Vor 40 Jahren, in den frühen
Morgenstunden des 2. November 1975, wurde Pier Paolo Pasolini ermordet – der damals
52jährige Publizist, Dichter, Regisseur und bekennende Homosexuelle hatte wie
kein anderer Intellektueller das Nachkriegs-Italien polarisiert und
aufgeschreckt. Vier Jahrzehnte später wirft sein Tod viele Fragen auf: Wurde
der streitbare Geist Opfer eines Komplotts?
Es
war kein Mord, sondern eine grausame Hinrichtung: „Als Pasolini tot aufgefunden
wurde, lag er auf dem Bauch mit dem Gesicht zu Boden, der blutige Arm vom Leib
abgewinkelt, der andere unterm Körper. Die blutverkrusteten Haare fielen über
seine aufgeschürfte und aufgeplatzte Stirn. […] Zehn Rippen waren gebrochen,
ebenso das Brustbein. Die Leber war an zwei Stellen auseinander gerissen. Sein
Herz war geplatzt.“ So lautete der Bericht einer Tageszeitung – man hatte den
geschundenen Leichnam in der Nähe des Idroscalo (Wasserflughafen) von Ostia, 28
km von Rom entfernt, gefunden – zwischen Werften und Lagerschuppen. Die Anwohnerin,
die Leiche fand, dachte zunächst, es wäre Müll und wollte diesen in die Tonne
werfen.
„Er wollte die Rollen tauschen“
Meldung der Arbeiter-Zeitung vom 4. 11. 1975 (Quelle: www.arbeiter-zeitung.at) |
„Er wollte die Rollen tauschen“
Nur
Stunden zuvor, in einer kalten und regnerischen Nacht, hatte Pasolini mit
Freunden in einer Gaststätte zu Abend gegessen. Er war gerade eben aus
Stockholm zurückgekommen. Dort hatte er Ingmar Berman getroffen und andere aus
der schwedischen Avantgarde-Filmszene. Und er hatte dem Magazin „Espresso“ ohne
es zu wissen, sein letztes Interview gegeben. Darin bekannte Pasolini, die
Konsumgesellschaft für eine schlimmere Form des Faschismus zu halten, als die
„klassische“ Variante. Beim Essen war er dann schweigsam, verabschiedete sich
früh und setzte sich ans Steuer seines Alfa Romeo 2000. Im Bahnhofsviertel, an
der Piazza Cinquecento, las Pasolini den 17jährigen Guiseppe Pelosi auf – der
schmächtige Junge wurde „Pino la rana“ (Pino, der Frosch) genannt. Nach einem Zwischenstopp
brachen sie um 23.30 Uhr zum Strand von Ostia auf. Dort soll es dann zu einem
folgenschweren Streit gekommen sein. „Er wollte die Rollen tauschen. Ich
weigerte mich. Er hat mich geschlagen und mich Schwein geschimpft. Ich Schwein.
Und was war er? Und dann wurde mir schwarz vor den Augen, und ich habe mit
aller Kraft zugeschlagen“, sagte Pelosi dem Untersuchungsrichter. Nachdem
Pasolini am Boden lag, habe er die Flucht ergriffen und das Opfer ohne es zu
wissen mit dem Auto überrollt.
