Mittwoch, 12. August 2015

„Vagabundisierender Geheimdienstsöldner“: Josef Adolf Urban und die „Müllaktion“

Ein bislang wenig bekannter Fall eines Nazi-Spions in westlichen Diensten: Josef Adolf Urban. Er wurde nach 1945 abwechselnd vom US-Armeegeheimdienst Counterintelligence Corps (CIC), von der Organisation Gehlen und dem Bundesnachrichtendienst (BND) sowie von britischen und italienischen Nachrichtendiensten beschäftigt. Auch für die österreichische Staatspolizei war Urban ein Informant. Seine Methode war denkbar einfach: Papiermüll sowjetischer Dienststellen in Österreich zusammentragen und daraus „Informationen“ destillieren. Dass Urban viel zu spät als Schwindler und Nachrichtenhändler erkannt wurde, tat seiner Nachkriegskarriere keinen Abbruch. Auf der Strecke bleiben dabei verklärende Mythen über das Spionagegeschäft im Kalten Krieg.

Am 1. September 1948 wurde der ehemalige SS-Obersturmbannführer und Sicherheitsdienst (SD)-Abschnittsleiter Josef Adolf Urban in einem Linzer Kaffeehaus verhaftet. Für den aus dem böhmischen Zatec stammenden Urban wird wahlweise das Geburtsjahr 1897 oder 1901 angegeben. Wie aus einem undatierten Bericht des BND, der als Teil von Urbans Akte im Rahmen des War Crimes Disclosure Act freigegeben wurde, hervorgeht, kam dieser ca. 1936 zum ersten Mal mit Kreisen des deutschen Nachrichtendiensts in Berührung und wurde bei den Olympischen Spielen in Berlin angeworben: „Von diesem Zeitpunkt an ist Urban, nach eigenen Angaben, ununterbrochen im ND-Geschäft tätig gewesen. Eine besondere Ausbildung erhielt er nicht.“ 1938 trat Urban der SS bei, war wenig später beim SD, Hauptabteilung III, sowie ab 1939 im RSHA, Amt VI/E (Auslandsnachrichtendienst, Mittel- einschließlich Südosteuropa) tätig. Dort bekleidete er die Funktion des „Hauptbeauftragten für Ungarn“ und wurde zuletzt 1944 zum SS-Obersturmbannführer befördert. Nach 1945 wurde Urban – so die Autoren Peter Müller und Michael Mueller – zu einem „vagabundisierenden Geheimdienstsöldner“. Der Bericht des BND listet folgende Stationen von Urbans weiterer Karriere auf: „1946/47 stand Urban mit dem US-Dienst (CIC Braunau und Linz) in Verbindung. 1948/49 arbeitete er geleichzeitig für die österreichische Staatspolizei, von 1948 bis Ende 1950/April 1951 für den britischen ND [Nachrichtendienst] in Österreich. Von Sommer 1951 an stand Urban mit der Organisation Gehlen in Verbindung […]. Am 31.05.56 wurde er stillgelegt und am 15.05.58 endgültig vom BND abgeschaltet. […] Unter dem Decknamen ‚ARTHUR‘ lieferte Urban in den Jahren 1967/68 Informationen über Südtirol an den italienischen Dienst, die er von bestechlichen Beamten der österreichischen Staatspolizei erworben hatte. […] Die Tätigkeit der ‚Nachrichtenwerkstatt‘ Urban endete erst im Frühjahr 1972, als dessen geistige und körperliche Kräfte immer mehr nachließen. Er starb am 15.02.73 in München.“

„Geistige Oberleitung“ über NS-Netzwerke - Deckname "Uhu"
Wie die deutsche Journalistin Gaby Weber betont, hatte Urban seine „meist frei erfundenen Geschichten“ zuerst gegen Straffreiheit und dann gegen Geld verkauft: „Mal wollte Urban dem BND geheime Dokumente aus Ungarn besorgen, ein anderes Mal spiegelte er enge Verbindungen ins Zentralkomitee der österreichischen kommunistischen Partei vor und versprach an Interna heranzukommen. Es erwies sich alles als Bluff, aber Urban beschäftigte die CIA und die europäischen Dienste jahrelang.“ Urban war aber nicht nur Nachrichtenhändler, er blieb auch nach Kriegsende seiner nationalsozialistischen Gesinnung treu und war in zahlreiche rechtsextreme Netzwerke eingebunden – so auch im Fall der „Rößner-Soucek-Verschwörung“. Urban soll unter dem Decknamen „Uhu“ eine Art „geistiger Oberleitung“ über „die österr. NS-Untergrundbewegung und zumindest auch über süddeutsche NS-Untergrundbewegungen“ innegehabt haben: „Er hielt mit Soucek in Graz Besprechungen ab, erteilte bei seinen häufigen Aufenthalten in Linz den Führern der o.ö. [oberösterreichischen] NS-Untergrundbewegung Ratschläge und Weisungen, versprach ihnen im Mai/Juni 1947 20.000 – S. für die Befreiung des damals im Landesgerichtlichen Gefangenenhaus Linz-Nord in Urfahr in Haft befindlichen ehemaligen SS-Obersturmbannführers Viktor Nageler alias Trenk, beschaffte für einige […] Mitglieder und U-Boote der NS-Untergrundbewegung […] falsche Identitätsausweise und forderte die Mitglieder der o.ö. NS-Untergrundbewegung immer wieder auf, weiterhin aktiv in der illegalen NS-Bewegung zu arbeiten und ihre ganze Kraft dafür einzusetzen.“

