Donnerstag, 29. Oktober 2015

Exkurs: „Meinen Körper in den Kampf werfen“ – der ungeklärte Mordfall Pier Paolo Pasolini

Vor 40 Jahren, in den frühen Morgenstunden des 2. November 1975, wurde Pier Paolo Pasolini ermordet – der damals 52jährige Publizist, Dichter, Regisseur und bekennende Homosexuelle hatte wie kein anderer Intellektueller das Nachkriegs-Italien polarisiert und aufgeschreckt. Vier Jahrzehnte später wirft sein Tod viele Fragen auf: Wurde der streitbare Geist Opfer eines Komplotts?

Es war kein Mord, sondern eine grausame Hinrichtung: „Als Pasolini tot aufgefunden wurde, lag er auf dem Bauch mit dem Gesicht zu Boden, der blutige Arm vom Leib abgewinkelt, der andere unterm Körper. Die blutverkrusteten Haare fielen über seine aufgeschürfte und aufgeplatzte Stirn. […] Zehn Rippen waren gebrochen, ebenso das Brustbein. Die Leber war an zwei Stellen auseinander gerissen. Sein Herz war geplatzt.“ So lautete der Bericht einer Tageszeitung – man hatte den geschundenen Leichnam in der Nähe des Idroscalo (Wasserflughafen) von Ostia, 28 km von Rom entfernt, gefunden – zwischen Werften und Lagerschuppen. Die Anwohnerin, die Leiche fand, dachte zunächst, es wäre Müll und wollte diesen in die Tonne werfen.
Meldung der Arbeiter-Zeitung vom 4. 11. 1975 (Quelle: www.arbeiter-zeitung.at)

„Er wollte die Rollen tauschen“
Nur Stunden zuvor, in einer kalten und regnerischen Nacht, hatte Pasolini mit Freunden in einer Gaststätte zu Abend gegessen. Er war gerade eben aus Stockholm zurückgekommen. Dort hatte er Ingmar Berman getroffen und andere aus der schwedischen Avantgarde-Filmszene. Und er hatte dem Magazin „Espresso“ ohne es zu wissen, sein letztes Interview gegeben. Darin bekannte Pasolini, die Konsumgesellschaft für eine schlimmere Form des Faschismus zu halten, als die „klassische“ Variante. Beim Essen war er dann schweigsam, verabschiedete sich früh und setzte sich ans Steuer seines Alfa Romeo 2000. Im Bahnhofsviertel, an der Piazza Cinquecento, las Pasolini den 17jährigen Guiseppe Pelosi auf – der schmächtige Junge wurde „Pino la rana“ (Pino, der Frosch) genannt. Nach einem Zwischenstopp brachen sie um 23.30 Uhr zum Strand von Ostia auf. Dort soll es dann zu einem folgenschweren Streit gekommen sein. „Er wollte die Rollen tauschen. Ich weigerte mich. Er hat mich geschlagen und mich Schwein geschimpft. Ich Schwein. Und was war er? Und dann wurde mir schwarz vor den Augen, und ich habe mit aller Kraft zugeschlagen“, sagte Pelosi dem Untersuchungsrichter. Nachdem Pasolini am Boden lag, habe er die Flucht ergriffen und das Opfer ohne es zu wissen mit dem Auto überrollt.