Denkmal für Pasolini am Schauplatz des Mords in Ostia (Quelle: Wikimedia Commons/Stef48) |
Pelosi
wurde kurze Zeit später völlig verwirrt aufgegriffen. Von Anfang an gab es
Zweifel, ob er Alleintäter war. Der Jugendliche hatte kaum Blutspuren an sich
gehabt. Auch war der Körper Pasolinis mit schwereren Waffen verletzt worden, als
den sichergestellten Tischbeinen. Die Liste der Fragezeichen war jedenfalls lang,
wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1985 zusammenfasste: „Auf dem
Idroscalo waren Fußspuren gefunden worden, die jedenfalls von den erst am
Sonntag Fußball spielenden Jungen nicht herrühren konnten. Wem gehörten der
Pullover und die abgelöste Schuhsohle in Pasolinis Auto, die sich weder dem
Täter noch seinem Opfer zuordnen ließen? Wie waren die Spuren von Pasolinis
Blut auf das Dach über der Beifahrertür gelangt, wenn der Mörder, wie er
behauptet, allein den Wagen bestieg? Was hatte es mit jenem mit vier Mann
besetzten und in Catanzaro zugelassenen Auto auf sich, das – einem anonymen
Briefeschreiber zufolge - Pasolinis Alfa Romeo nach der Wegfahrt vom Restaurant
am Tiber verfolgte? War es vorstellbar, dass der muskulöse, durch regelmäßiges
Fußballspiel austrainierte Pasolini im Zweikampf mit einem Siebzehnjährigen
unterlag?“ So sprach das Gericht in erster Instanz von unbekannten Mittätern. Die
Spuren wurden aber nicht weiterverfolgt, und das Kassationsgericht erklärte
Pelosi schließlich zum Einzeltäter. Dieser saß sieben Jugendhaft ab und schwieg
– auch als er erneut eingesperrt wurde, diesmal wegen eines Raubüberfalls. Erst
2005 erklärte der nunmehr 47jährige „Frosch“ im Interview mit dem Sender „Rai
Tre“: „Ich habe ihn nicht umgebracht, sie waren zu dritt, ich habe ihn
verteidigt.“ Es seien drei ihm unbekannte Süditaliener gewesen, einer habe ihn
festgehalten, die anderen beiden hätten auf Pasolini eingeprügelt. Dabei hätten
sie gebrüllt: „Bastard“, „Drecksschwuchtel“ und „dreckiger Kommunist“. Einer
der Mörder habe gedroht, ihn und seine Eltern umzubringen, falls er gesprochen
hätte. Pelosi hielt also dicht, bis seine Eltern nicht mehr lebten – in der
Zwischenzeit sollen auch zwei der angeblichen Mörder, die Neofaschisten Franco
und Guiseppe Borselino, gestorben sein.
Pelosis
Angaben ähneln der Beobachtung eines Zeugen – dieser hatte Sergio Citti, einem
engen Freund Pasolinis, zehn Tage nach dem Mord ein Interview gegeben: „Ich
habe zwei Autos gesehen. Vier oder fünf Männer stiegen aus. Sie zerrten
Pasolini aus dem Wagen und schlugen sofort zu. Er schrie und schrie. Dann fiel
er zu Boden. Die Männer ließen von ihm ab und gingen zu dem Wagen. Dann aber
kam ein Wagen zurück. Er leuchtete mit den Scheinwerfern auf Pasolini. Dieser
war aufgestanden und versuchte zu entkommen. Er hatte sich wohl tot gestellt.
Die Männer verfolgten ihn zu Fuß. Sie schlugen ihn mit einem Holzknüppel
nieder. Dann fuhr das Auto absichtlich mehrere Male über den am Boden liegenden
Körper.“ Citti wollte den Mann dazu bewegen, seine Aussage vor der Polizei zu
wiederholen. Dieser weigerte sich aber. Citti, der mittlerweile ebenfalls
verstorben ist, vermutete, dass Pasolini in eine Falle gegangen war – mit
Pelosi als Köder. Schließlich mache es keinen Sinn, den langen Weg nach Ostia
zurückzulegen, nur um Sex zu haben. Vielmehr habe Pasolini in seiner Todesnacht
versucht, eine gestohlene Arbeitskopie seines letzten Films zurückzukaufen. Ein
anderer Autor wiederum ordnete die Mörder der „Banda della Magliana“ zu, der
römischen Mafia. Und natürlich gibt es Stimmen, die den Staat und die
Geheimdienste direkt bezichtigen.
