorismus
zu einer Bedrohung für „alle“ geworden – niemand soll sich mehr sicher fühlen. Zuletzt
wurden in Paris (2015) und Brüssel (2016) Menschenansammlungen im öffentlichen
Raum zum Ziel konzertierter Attacken mit der Absicht wahllose Massenverluste
anzurichten. Hier wird deutlich, in welchem Umfang sich der Terrorismus seit
1981 entgrenzt hat: Bei der Gewalt gibt es keine Beschränkung mehr, und das
Kalkül dahinter hat sich zur Provokation eines apokalyptischen „Kriegs der
Zivilisationen“ verschwommen.