Denkmal für Pasolini am Schauplatz des Mords in Ostia (Quelle: Wikimedia Commons/Stef48)
Pelosi wurde kurze Zeit später völlig verwirrt aufgegriffen. Von Anfang an gab es Zweifel, ob er Alleintäter war. Der Jugendliche hatte kaum Blutspuren an sich gehabt. Auch war der Körper Pasolinis mit schwereren Waffen verletzt worden, als den sichergestellten Tischbeinen. Die Liste der Fragezeichen war jedenfalls lang, wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1985 zusammenfasste: „Auf dem Idroscalo waren Fußspuren gefunden worden, die jedenfalls von den erst am Sonntag Fußball spielenden Jungen nicht herrühren konnten. Wem gehörten der Pullover und die abgelöste Schuhsohle in Pasolinis Auto, die sich weder dem Täter noch seinem Opfer zuordnen ließen? Wie waren die Spuren von Pasolinis Blut auf das Dach über der Beifahrertür gelangt, wenn der Mörder, wie er behauptet, allein den Wagen bestieg? Was hatte es mit jenem mit vier Mann besetzten und in Catanzaro zugelassenen Auto auf sich, das – einem anonymen Briefeschreiber zufolge - Pasolinis Alfa Romeo nach der Wegfahrt vom Restaurant am Tiber verfolgte? War es vorstellbar, dass der muskulöse, durch regelmäßiges Fußballspiel austrainierte Pasolini im Zweikampf mit einem Siebzehnjährigen unterlag?“ So sprach das Gericht in erster Instanz von unbekannten Mittätern. Die Spuren wurden aber nicht weiterverfolgt, und das Kassationsgericht erklärte Pelosi schließlich zum Einzeltäter. Dieser saß sieben Jugendhaft ab und schwieg – auch als er erneut eingesperrt wurde, diesmal wegen eines Raubüberfalls. Erst 2005 erklärte der nunmehr 47jährige „Frosch“ im Interview mit dem Sender „Rai Tre“: „Ich habe ihn nicht umgebracht, sie waren zu dritt, ich habe ihn verteidigt.“ Es seien drei ihm unbekannte Süditaliener gewesen, einer habe ihn festgehalten, die anderen beiden hätten auf Pasolini eingeprügelt. Dabei hätten sie gebrüllt: „Bastard“, „Drecksschwuchtel“ und „dreckiger Kommunist“. Einer der Mörder habe gedroht, ihn und seine Eltern umzubringen, falls er gesprochen hätte. Pelosi hielt also dicht, bis seine Eltern nicht mehr lebten – in der Zwischenzeit sollen auch zwei der angeblichen Mörder, die Neofaschisten Franco und Guiseppe Borselino, gestorben sein.

Pelosis Angaben ähneln der Beobachtung eines Zeugen – dieser hatte Sergio Citti, einem engen Freund Pasolinis, zehn Tage nach dem Mord ein Interview gegeben: „Ich habe zwei Autos gesehen. Vier oder fünf Männer stiegen aus. Sie zerrten Pasolini aus dem Wagen und schlugen sofort zu. Er schrie und schrie. Dann fiel er zu Boden. Die Männer ließen von ihm ab und gingen zu dem Wagen. Dann aber kam ein Wagen zurück. Er leuchtete mit den Scheinwerfern auf Pasolini. Dieser war aufgestanden und versuchte zu entkommen. Er hatte sich wohl tot gestellt. Die Männer verfolgten ihn zu Fuß. Sie schlugen ihn mit einem Holzknüppel nieder. Dann fuhr das Auto absichtlich mehrere Male über den am Boden liegenden Körper.“ Citti wollte den Mann dazu bewegen, seine Aussage vor der Polizei zu wiederholen. Dieser weigerte sich aber. Citti, der mittlerweile ebenfalls verstorben ist, vermutete, dass Pasolini in eine Falle gegangen war – mit Pelosi als Köder. Schließlich mache es keinen Sinn, den langen Weg nach Ostia zurückzulegen, nur um Sex zu haben. Vielmehr habe Pasolini in seiner Todesnacht versucht, eine gestohlene Arbeitskopie seines letzten Films zurückzukaufen. Ein anderer Autor wiederum ordnete die Mörder der „Banda della Magliana“ zu, der römischen Mafia. Und natürlich gibt es Stimmen, die den Staat und die Geheimdienste direkt bezichtigen.
Der Schauplatz in Ostia heute (Quelle: Wikimedia Commons/Mac9)
„Ich danke den Teufelsjungen“
Pasolini wurde 1922 in Bologna als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Bauerntochter geboren. Früh hatte er traumatische Erlebnisse zu verkraften: Sein Bruder Guido wurden 1945 bei einer Auseinandersetzung verfeindeter antifaschistischer Partisanengruppen erschossen; der Vater war gewalttätig. Nach dem Studium von Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft lebte Pasolini zunächst im ländlichen Friaul, der Heimatgegend seiner Mutter. Dort trat er 1947 in die Kommunistische Partei Italiens (KPI), betätigte sich im Bezirk Casarsa als Parteisekretär und schrieb erste Dialektgedichte. Pasolini, damals als Volksschullehrer tätig, war konservativen Kreisen rasch ein Dorn im Auge und wurde des Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt. Zu Unrecht, wie sich vor Gericht herausstellte. Trotzdem wurde Pasolini suspendiert und aus der KPI ausgeschlossen: „Auf mir lastet das Schandmal von Rimbaud oder von Dino Campana oder auch von Oscar Wilde, ob ich will oder nicht, ob die anderen es akzeptieren oder nicht.“ Aufgrund der politischen Ausgrenzung sah Pasolini seinen Platz zeitlebens außerhalb der KPI – als unbequemer Dissident. Das änderte aber nichts an seiner Überzeugung, dass nur diese Partei zu einem grundlegenden Wandel der italienischen Verhältnisse imstande war.