Der Schauplatz in Ostia heute (Quelle: Wikimedia Commons/Mac9) |
„Ich danke den Teufelsjungen“
Pasolini
wurde 1922 in Bologna als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Bauerntochter
geboren. Früh hatte er traumatische Erlebnisse zu verkraften: Sein Bruder Guido
wurden 1945 bei einer Auseinandersetzung verfeindeter antifaschistischer
Partisanengruppen erschossen; der Vater war gewalttätig. Nach dem Studium von Kunstgeschichte
und Literaturwissenschaft lebte Pasolini zunächst im ländlichen Friaul, der
Heimatgegend seiner Mutter. Dort trat er 1947 in die Kommunistische Partei
Italiens (KPI), betätigte sich im Bezirk Casarsa als Parteisekretär und schrieb
erste Dialektgedichte. Pasolini, damals als Volksschullehrer tätig, war konservativen
Kreisen rasch ein Dorn im Auge und wurde des Missbrauchs Minderjähriger
beschuldigt. Zu Unrecht, wie sich vor Gericht herausstellte. Trotzdem wurde
Pasolini suspendiert und aus der KPI ausgeschlossen: „Auf mir lastet das
Schandmal von Rimbaud oder von Dino Campana oder auch von Oscar Wilde, ob ich will
oder nicht, ob die anderen es akzeptieren oder nicht.“ Aufgrund der politischen
Ausgrenzung sah Pasolini seinen Platz zeitlebens außerhalb der KPI – als unbequemer
Dissident. Das änderte aber nichts an seiner Überzeugung, dass nur diese Partei
zu einem grundlegenden Wandel der italienischen Verhältnisse imstande war.
Als
er 28 Jahr war, verzogen Pasolini und seine Mutter nach Rom – dort fand er 1951
eine Lehrer-Anstellung und wohnte eine Zeitlang in Ponte Mammolo. Es war eine
prägende Zeit, die er im dortigen Milieu der „borgate“, der Vorstadtjugend
verbrachte: Arbeitslose, entwurzelte Zuwanderer aus Süditalien, Zuhälter und
Kleinkriminelle. „Die jungen Kerle“, meinte ein Freund Pasolinis später, „machten
ihm im zunehmenden Alter zwar Angst, aber zugleich fühlte er sich von ihren
archaischen Instinkten und Gedanken fast magisch angezogen.“ In zwei Romanen –„Ragazzi
di vita“ (Kerle des Lebens, 1955) und „Una vita violenta“ (Ein gewaltsames
Leben, 1959) – beschrieb Pasolini den gewalttätigen, aber auch ungezähmt-freien
Alltag in den „borgate“ mit dokumentarischer Präzision. „Ich danke all den
‚Teufelsjungen‘“, schrieb er in einer Nachbemerkung des zweiten Buchs. Aber
nicht nur in Romanen setzte Pasolini den „borgate“ ein Denkmal, sondern vor
allem als Regisseur von schockierenden Sozialdramen wie „Accatone“ (1961) und
„Mamma Roma“ (1962), die in den Baracken am Rande der Ewigen Stadt spielen.
Weiters setzte sich Pasolini in „Edipo Re“ (1967) mit den bedrückend spießbürgerlichen
Verhältnissen in Italien auseinander oder benutzte antike Mythen und
Literaturvorlagen als Folien für gesellschaftskritische Aussagen („Edipo Re“,
1968 oder „Medea“, 1969). Bis heute heftig umstritten ist Pasolinis letzter
Film von 1975: „Salò o le 120 giornate di Sodoma“. Darin foltern, missbrauchen und
töten Kader der untergehenden faschistischen Republik von Salò eine Gruppe von
verschleppten Jugendlichen. In einem Interview führte Pasolini aus, dass es ihm
vorrangig um die Beziehung zwischen Mächtigen und Machtlosen gegangen sei – und
wie sich diese körperlich-sexuell auswirke.
Kein
Wunder, dass Pasolinis Werk nicht nur viel Widerspruch, sondern blanken Hass
hervorrief. In 33 Jahren wurde ihm aufgrund von Anzeigen wegen „Blasphemie“,
„Pornografie“, „Diffamierung“, „Hausfriedensbruch“ oder „Obszönität“ 33mal der
Prozess gemacht. Obwohl in zweiter oder höherer Instanz stets freigesprochen,
nahm Pasolinis Image stets Schaden. Immer wieder wurde er auch physisch angegriffen.
