Freitag, 25. November 2016

Vom „Vierten Reich“ zum „Eurasismus“

Nach 1945 wurde die Europaidee auch von neofaschistischen Denkern verfolgt. Ihr Werk beeinflusst noch heute die Verbindungen zwischen Rechten und russischen Kreisen. Eine besondere Rolle spielte ein österreichischer Ex-Nazi.

Die Costa del Sol gilt gemeinhin als Urlauberparadies. Praktisch unbekannt ist dagegen ein dunkles Kapitel Zeitgeschichte, das dem südspanischen Küstenstreifen den Beinamen „Costa del Nazi“ eingebracht hat: Nach der Niederlage des 3. Reichs hatten sich zahllose NS-Verbrecher hierher geflüchtet. Das faschistische Regime von General Franco nahm sie mit offenen Armen auf und gewährte Schutz vor Auslieferung. Anfang der 1950er Jahre gab es in Spanien schon eine regelrechte Kolonie von 16.000 NS-Exilanten. Viele von ihnen – darunter der belgische NS-Kollaborateur Leon Degrelle, der berüchtigte Wiener SS-Offizier Otto Skorzeny oder der an der Niederschlagung des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 beteiligte Otto Ernst Remer verbrachten einen ruhigen Lebensabend.

Einige hochbetagte Pensionäre sind noch übrig – so etwa in Benalmadena, wohin es vor einigen Jahren auch den österreichischen Holocaustleugner Gerd Honsik hin verschlagen hat: 97 Jahre alt dürfte der gebürtige Grazer Theodor Soucek mittlerweile sein. Sein letztes Statement stammt von 2011. Aber wäre er mittlerweile verstorben, hätte dies in einschlägigen Kreisen Wellen geschlagen.

Europa als „Viertes Reich“
In der breiten Öffentlichkeit ist Soucek schon lange schon in Vergessenheit geraten. Er hatte den 2. Weltkrieg als Offizier mitgemacht – nach 1945 baute er ein weitverzweigtes Fluchthilfenetz auf – für in alliierten Internierungslagern einsitzende NS-Täter. 1947 wurde Souceks Organisation schließlich zerschlagen. Er und einige Mitverschwörer wurden dafür zum Tode verurteilt, aber 1952 von Bundespräsident Adolf Schärf begnadigt. In den darauffolgenden Jahren verschrieb sich Soucek gemeinsam mit anderen Neofaschisten einem Projekt, das unterschwellig bis heute nachwirkt: Der Schaffung eines vereinigten Europas als „viertes Reich“. Diese Idee wurde praktisch parallel zu den Bestrebungen verfolgt, die mit den Römischen Verträgen (1957) die Entwicklung zur heutigen Europäischen Union anstießen.

Während des 2. Weltkriegs hatten auf deutscher Seite Zehntausende europäische Freiwillige gegen den „Bolschewismus“ gekämpft. Einer der ersten Versuche, dieses Potential neu zu organisieren, fand am 12. Mai 1951 statt: Im schwedischen Malmö trafen sich 60 Delegierte rechtsextremer Bewegungen aus ganz Westeuropa. Der Kongress führte zu Bildung der Europäischen Sozialbewegung (ESB), mit nationalen Sektionen in der BRD, Schweden, Norwegen, Dänemark, Niederlande, Belgien, Frankreich und Österreich. Die verschiedenen Organisationen waren sich einig, dieses Europa anti-parlamentarisch, autoritär und völkisch orientiert sein würde – als dritte Kraft zwischen den Machtblöcken USA und UdSSR. Es blieb jedoch bei einem Erfolg auf symbolischer Ebene, weil die ESB wegen ihrer „moderaten“ Haltung bald den Rückhalt der eigenen Basis verlor und auf wackeligen finanziellen Beinen stand.

Theodor Soucek: „Wir rufen Europa!“
Nun kam Soucek ins Spiel: Anfang 1957 gründete er die Sozialorganische Ordnungsbewegung Europas (SORBE) – wobei unter „sozialorganisch“ die „biologische art- und schicksalsmäßige Verkettung“ des Individuums mit Familie und Volk zu verstehen war. Das dazugehörige Programm verpackte Soucek 1956 in seinem schwülstigen Buch „Wir rufen Europa. Vereinigung des Abendlandes auf Sozial-Organischer Grundlage“. Darin hielt er fest, dass das „bolschewistische Russland“ vom Ausgang des 2. Weltkriegs ungleich mehr profitiert habe, „als alle übrige Welt“. Darüber hinaus habe der Osten „sein Konzept und seinen Kristallisationspunkt“.

