Montag, 23. November 2015

Terror bekämpft man, „indem man seine Ursachen beseitigt“: Bruno Kreiskys präventive Antiterror-Politik

Nach den Anschlägen von Paris im November 2015 wurde dem Terrorismus von neuem der Krieg erklärt – obgleich sich der 2001 proklamierte US-amerikanische „Global War on Terror“ in einer Sackgasse verfahren hat. Umso wichtiger erscheint daher die Diskussion alternativer Strategien – ein bemerkenswertes Beispiel stellt die präventive Antiterrorpolitik von Bruno Kreisky (österreichischer Bundeskanzler 1970-1983) dar, wenn gleich sich diese nur beschränkt auf die aktuelle Situation umlegen lässt. Auf den Punkt gebracht, ging es Kreisky darum, Terror zu bekämpfen, indem man der Gewalt die politischen und sozialen Wurzeln entzieht.

Das Übel an der „Wurzel“ packen
Kreisky hat Terrorismus stets in Hinblick auf diese Ursachen analysiert. Er folgte einer wertfreien Definition durch den kenianischen Autor Ali Mazrui (1933-2014) aus dem Jahr 1985, wonach Terrorismus eine Form der Kriegsführung sei, die entweder durch Individuen oder durch Regierende ausgeübt wird, um politische Ziele zu erreichen. Kreisky hielt diese Definition für richtig – Terrorismus diene dem Ziel „sich Gehör zu verschaffen, wenn man anderswo ungehört bleibt; er leistet einen gewissen Beitrag dazu, eine Sache zu fördern. Die unmittelbare Absicht des Terrors ist es, in Verbindung mit der Öffentlichkeit, Angst zu verbreiten.“

Für Kreisky gab es zwei Arten solcher Gewalt: Den „Terrorismus um seiner selbst willen“ –
bezogen beispielsweise auf den westdeutschen oder italienischen Linksextremismus – lehnte er ab: „Mit dem Terror provoziert man in der Demokratie nur den Terror von der anderen Seite. Wenn man das will, dann muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, dass man die Demokratie beseitigen und eine Diktatur haben will.“ Auf der anderen Seite gab es für Kreisky eine Form von Terrorismus, die er zwar auch nicht billigte, aber mit einem gewissen Maß an Verständnis begegnete. „Terror ist eine der politischen Waffen des Untergrunds, der Illegalität. Sie sind grausam, ich lehne sie ohne Einschränkungen ab. […] Es gibt aber Diktaturen, in denen Untergrundbewegungen um die Freiheit und die Demokratie kämpfen, und das auch gelegentlich mit dem Mittel des Terrorismus.“ Diese Gewalt, so Kreisky, stehe oft „am Anfang“ einer späteren politischen Bewegung oder einer danach respektablen staatsmännischen Karriere. An dieser Stelle erinnerte Kreisky immer wieder gerne an den Friedennobelpreisträger Menachem Begin und dessen Zeit als jüdischer Untergrundkämpfer.

Vergeltungsstrategie hat Eskalation gebracht
In der Frage, wie man der terroristischen Bedrohung am effektivsten begegnen solle, vertrat Kreisky konsequent den Standpunkt, dass man diese eben präventiv an der „Wurzel“ anpacken müsse. Dies hätte sich vor allem in Bezug auf den nationalistisch-separatistisch Terrorismus gezeigt. Eine rein auf polizeiliche/militärische Gegengewalt hin ausgerichtete Antiterrorstrategie lehnte er dagegen ab. Die Rettung von Menschenleben bei Geiselnahmen hatte für Kreisky absoluten Vorrang - auch gerade nach der Erfahrung jenes Blutbads, das die Befreiungsaktion für die israelischen Sportler bei der Olympiade in München 1972 gefordert hatte. Ein Jahr später, als Österreich zum ersten Mal direkt mit dem Nahostterrorismus konfrontiert wurde, erlaubte Kreisky den Abflug von zwei palästinensischen Attentätern, um das Leben von drei russischen Juden zu retten. Auch 1975 stellte Kreisky dem Terrorkommando von Carlos Ramirez Sanchez, genannt „der Schakal“, eine AUA-Maschine zur Verfügung, um die Sicherheit der der als Geiseln genommenen Erdölminister und OPEC-Angestellten nicht zu gefährden. Vor dem Nationalrat hielt Kreisky danach fest: „Die Bekämpfung des Terrors durch absolute Verweigerung der Forderungen der Terroristen hat in den seltensten Fällen zur Kapitulation der Terroristen geführt, vielmehr oft zu schweren und furchtbaren zusätzlichen Opfern. Im Übrigen hat die Vergeltungsstrategie gegen den Terrorismus sogar seine Eskalation gebracht.“