Schon 1964 versuchten Neofaschisten Pasolini mit einem Auto zu überfahren. Nur
wenige Tage vor dem Mord in Ostia wollten ihn zwanzig Rechtsextreme von einer
Brücke werfen. Als der Unruhstifter dann schließlich sein schreckliches Ende
fand, meinte niemand Geringerer als der damalige Minister Giulio Andreotti: „Er
hat es doch so gewollt“ (wofür er sich später entschuldigte). Ein anderer
Kommentator, der Regisseur Bernardo Bertolucci, erklärte erst 2005: „Wer ihn
getötet hat, der fühlte sich nicht nur im Recht, sondern glaubte auch, das Land
gesäubert zu haben.“
Gegen die Diktatur des Konsums
Anfang
der 1970er Jahre war Pasolini zweifellos einer der einflussreichsten
Intellektuellen Italiens. Vor allem weil er sich mit allen gesellschaftlichen
Kräften anlegte – der Rechten wie der Linken. In dem 1964 veröffentlichten Gedicht
„Una disperata vitalità“ (Eine verzweifelte Vitalität) heißt es fast
programmatisch: „Man muss den Bürger lauter denn je die Verachtung erklären,
anschreien gegen ihre Primitivität, spucken auf die Unwirklichkeit, die sie
sich zur Wirklichkeit wählten, in keinem Akt und keinem Wort ablassen vom
totalen Hass gegen sie und ihre Polizei, ihre Justiz, ihr Fernsehen, ihre
Presse...“ Ein anderes Mal bekannte Pasolini: „Ich möchte mich durch Beispiele
ausdrücken. Meinen Körper in den Kampf werfen. Doch wie die Taten des Lebens
Ausdruck sind, ist auch der Ausdruck Tat.“
Pasolini
war gnadenlos in seiner Kritik von „Konsumismus“, „Amerikanisierung“,
„Verbürgerlichung“ und „zur Ware verkommene Erotik“. Der postindustrielle Wandel
hatte selbst vor den „borgate“ nicht Halt gemacht – für Pasolini verloren die
Vorstädter dadurch jedes revolutionäres Potential und zielten nur mehr
Konsumgüter ab. „In wenigen Jahren sind die Italiener zu einem
heruntergekommenen, lachhaften, monströsen, kriminellen Volk geworden“, ärgerte
sich Pasolini. Ein anderes Mal meinte er gar: „Was für ein wunderbares Land war
Italien während des Faschismus und unmittelbar danach.“ Damit brachte Pasolini
seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Diktatur des Konsums über die Macht
des Fernsehens alles gleichschalte und jeden Widerstand eingemeinde. 1974
schrieb er: „Die kulturelle Durchdringung
der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die
verschiedenen Kulturen der Dritten Welt zerstört (ich spreche hier noch im Weltmaßstab
und beziehe mich daher auf die Kulturen der Dritten Welt, denen die bäuerliche
italienische Kultur im Grunde gleicht). Das Kulturmodell, das den Italienern
(und im Übrigen allen Menschen der Erde) angeboten wird, ist nur ein einziges.
Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten, in der
Existenzweise, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits
die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt, das heißt des neuen
und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat – auch wenn diese
Werte noch nicht ganz ihren Ausdruck gefunden haben.“ Wenige Monate später
legte Pasolini nach: „Alle Hindernisse
sind aus dem Wege geräumt. Die neuen Mächte brauchen keine Religionen mehr,
keine Ideale und ähnliches, um das zu verhüllen, was Marx enthüllt hatte. Wie
Legehühner haben die Italiener sofort die neue, irreligiöse und gefühllose
Ideologie dieser Herrschaft geschluckt: So groß ist die Anziehungs- und
Überzeugungskraft der neuen Lebensqualität, die von den Herrschenden
versprochen wird, und so groß ist die geballte Macht der Massenmedien (vor
allem des Fernsehens), die den Herrschenden zu Gebote stehen. Wie Legehühner
haben die Italiener das neue Heiligtum der Ware und des Konsums, das nie mit
Namen genannt wird, angenommen.“
„Ich weiß“
Wenige
Monate vor seinem Tod erreichte Pasolinis kritische Auseinandersetzung mit den
Verhältnissen einen Höhepunkt. Er griff vehement den „Palazzo“, das seit 1946 durchgängig