Als er 28 Jahr war, verzogen Pasolini und seine Mutter nach Rom – dort fand er 1951 eine Lehrer-Anstellung und wohnte eine Zeitlang in Ponte Mammolo. Es war eine prägende Zeit, die er im dortigen Milieu der „borgate“, der Vorstadtjugend verbrachte: Arbeitslose, entwurzelte Zuwanderer aus Süditalien, Zuhälter und Kleinkriminelle. „Die jungen Kerle“, meinte ein Freund Pasolinis später, „machten ihm im zunehmenden Alter zwar Angst, aber zugleich fühlte er sich von ihren archaischen Instinkten und Gedanken fast magisch angezogen.“ In zwei Romanen –„Ragazzi di vita“ (Kerle des Lebens, 1955) und „Una vita violenta“ (Ein gewaltsames Leben, 1959) – beschrieb Pasolini den gewalttätigen, aber auch ungezähmt-freien Alltag in den „borgate“ mit dokumentarischer Präzision. „Ich danke all den ‚Teufelsjungen‘“, schrieb er in einer Nachbemerkung des zweiten Buchs. Aber nicht nur in Romanen setzte Pasolini den „borgate“ ein Denkmal, sondern vor allem als Regisseur von schockierenden Sozialdramen wie „Accatone“ (1961) und „Mamma Roma“ (1962), die in den Baracken am Rande der Ewigen Stadt spielen. Weiters setzte sich Pasolini in „Edipo Re“ (1967) mit den bedrückend spießbürgerlichen Verhältnissen in Italien auseinander oder benutzte antike Mythen und Literaturvorlagen als Folien für gesellschaftskritische Aussagen („Edipo Re“, 1968 oder „Medea“, 1969). Bis heute heftig umstritten ist Pasolinis letzter Film von 1975: „Salò o le 120 giornate di Sodoma“. Darin foltern, missbrauchen und töten Kader der untergehenden faschistischen Republik von Salò eine Gruppe von verschleppten Jugendlichen. In einem Interview führte Pasolini aus, dass es ihm vorrangig um die Beziehung zwischen Mächtigen und Machtlosen gegangen sei – und wie sich diese körperlich-sexuell auswirke.

Kein Wunder, dass Pasolinis Werk nicht nur viel Widerspruch, sondern blanken Hass hervorrief. In 33 Jahren wurde ihm aufgrund von Anzeigen wegen „Blasphemie“, „Pornografie“, „Diffamierung“, „Hausfriedensbruch“ oder „Obszönität“ 33mal der Prozess gemacht. Obwohl in zweiter oder höherer Instanz stets freigesprochen, nahm Pasolinis Image stets Schaden. Immer wieder wurde er auch physisch angegriffen. Schon 1964 versuchten Neofaschisten Pasolini mit einem Auto zu überfahren. Nur wenige Tage vor dem Mord in Ostia wollten ihn zwanzig Rechtsextreme von einer Brücke werfen. Als der Unruhstifter dann schließlich sein schreckliches Ende fand, meinte niemand Geringerer als der damalige Minister Giulio Andreotti: „Er hat es doch so gewollt“ (wofür er sich später entschuldigte). Ein anderer Kommentator, der Regisseur Bernardo Bertolucci, erklärte erst 2005: „Wer ihn getötet hat, der fühlte sich nicht nur im Recht, sondern glaubte auch, das Land gesäubert zu haben.“