Konträr zu Kreisky steht beispielsweise das Handeln von Helmut Schmidt im Falle der Konfrontation mit der RAF. 1977 blieb Schmidt hart, als die Gruppe den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführte. Und er ließ eine entführte Lufthansa-Boeing im somalischen Mogadischu gewaltsam befreien. Kreisky billigte letzteres Vorgehen nicht – wegen des Risikos für die Geiseln. Überhaupt stellte er zur Diskussion, ob eine Regierung das Recht habe, „das Leben von Geiseln zu gefährden, indem sie gegenüber Forderungen von Terroristen hart bleibt beziehungsweise gegen die Terroristen mit Gewalt vorgeht“. Kreisky hielt in diesem Zusammenhang fest: „Meiner Überzeugung nach hat keine Regierung dieses Recht.“

Gibt es Grundursachen für Terrorismus oder nicht?
Mit seiner Ablehnung von Gegengewalt/Kompromisslosigkeit zugunsten von Prävention hat Kreisky in einem „verminten“ Diskurs Stellung bezogen. Im Wesentlichen prallen hier, damals wie heute, zwei Schulen aufeinander: Auf der einen Seite jene, die wie Kreisky ökonomische, politische und soziale Grundursachen für Terrorismus betonen – und auf der anderen Seite jene Debattenteilnehmer, für die Terror quasi losgelöst von objektiven Ursachen existiert und die sich primär mit der Bekämpfung des Phänomens beschäftigen. Letztere Schule hat in den vergangenen drei Jahrzehnten stetig an Überhand gewonnen.

Im Widerspruch dazu sucht eine zweite Denkrichtung die Debatte über das Verhältnis von Grundursachen und Terrorismus. Die britische Forscherin Louise Richardson etwa betonte 2007: „Die häufigsten Erklärungen für Terrorismus lauten, er sei entweder das Werk von verrückten Einzelgängern oder von kriegslüsternen Staaten, aber die besten Erklärungen liegen nicht auf diesen Ebenen, sondern auf der der Gesellschaften, die Terrorismus hervorbringen.“ Terroristische Handlungen können demnach am Besten in ihrem spezifischen Kontext erklärt werden - jenen politischen, sozialen und ökonomischen Umständen, die als „Nährboden“ die Anwendung von Gewalt im Namen von Nationalismus, Revolution oder Religion legitimieren bzw. ein radikalisierendes Gesamt-Klima schaffen.

Kreiskys Herangehensweise ist in diesem Zusammenhang ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, Terrorismus primär als Ausdruck politischer und sozialer Missstände aufzufassen. Anstatt jede Wechselbeziehung von vornherein in Abrede zu stellen, begriff Kreisky terroristische Gewalt und Politik als voneinander abhängig. Für ihn waren die Vertreibung der Palästinenser, die Zustände in den Flüchtlingslagern, die militärischen Vorstöße Israels in das Nachbarland Libanon und das Fehlen einer international anerkannten Vertretung der Palästinenser verantwortlich für die Entstehung, Eskalation und Fortdauer des Nahostterrorismus. Als der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi 1982 Österreich als erstes westliches Land besuchte, hielt Kreisky beim Empfang im Bundeskanzleramt am 11. März 1982 eine Tischrede: „Es ist ohne Zweifel richtig, dass wir in einer Zeit leben, in der politisch motivierte Terroraktionen immer wieder stattfinden. Wir verabscheuen diese Aktionen zutiefst und bekämpfen sie mit allen Mitteln. Ein Mittel, sie zu verhindern, besteht darin, dass man die Ursachen, die zum Terror führen, beseitigt. Man bekämpft also das Phänomen des Terrors am wirksamsten mit politischen Mitteln, indem man seine Ursachen beseitigt. Wir verstehen darunter, dass die legitimen Rechte von Völkern und Minderheiten, so auch die der Palästinenser, Anerkennung finden müssen.“

Legitime Sicherheitsinteressen Israels mag Kreisky vergleichsweise vernachlässigt haben. Auch konnte er mit seiner Initiative keine De-Radikalisierung erreichen, da beim Nahostterrorismus weitere Faktoren ins Spiel kamen, die er nicht in der Hand hatte: Die Machtinteressen lokaler Akteure wie Irak, Libyen und Syrien sowie der übergeordnete Konflikt zwischen West und Ost im Kalten Krieg. An diesem Punkt zeigt sich, wie schwierig ein solches Eingehen auf Grundursachen tatsächlich ist – weil dadurch immer auch größere Machtzusammenhänge und Interessen berührt werden, die jeder Veränderung des Status Quo feindlich gegenüberstehen. Dies mag auch der Hauptgrund sein, warum eine solche Vorgangsweise kaum gewählt, sondern Terrorismus mit dem traditionellen Arsenal der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beantwortet wird.