bestehende Herrschaftssystem der Democrazia Cristiana (DC) an – konkret die Verstrickungen
in Korruption, in mafiöse Umtriebe und in den Terrorismus. Denn Italien – das
Land mit der stärksten kommunistischen Partei Westeuropas – war ab 1969 von
einer Reihe besonders blutiger Terroranschläge erschüttert wurde, die stets mit
Richtungsentscheidungen zusammenfielen. „Keine andere westliche Demokratie hat
auch nur annähernd vergleichbar schwere und zahlreiche, politisch motivierte
Attentate erlebt wie Italien. In keiner anderen westlichen Demokratie ist der
Mordanschlag in diesem Ausmaß zu einem Instrument im politischen Kampf geworden
wie in Italien“, betont Alessandro Silij in seiner Studie „Verbrechen, Politik,
Demokratie in Italien“. Insgesamt wurden bei acht größeren
Sprengstoffanschlägen zwischen 1969 und 1987 419 Menschen getötet und 1.181
wurden verletzt. Dabei handelte sich um völlig „wahllose“ Terrorakte, jeder
konnte sich als potentielles Opfer fühlen, weshalb auch von einer „Strategie
der Spannung“ gesprochen wird. Wie nach einem Drehbuch verfolgten die Behörden
nach diesen Massakern zunächst eine „anarchistische“ Spur. Tatsächlich
verantwortlich waren Bombenleger aus dem neofaschistischen Lager, von
Organisationen wie „Ordine Nuovo“, „Avantguardia Nationale“ und „Fronte
Nationale“. Aber darüber hinaus gab es ein erstaunliches Ausmaß an „stillem“
Komplizentum seitens des Macht- und Sicherheitsapparates: Verschiedene
Geheimdienste förderten nachweislich die Aktivitäten der Neofaschisten,
manipulierten sie mittels eingeschleuster Informanten und verwischten im Nachhinein
Spuren. Das Kalkül der „Strategie der Spannung“ war offenbar, den konservativen
status quo abzusichern und einen Linksruck in Italien zu verhindern.
Am
14. November 1974 erschien im „Corriere della Sera“ eine Kolumne Pasolinis mit
dem Titel „Der Roman von den Massakern“: „Ich
weiß. Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was man Putsch nennt
(und was in Wirklichkeit von einer ganzen Serie von Putschen besteht, die zu
einem System der Herrschaftssicherung geworden sind). Ich weiß die Namen der
Verantwortlichen für die Bomben von Mailand am 12. Dezember 1969. Ich weiß die
Namen der Verantwortlichen für die Bomben von Brescia und Bologna von Anfang
1974. Ich weiß die Namen des Spitzengremiums, das sowohl die alten Faschisten –
die Planer der Putsche – steuerte, als auch die Neofaschisten, die mit eigener
Hand die ersten Bomben legten und schließlich die unbekannten Urheber der
jüngsten Anschläge. […] Ich weiß. Aber mir fehlen die Beweise. Ich habe nicht
einmal Indizien.“ Manche Beobachter orten in diesen verklausulierten Sätzen
bereits ein Motiv für einen politischen Mord. Pasolini sei mächtigen Kreisen so
unbequem geworden, dass man ihn zum Schweigen brachte. 1975, als er sich auf dem
Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens befand und Gerüchte über eine
bevorstehende Ehrung mit dem Literaturnobelpreis kursierten, erzielte die KPI
33 Prozent in den Umfragen. Pasolini selbst forderte zu diesem Zeitpunkt einen
öffentlichen Prozess gegen die politische Elite. Von anderen Intellektuellen
erntete er aber nur vielsagendes Schweigen: „Ohne
einen derartigen Strafprozess wird es keine Hoffnung für unser Land geben. Aber
warum muss ich allein diese Anklage vorbringen? Warum interveniert ihr nicht:
Branca, Petuccioli, Zanetti, Bocca, Moravia? Alle Politiker und alle Parteien
teilen mit den Christdemokraten Blindheit und Verantwortung. Schweigen auf der
einen und Ignoranz auf der anderen Seite, ein Pakt der Macht: eine Diplomatie
des Schweigens. Wovor haben wir Angst?“ Letztendlich hatte Pasolini die „Tangentopoli“-Korruptionsprozesse
der Jahre 1992/93 vorweggenommen – erst an diesem Punkt kollabierte das System
der „ersten Republik“ endgültig.