Gegen die Diktatur des Konsums
Anfang der 1970er Jahre war Pasolini zweifellos einer der einflussreichsten Intellektuellen Italiens. Vor allem weil er sich mit allen gesellschaftlichen Kräften anlegte – der Rechten wie der Linken. In dem 1964 veröffentlichten Gedicht „Una disperata vitalità“ (Eine verzweifelte Vitalität) heißt es fast programmatisch: „Man muss den Bürger lauter denn je die Verachtung erklären, anschreien gegen ihre Primitivität, spucken auf die Unwirklichkeit, die sie sich zur Wirklichkeit wählten, in keinem Akt und keinem Wort ablassen vom totalen Hass gegen sie und ihre Polizei, ihre Justiz, ihr Fernsehen, ihre Presse...“ Ein anderes Mal bekannte Pasolini: „Ich möchte mich durch Beispiele ausdrücken. Meinen Körper in den Kampf werfen. Doch wie die Taten des Lebens Ausdruck sind, ist auch der Ausdruck Tat.“

Pasolini war gnadenlos in seiner Kritik von „Konsumismus“, „Amerikanisierung“, „Verbürgerlichung“ und „zur Ware verkommene Erotik“. Der postindustrielle Wandel hatte selbst vor den „borgate“ nicht Halt gemacht – für Pasolini verloren die Vorstädter dadurch jedes revolutionäres Potential und zielten nur mehr Konsumgüter ab. „In wenigen Jahren sind die Italiener zu einem heruntergekommenen, lachhaften, monströsen, kriminellen Volk geworden“, ärgerte sich Pasolini. Ein anderes Mal meinte er gar: „Was für ein wunderbares Land war Italien während des Faschismus und unmittelbar danach.“ Damit brachte Pasolini seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Diktatur des Konsums über die Macht des Fernsehens alles gleichschalte und jeden Widerstand eingemeinde. 1974 schrieb er: „Die kulturelle Durchdringung der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die verschiedenen Kulturen der Dritten Welt zerstört (ich spreche hier noch im Weltmaßstab und beziehe mich daher auf die Kulturen der Dritten Welt, denen die bäuerliche italienische Kultur im Grunde gleicht). Das Kulturmodell, das den Italienern (und im Übrigen allen Menschen der Erde) angeboten wird, ist nur ein einziges. Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten, in der Existenzweise, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt, das heißt des neuen und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat – auch wenn diese Werte noch nicht ganz ihren Ausdruck gefunden haben.“ Wenige Monate später legte Pasolini nach: „Alle Hindernisse sind aus dem Wege geräumt. Die neuen Mächte brauchen keine Religionen mehr, keine Ideale und ähnliches, um das zu verhüllen, was Marx enthüllt hatte. Wie Legehühner haben die Italiener sofort die neue, irreligiöse und gefühllose Ideologie dieser Herrschaft geschluckt: So groß ist die Anziehungs- und Überzeugungskraft der neuen Lebensqualität, die von den Herrschenden versprochen wird, und so groß ist die geballte Macht der Massenmedien (vor allem des Fernsehens), die den Herrschenden zu Gebote stehen. Wie Legehühner haben die Italiener das neue Heiligtum der Ware und des Konsums, das nie mit Namen genannt wird, angenommen.“