"Nachrichtendiensttätigkeit" für den Westen
Laut eigener Aussage war Urban 1946 nach Linz gekommen, um mit der US-Besatzungsmacht in Verbindung zu treten: „Ich tat dies deshalb, weil ich der Meinung bin, dass die amerikanische Politik in Europa die entscheidende ist.“ Urban gelang es, in Braunau am Inn mit dem CIC in Verbindung zu treten: „Die genannte Dienststelle hat nun von mir vorerst nachrichtendienstliche Tätigkeit verlangt, um sich über meine Verwendbarkeit ein Bild machen zu können.“ Von Linz aus bildete Urban daraufhin einen „Stab von Nachrichtenleuten“ als Ausgangspunkt für seine „Nachrichtendiensttätigkeit“ – einige davon stammten aus dem Umfeld seines Kriegskameraden Viktor Nageler („Trenk“). Dieser hatte Urban unter anderem in sein Vorhaben eingeweiht, einen Kreis von jungen Männern um sich zu sammeln: „Er tue dies deshalb, weil nach seiner Ansicht nach der Krieg zwischen Amerika und Russland unausbleiblich sei und es daher nötig wäre, die jungen Männer davon zu überzeugen, dass die gerade in einer solchen Zeit in der Heimat nötig seien und sich nicht verlaufen dürften. Sie hätten die Aufgabe, sich zusammenzuschließen und als Partisanen zu kämpfen. Nageler meinte dazu, dass man auch die Alliierten, er meinte darunter die westlichen überzeugen müsse, dass sie für diesen Zweck auch Waffen und sonstige Unterstützung gewähren müssten.“

Vom CIC aus der Haft befreit
Zwei Tage nach Urbans Verhaftung in Linz, am 3. September 1948, erschien überraschender Weise ein Abgesandter des CIC Oberösterreich, um ihn abzuholen: „Eine sofortige Rückfrage beim Chef von CIC O.Oe. [Oberösterreich] Mr. Lucid, ergab, dass eine Weisung des CIC-Hauptquartiers in Wien vorlag. Doch wurde mitgeteilt, dass diese Überstellung in eine Sonder-Einzelzelle des landesgerichtlichen Gefangenenhauses in Linz (als CIC-Häftling) nur zu Vernehmungszwecken für wenige und zwar etwa 2 bis 3 Tage vorgesehen sei und dass Urban nach dieser Zeit mit Sicherheit den österr. Behörden rücküberstellt würde.“ Wie die Sicherheitsdirektion Oberösterreich am 15. September 1948 nach Wien meldete, war Urban „trotz mehrfacher ho. Anfragen“ bisher immer noch nicht zurückgestellt „und es mussten heute alle übrigen, bei ihm sichergestellten Beweismittel (falscher Id.-Ausweis, Adresszettel und Briefschaften usw., die Valuten – 500 sFr, 240.- US-Dollars und 40 engl. Pfund) an CIC, und zwar, wie angegeben wurde, leihweise zu Vernehmungszwecken übergeben werden“. Das Vorgehen des CIC habe auf die Moral der mit den Ermittlungen betrauten Beamten geschlagen: Man könne hören, „dass es unter diesen Umständen überhaupt keinen Zweck mehr habe, gegen Österreich gerichtete Umsturzbestrebungen zu bekämpfen“. Laut der deutschen Journalistin Bettina Stangneth gab es aber ohnedies kein Interesse an einem „Urbanprozess“, weil darin dessen Informantentätigkeit für die Staatspolizei zur Sprache gekommen wäre.