Kreisky, Arafat und die PLO
Kreiskys präventives Vorgehen war keineswegs erfolglos: Als Leiter der Fact Finding Mission der Sozialistischen Internationale hatte Kreisky als erster westlicher Staatsmann festgehalten, dass eine Friedenlösung im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinensischen Befreiungsorganisation unmöglich sei. Er erkannte der PLO eine politische Dimension zu und öffnete wichtigen Raum und Möglichkeiten zur Entfaltung der moderaten Kräfte innerhalb der Organisation. Auf lange Sicht gesehen, schwächte das den Einfluss der Radikalen und trug wesentlich dazu bei, dass Jassir Arafat nach seinem Auftritt vor der UNO 1974 weiter politisch anerkannt wurde. Kreisky ging noch einen Schritt weiter: 1979 sollte Österreich als erster Staat die PLO diplomatisch legitimierten. Im selben Jahr empfing Kreisky Arafat in Wien und es kam zum legendären gemeinsamen Treffen mit Willy Brandt.

Der überwiegende Teil von Kreiskys Vermittlungsbemühungen spielte sich diskret hinter den Kulissen ab. So fungierte der Bundeskanzler ab 1976 als Schirmherr von zunächst geheimen Gesprächen zwischen israelischen Friedensaktivisten und dem PLO-Sondergesandten Issam Sartawi. Im Jahr darauf war Kreisky Gastgeber für ein Geheimtreffen: Sartawi und der berüchtigte „rote Prinz“, Ali Hassan Salameh, diskutierten mit einem westdeutschen Behördenvertreter u. a. eine mögliche palästinensische Hilfeleistung bei der Fahnung nach RAF-Mitgliedern, die sich in den Nahen Osten zurückgezogen hatten. Im Mai 1979 gelang es Kreisky weiters, einen geheimen Kanal zwischen der PLO und der amerikanischen Regierung herzustellen, indem er Sartawi mit dem US-Botschafter in Österreich, Milton A. Wolf, zusammenbrachte. Ein weiteres Zeichen setzte Kreisky, indem Österreich als erster westlicher Staat die PLO 1980 offiziell anerkannte.

Kreisky ließ auch keine Gelegenheit aus, vor allem Arafat vor den negativen Auswirkungen des Terrorismus zu warnen: Die Gewalt würde den Palästinenser die mühsam aufgebaute Sympathie rauben. So ermahnte Kreisky den PLO-Führer 1979: „Ich finde diesen plötzlichen Anstieg in palästinensischer Terroraktivität äußerst schädlich für die palästinensische Sache. Es macht es schwieriger für mich, den Kreis der palästinensischen Unterstützer zu erweitern und meine vorangegangenen Anstrengungen schon jetzt zunichte.“ Das Vertrauensverhältnis zu Arafat wurde immer wieder auch schweren Belastungsproben unterzogen: 1981 flog ein illegaler Waffenschmuggel der PLO auf. Zwei Jahre später wurde Issam Sartawi von der gegnerischen Abu Nidal-Gruppe ermordet – was nach Kreiskys Empfinden nur möglich war, weil Arafat seine schützende Hand zurückgezogen hatte.

International hatte Kreiskys Nahostpolitik Ende der 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre einen schweren Stand. Im Kontext des Kalten Krieg sperrten sich etwa die USA gegen Verhandlungen, selbst innerhalb der Sozialistischen Internationale war die Unterstützung bestenfalls verhalten. Allerdings gelang es, die Europäische Gemeinschaft mit der Erklärung von Venedig (1980) als Akteur im Nahostkonflikt einzubringen. Der israelische Präsident Shimon Peres, der Kreisky zeitlebens hart kritisierte, lobte diesen rückblickend im Jahr 2010: Der Bundeskanzler habe dazu beigetragen, dass sich Arafat konzilianter verhalten habe.

Sicherheit für Österreich
Das wichtigste Motiv der präventiven Anti-Terrorpolitik war jedoch, Sicherheit für Österreich zu schaffen. 1981 argumentierte Kreisky, dass das Land eben wegen der guten Kontakte zur PLO lange vom Terror verschont geblieben sei – obwohl Österreich wegen seiner Transitfunktion für die jüdische Emigration aus Osteuropa immer besonders gefährdet war. Über Österreich emigrierte mehr als eine Viertelmillion sowjetischer Juden und der Großteil begab sich nach Israel, was wiederum in der arabischen Welt als demographische Stärkung der israelischen Position angesehen wurde - und extremistischen Gruppen ein Motiv lieferte, Anschläge in Österreich zu begehen (so etwa im Falle der Geiselnahme von Marchegg/Schönau 1973). Kreisky ließ damals zwar das Transitlager Schönau schließen, aber die Emigration ging weiter.