„Ich weiß“
Wenige Monate vor seinem Tod erreichte Pasolinis kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen einen Höhepunkt. Er griff vehement den „Palazzo“, das seit 1946 durchgängig bestehende Herrschaftssystem der Democrazia Cristiana (DC) an – konkret die Verstrickungen in Korruption, in mafiöse Umtriebe und in den Terrorismus. Denn Italien – das Land mit der stärksten kommunistischen Partei Westeuropas – war ab 1969 von einer Reihe besonders blutiger Terroranschläge erschüttert wurde, die stets mit Richtungsentscheidungen zusammenfielen. „Keine andere westliche Demokratie hat auch nur annähernd vergleichbar schwere und zahlreiche, politisch motivierte Attentate erlebt wie Italien. In keiner anderen westlichen Demokratie ist der Mordanschlag in diesem Ausmaß zu einem Instrument im politischen Kampf geworden wie in Italien“, betont Alessandro Silij in seiner Studie „Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien“. Insgesamt wurden bei acht größeren Sprengstoffanschlägen zwischen 1969 und 1987 419 Menschen getötet und 1.181 wurden verletzt. Dabei handelte sich um völlig „wahllose“ Terrorakte, jeder konnte sich als potentielles Opfer fühlen, weshalb auch von einer „Strategie der Spannung“ gesprochen wird. Wie nach einem Drehbuch verfolgten die Behörden nach diesen Massakern zunächst eine „anarchistische“ Spur. Tatsächlich verantwortlich waren Bombenleger aus dem neofaschistischen Lager, von Organisationen wie „Ordine Nuovo“, „Avantguardia Nationale“ und „Fronte Nationale“. Aber darüber hinaus gab es ein erstaunliches Ausmaß an „stillem“ Komplizentum seitens des Macht- und Sicherheitsapparates: Verschiedene Geheimdienste förderten nachweislich die Aktivitäten der Neofaschisten, manipulierten sie mittels eingeschleuster Informanten und verwischten im Nachhinein Spuren. Das Kalkül der „Strategie der Spannung“ war offenbar, den konservativen status quo abzusichern und einen Linksruck in Italien zu verhindern.

Am 14. November 1974 erschien im „Corriere della Sera“ eine Kolumne Pasolinis mit dem Titel „Der Roman von den Massakern“: „Ich weiß. Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was man Putsch nennt (und was in Wirklichkeit von einer ganzen Serie von Putschen besteht, die zu einem System der Herrschaftssicherung geworden sind). Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für die Bomben von Mailand am 12. Dezember 1969. Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für die Bomben von Brescia und Bologna von Anfang 1974. Ich weiß die Namen des Spitzengremiums, das sowohl die alten Faschisten – die Planer der Putsche – steuerte, als auch die Neofaschisten, die mit eigener Hand die ersten Bomben legten und schließlich die unbekannten Urheber der jüngsten Anschläge. […] Ich weiß. Aber mir fehlen die Beweise. Ich habe nicht einmal Indizien.“ Manche Beobachter orten in diesen verklausulierten Sätzen bereits ein Motiv für einen politischen Mord. Pasolini sei mächtigen Kreisen so unbequem geworden, dass man ihn zum Schweigen brachte. 1975, als er sich auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens befand und Gerüchte über eine bevorstehende Ehrung mit dem Literaturnobelpreis kursierten, erzielte die KPI 33 Prozent in den Umfragen. Pasolini selbst forderte zu diesem Zeitpunkt einen öffentlichen Prozess gegen die politische Elite. Von anderen Intellektuellen erntete er aber nur vielsagendes Schweigen: „Ohne einen derartigen Strafprozess wird es keine Hoffnung für unser Land geben. Aber warum muss ich allein diese Anklage vorbringen? Warum interveniert ihr nicht: Branca, Petuccioli, Zanetti, Bocca, Moravia? Alle Politiker und alle Parteien teilen mit den Christdemokraten Blindheit und Verantwortung. Schweigen auf der einen und Ignoranz auf der anderen Seite, ein Pakt der Macht: eine Diplomatie des Schweigens. Wovor haben wir Angst?“ Letztendlich hatte Pasolini die „Tangentopoli“-Korruptionsprozesse der Jahre 1992/93 vorweggenommen – erst an diesem Punkt kollabierte das System der „ersten Republik“ endgültig.