„Petrolio“
Ein
weiteres Indiz, dass für einen politischen Mord ins Feld geführt wird, ist das
Romanfragment „Petrolio“, das 1992 posthum erschien. Darin klagt Pasolini die wirtschaftliche
und politische Korruption an – allerdings konnte nur knapp ein Drittel des
umfassenden Werks nach seinem Tod sichergestellt werden. „Petrolio“ weist
zahlreiche „Anmerkungen“ auf – eine davon, die Nr. 22 – bezieht sich auf ein
ungelöstes Rätsel der italienischen Nachkriegsgeschichte: Den Tod des
Vorsitzenden des damals noch verstaatlichten Erdölunternehmens ENI, Enrico
Mattei. Dieser war 1962 beim Absturz seines Privatflugzeugs ums Leben gekommen.
Ursprünglich als Unfall abgetan, ist mittlerweile nachgewiesen, dass eine Bombe
an Bord explodiert war. Mattei hatte sich zahlreiche Feinde gemacht: Dazu
zählten das anglo-amerikanische Erdölkartell (auch „sieben Schwestern“ genannt)
und der französische Nachrichtendienst, der an der Unterstützung des
ENI-Vorsitzenden für algerische Rebellen Anstoß nahm. Die Verantwortung für den
Mord konnte bislang nicht geklärt werden. In „Petrolio“ nennt Pasolini Mattei „Ernesto
Bonocore“ und skizziert die engen Verflechtungen der Großindustrie mit der DC.
Die Namen von Matteis Nachfolger Eugenio Cefis und des langjährigen
Ministerpräsidenten Giulio Andreotti finden sich in einem Organigramm der
wichtigsten italienischen Machtblöcke. Von „Anmerkung 21“ mit dem Titel „
Blitzartige Beleuchtung der ENI“ existiert dagegen nur ein Deckblatt – was
Spekulationen nährt, es würde Hinweise auf Schuldige im Mordfall Mattei
enthalten.
Am
2. März 2010 überraschte der Senator der Berlusconi-Partei, Marcello Dell’Utri,
mit der Ankündigung, er sei im Besitz dieses fehlenden Abschnitts und würde diesen
auf der Mailänder Buchmesse präsentieren. Umgehend berichten Medien, die Seiten
wären aus der Wohnung Pasolinis gestohlen worden und enthielten den Schlüssel
zum Rätsel seiner Ermordung. Gegen Dell’Utri liefen damals umfangreiche
Ermittlungen wegen Verstrickungen mit der Mafia. Als es dann soweit war,
enttäuschte der Senator: Der Kontaktmann, der ihm knapp 80 Seiten Notizen
angeboten hatte, sei nicht wieder aufgetaucht – offenbar verschreckt vom
Medienrummel. Bemerkenswerterweise erhielt Dell’Utri drei Monate später um zwei
Jahre weniger Haftstrafe, als in der ersten Instanz verhängt worden waren.
Zu den Akten gelegt
Ebenso
merkwürdig war schon 2009 ein Brandanschlag auf die Bar Necci gewesen, wo „Accattone“
gedreht worden war. Die unbekannten Täter nahmen das Pasolini-Foto in der Bar
ab, verbrannten diese und hängten zuletzt das Bild wieder in der Ruine auf. Das
geschah am selben Tag, als die römische Staatsanwaltschaft auf Druck von Pasolinis
Angehörigen die Ermittlungen wieder aufnahm. 2014 wurden auf Kleidern des
Mordopfers DNA-Spuren von mindestens fünf verschiedenen Personen nachgewiesen.
Im selben Jahr stellte Abel Ferrara seinen Spielfilm „Pasolini“ mit William
Dafoe in der Hauptrolle vor. Der Regisseur bekundete vollmundig: „Ich weiß, wer
Pasolini getötet hat, aber ich werde seinen Namen nicht nennen.“ Im Film
dagegen bleibt der Schlussakt schemenhaft. Zuletzt entschied die zuständige
Richterin Maria Agrimi im März 2015, die Akten wieder zu schließen. Aus Sicht
des Gerichtes hatten sich keine belastbaren neuen Beweise ergeben. Der Tod
Pasolinis bleibt also ungeklärt, aber sein Werk und sein leidenschaftlicher,
kompromissloser Widerspruch sind aktueller denn je.