Österreich sollte vom Nahostterrorismus nicht verschont bleiben, wenn gleich die Intensität im Vergleich zu anderen Ländern niedriger blieb. Der Mord an Stadtrat Heinz Nittel und die Anschläge gegen die Wiener Synagoge im Jahr 1981 sowie gegen El-Al-Passagiere auf dem Flughafen Schwechat im Jahr 1985 zielten nicht mehr direkt gegen die Emigration. Vielmehr handelte es sich um einen innerpalästinensischen Konflikt, der auch auf österreichischem Boden ausgetragen wurde. Die für die Terrorakte verantwortliche Gruppe Al Assifa („Der Sturm“) unter Führung von Sabri al-Bana, genannt „Abu Nidal“ („Vater des Kampfes“), bekämpfte nämlich die aus ihrer Sicht zu kompromissbereite Führung der PLO. Eben weil Österreich Arafats Linie unterstützte, wurde es wie andere PLO-freundliche Länder vom Terror der Al Assifa heimgesucht. Letztere bediente damit auch die Interessen ihrer staatlichen Sponsoren – Irak, Syrien und Libyen – die die westliche „Einmischung“ in den Nahostkonflikt aus den unterschiedlichsten Motiven zurückdrängen wollten.

Es ist nicht so, dass Kreisky mit seiner Nahostpolitik Österreich eine Welle von Attentaten bescherte, wie etwa die ÖVP damals behauptete – stattdessen trifft es zu, von einem Fall von „Blowback“ zu sprechen. Dieser Terminus, aus der Fachsprache von Geheimdiensten, bezeichnet negative, unbeabsichtigte und unvorhergesehene Konsequenzen, die sich aus einer bestimmten politischen Vorgangsweise ergeben können. Im österreichischen Fall bestand der Blowback darin, dass das Land von einer Terrorkampagne der extremistischen Hardliner getroffen wurde – denen zudem die enge Sicherheits-Kooperation zwischen der PLO und den österreichischen Behörden ein Dorn im Auge war. Darüber hinaus mag Kreiskys jüdische Identität und die Tatsache, dass er für das Existenzrecht Israels eintrat, die vehemente Gegnerschaft Abu Nidals hervorgerufen haben.

„Der Terror denkt nicht so wie in den Wirtshäusern“
Als der „Kurier“ einige Wochen nach dem Schwechater Anschlag etwas provokant fragte, ob seine „Befassung mit dem Nahost-Problem“ erst die „Flügelkämpfer der Palästinenser“ nach Österreich „gezogen“ habe, antwortete dieser: „Unsinn. Der Terror kennt andere Gesetze, der denkt nicht so wie in den Wirtshäusern.“ Der Beweis für die Richtigkeit seiner Politik sei, dass 15 Jahre lang 300.000 russische Juden über Österreich nach Israel ausgewandert seien – „ohne, dass jeden Monat in Schwechat eine Bombe explodiert ist“. Überhaupt helfe Gewalt gegen diese Gruppe nichts, „man muss eine Gesprächssituation herbeiführen“. Auf den ungläubigen Einwand des Journalisten, dass mit „manchen Leuten“ offenbar nicht vernünftig geredet werden könne, entgegnete Kreisky: „Ich rede mit dem Teufel, wenn ich dadurch etwas Positives erreiche."

Auch wenn die Bilanz letztlich gemischt bleibt, so verdient die präventive Ausrichtung der österreichischen Antiterrorpolitik Beachtung: Bruno Kreisky hat das Eingehen auf die politischen und sozialen Ursachen von terroristischer Gewalt betont und ist dieser Devise mit seiner Nahostpolitik gefolgt. Eine Rückbesinnung auf diese Form der Terrorbekämpfung – nämlich der Gewalt den Nährboden und damit auch die Legitimation zu entziehen – ist angesichts der Krise militärisch dominierter Antiterrorpolitik aktueller denn je. Konkret wäre es in Europa notwendig, nicht nur bloße Symptombekämpfung vorzunehmen, sondern Maßnahmen für mehr Chancengleichheit und für bessere Bildung marginalisierter Bevölkerungsgruppen zu setzen. Genauso geht es um mehr Fokus auf verdeckte Ermittlungen, Infiltration, Aussteiger-Programme und Deradikalisierung statt auf Massenüberwachung und Militarisierung der öffentlichen Sicherheit.