„Petrolio“
Ein weiteres Indiz, dass für einen politischen Mord ins Feld geführt wird, ist das Romanfragment „Petrolio“, das 1992 posthum erschien. Darin klagt Pasolini die wirtschaftliche und politische Korruption an – allerdings konnte nur knapp ein Drittel des umfassenden Werks nach seinem Tod sichergestellt werden. „Petrolio“ weist zahlreiche „Anmerkungen“ auf – eine davon, die Nr. 22 – bezieht sich auf ein ungelöstes Rätsel der italienischen Nachkriegsgeschichte: Den Tod des Vorsitzenden des damals noch verstaatlichten Erdölunternehmens ENI, Enrico Mattei. Dieser war 1962 beim Absturz seines Privatflugzeugs ums Leben gekommen. Ursprünglich als Unfall abgetan, ist mittlerweile nachgewiesen, dass eine Bombe an Bord explodiert war. Mattei hatte sich zahlreiche Feinde gemacht: Dazu zählten das anglo-amerikanische Erdölkartell (auch „sieben Schwestern“ genannt) und der französische Nachrichtendienst, der an der Unterstützung des ENI-Vorsitzenden für algerische Rebellen Anstoß nahm. Die Verantwortung für den Mord konnte bislang nicht geklärt werden. In „Petrolio“ nennt Pasolini Mattei „Ernesto Bonocore“ und skizziert die engen Verflechtungen der Großindustrie mit der DC. Die Namen von Matteis Nachfolger Eugenio Cefis und des langjährigen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti finden sich in einem Organigramm der wichtigsten italienischen Machtblöcke. Von „Anmerkung 21“ mit dem Titel „ Blitzartige Beleuchtung der ENI“ existiert dagegen nur ein Deckblatt – was Spekulationen nährt, es würde Hinweise auf Schuldige im Mordfall Mattei enthalten.

Am 2. März 2010 überraschte der Senator der Berlusconi-Partei, Marcello Dell’Utri, mit der Ankündigung, er sei im Besitz dieses fehlenden Abschnitts und würde diesen auf der Mailänder Buchmesse präsentieren. Umgehend berichten Medien, die Seiten wären aus der Wohnung Pasolinis gestohlen worden und enthielten den Schlüssel zum Rätsel seiner Ermordung. Gegen Dell’Utri liefen damals umfangreiche Ermittlungen wegen Verstrickungen mit der Mafia. Als es dann soweit war, enttäuschte der Senator: Der Kontaktmann, der ihm knapp 80 Seiten Notizen angeboten hatte, sei nicht wieder aufgetaucht – offenbar verschreckt vom Medienrummel. Bemerkenswerterweise erhielt Dell’Utri drei Monate später um zwei Jahre weniger Haftstrafe, als in der ersten Instanz verhängt worden waren.

Zu den Akten gelegt
Ebenso merkwürdig war schon 2009 ein Brandanschlag auf die Bar Necci gewesen, wo „Accattone“ gedreht worden war. Die unbekannten Täter nahmen das Pasolini-Foto in der Bar ab, verbrannten diese und hängten zuletzt das Bild wieder in der Ruine auf. Das geschah am selben Tag, als die römische Staatsanwaltschaft auf Druck von Pasolinis Angehörigen die Ermittlungen wieder aufnahm. 2014 wurden auf Kleidern des Mordopfers DNA-Spuren von mindestens fünf verschiedenen Personen nachgewiesen. Im selben Jahr stellte Abel Ferrara seinen Spielfilm „Pasolini“ mit William Dafoe in der Hauptrolle vor. Der Regisseur bekundete vollmundig: „Ich weiß, wer Pasolini getötet hat, aber ich werde seinen Namen nicht nennen.“ Im Film dagegen bleibt der Schlussakt schemenhaft. Zuletzt entschied die zuständige Richterin Maria Agrimi im März 2015, die Akten wieder zu schließen. Aus Sicht des Gerichtes hatten sich keine belastbaren neuen Beweise ergeben. Der Tod Pasolinis bleibt also ungeklärt, aber sein Werk und sein leidenschaftlicher, kompromissloser Widerspruch sind aktueller denn je.