„Für die Amis eine wichtige Person“
Von diesen Verwicklungen wusste der spätere Kriminaloberst Leo Maier, der an der Verhaftung von Urban persönlich beteiligt gewesen war, nichts. In seinen Erinnerungen wird aber die Irritation über den seltsamen Fall deutlich: „Er ist nur zwei Tage in Haft bei uns, dann kommen die Amerikaner vom CIC und holen ihn ab. Er geht wieder frei. Ein hoher CIC-Beamter erklärt dem Sicherheitsdirektor, dass Urban ein perfektes Agentennetz bis weit in die Sowjetunion befehligt und deshalb für die Amis eine wichtige Person sei.“ Urban hatte, so Maier, eine „Art Müllabfuhr“ organisiert – seine Helfer, darunter zahlreiche ehemalige Mitarbeiter des RSHA, sammelten Papierabfall aus den Mistkübeln von sowjetischen Kasernen und Dienststellen. „In einer Wohnung in Linz wurde dieses Papier dann geprüft und ausgewertet. Wenn also zum Beispiel irgendeine Maruschka ihrem Mann einen Feldpostbrief schrieb und darin erwähnte, dass sie in einer neuerbauten Traktorenfabrik irgendwo in Wischinorschowgrad arbeiten müsse, bekamen die Amis einen Geheimbericht. ‚Unser Mann in Wischinorschowgrad‘ berichtete dann über eine neuerbaute Fabrik zur Panzerherstellung. Die Amis bezahlten dem Urban für dieses gar nicht existierende Geheimdienstnetz horrende Beträge in Dollar. Meine Erkenntnisse berichtete ich dem Sicherheitsdirektor. Er lächelte milde. ‚Wir sagen den Amis nichts davon‘, entschied er.“ Auch in dem bereits erwähnten Bericht der Sicherheitsdirektion von 1948 findet sich eine schonungslose Analyse von Urbans Nachrichtendienstarbeit. So habe man kurz nach der Festnahme einen bei ihm sichergestellten Plan der „Nordwerft Nikolajew“ in Russland sowie ein mehrseitiges Schriftstück in ungarischer Sprache dem CIC übergeben: „Die Legende zu dem Plan der Nordwerft Nikolajew ist nach ho. Auffassung typisch für die Arbeitsweise von Leuten wie Urban. Sie ist eine Beschreibung des Plans nach dem Stand zum Zeitpunkt der Räumung dieses Gebietes durch die deutsche Wehrmacht. Dabei werden aller Wahrscheinlichkeit nach der Phantasie entsprungene Wiederaufbauarbeiten angeführt und so hingestellt, als ob sie erst kürzlich durch einen Informator festgestellt worden wären.“

„notorious peddler and swindler“
Im September 1948 wurde Urban laut dem erwähnten BND-Dokument im Zusammenhang mit den NS-Untergrundbewegungen nochmals verhaftet. „Er gab sein Wissen über diese Organisation Preis und ermöglichte so die Verhaftung vieler seiner alten Kameraden. Er kooperierte mit der österreichischen Exekutive und wurde im Dezember 1948 aus der Haft entlassen, die im Wesentlichen nur darin bestanden hatte, dass er im Gefängnis schlafen musste. Tagsüber ging er in Begleitung eines Polizeibeamten seinen ND-Geschäften nach“, heißt es dazu in dem Dokument. Im Einverständnis mit den US-Stellen lieferte Urban der Staatspolizei Informationen über die KPÖ und die sowjetisch verwalteten USIA-Betriebe – dafür endete im April 1950 die Zusammenarbeit mit den US-Diensten. Diese hatten Urban endgültig als „notorious peddler and swindler“ durchschaut. 

Trotz dieses Rückschlags setzte Urban seine Geheimdienstarbeit noch länger fort. Er verfügte über gute Beziehungen zu ungarischen Emigranten. Auch aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien wurden so Informationen über Mittelsmänner in Österreich beschafft. Wichtigster Kanal aber war nach wie vor die „Müllaktion“: „Die Menge des anfallenden Materials erlaubte es Urban, nicht nur bei den Deutschen Geld herauszuschlagen. Gegen entsprechende Bezahlung belieferte er den sogenannten Anders-Nachrichtendienst der Exil-Polen mit Sitz in London und den britischen Dienst.“ Der Abzug der Roten Armee aus Österreich 1955 bedeutete das Ende der „Müllaktion“ – folglich wurde Urban auch vom BND offiziell „abgeschaltet“. In einem Bericht des bayerischen Landeskriminalamts vom 16. März 1961, das sich in der spärlichen Akte Urbans im Staatsarchiv/Archiv der Republik befindet, heißt es dazu: „Aus vertraulich zu behandelnden Unterlagen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz München konnte […] entnommen werden, dass der Beschuldigte nach dem Kriege in der sowjetisch besetzten Zone Österreichs damals versuchte, einen Nachrichtendienst aufzuziehen. Er wurde deshalb im Februar 1954 durch die österreichische Staatspolizei in Wien verhaftet, angeblich um Differenzen mit den Sowjetbehörden aus dem Wege zu gehen. Er soll damals Papiere aus Abfallstätten sowjetischer Behörden und Truppenunterkünften gesammelt, gereinigt und an westliche Nachrichtendienste verkauft haben. Die österreichischen Behörden sollen damals beabsichtigt haben, Urban als unerwünschte Person nach Deutschland abzuschieben.“

HINWEIS: Auszug aus "Die Rößner-Soucek-Verschwörung": NS-Untergrundbewegungen, Geheimdienste und Parteien im Nachkriegsösterreich, in: JIPSS, Nr. 1/2015
http://www.acipss.org/