Der Westen dagegen besitze nichts dergleichen: „Im Osten besitzt das Denken und Handeln der Führenden und Geführten zielstrebige Richtung. Im Westen nicht“. Im europäischen Raum habe sich bislang weder das „System Moskaus“ noch die „Bereitwilligkeit zum Anschluss an den Dollar“ durchgesetzt. Und zwar, so Soucek, weil der Instinkt „hellwach“ dafür sein, „ob man für die eigene oder eine vermeintliche Freiheit arbeiten, kämpfen, opfern, bluten und sterben soll“. Eben deshalb gebe es „kein besseres Losungswort als den Ruf: Für die Freiheit Europas!“ Konkret stellte sich Soucek eine „Europaregierung“ mit Sitz in Genf vor, in deren Souveränitätsbereiche Innenpolitik und Rechtsgestaltung, Wirtschaft, Finanzen und Währung, Sicherheit und Wehrkraft, Außenpolitik sowie Erziehung und Forschung fallen sollten. An der Spitze sollte ein auf fünf Jahre gewählter und für diese Zeit unabsetzbarer „Präsident von Europa“ stehen.

„Europakongress“ in Salzburg
Am 7. und 8. Dezember 1957 lud die SORBE im Salzburger Hotel Pitter zum „Europakongress“ – „ca. 1.000 Personen“ waren gekommen, darunter Erwin Vollenweider, der 1951 die Volkspartei der Schweiz gegründet hatte, und der französische Neofaschist und Holocaust-Leugner Henri Rocques. Als man Mitte November 1958 eine Nachfolgeveranstaltung abhalten wollte, handelte das Innenministerium. Über die Intention der rechten Europa-Ideologen war man sich im Klaren: Es handle sich um „fanatische Nationalisten und Antidemokraten“, „die unter dem Deckmantel eines geeinten Europas ein neues Großdeutschland anstreben“, hieß es 1960.

SORBE wurde aufgelöst, aber der Verfassungsgerichtshof gab einer dagegen eingelegten Beschwerde statt. Der Verein sollte aber nicht mehr zur alten Stärke zurückfinden. Nachdem sich Soucek ab 1962 wegen hoher Schulden ins Ausland abgesetzt hatte, wurde SORBE zwei Jahre später endgültig aufgelöst. Soucek ließ sich schließlich an der Costa del Sol nieder, wo es still um ihn wurde. Einem bei einem schwedischen Verlag erschienenen Memoirenband von 2001 stellte er bezeichnenderweise die Forderung nach Abschaffung des Verbotsgesetzes voran.

Jean Thiriart und „Junges Europa“
Souceks Platz innerhalb der Europa-Faschisten hatte damals der Belgier Jean Thiriart eingenommen. Dieser hatte auf deutscher Seite als Fallschirmspringer gekämpft und wurde dafür nach 1945 für drei Jahre inhaftiert. 1961 baute Thirart die Sammelbewegung „Jeune Europe“ (Junges Europa, JE) mit Ableger in 13 Ländern auf. Den dafür nötigen ideologischen Kitt lieferte Thiriart 1964 mit „Europa: ein Weltreich von 400 Millionen Menschen“. Nur dieses „vierte Reich“ würde die Hegemonie der Supermächte herausfordern können („gegen Bolschewismus und Amerikanismus“).

In Österreich war seit 1959 die „Legion Europa“ Teil von JE. „1. Legionsführer“ (Vereinsobmann) und Gründer war Alfred („Fred“) Borth, über viele Jahrzehnte eine schillernde Figur der rechten Szene. Gemäß Punkt b) der Satzungen bezweckte die Legion Europa: „die Zusammenfassung aller europäisch denkenden Menschen zu einer gemeinsamen Willensbildung und zur Einflussnahme auf das wirtschaftliche und kulturelle Leben Europas. Er [der Verein] wird darüber hinaus für eine europäische Wehrbereitschaft und eine sportliche Ertüchtigung seiner Menschen – insbesondere der Jugend – eintreten.“

Innerhalb von JE traten bald Risse zutage: 1963 endete eine Konferenz im Streit, der sich rund um die Haltung zum Südtirolkonflikt entzündet hatte: Während die deutschsprachigen Delegierten die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen forderten, sprachen sich Thiriart und die italienischen Vertreter dagegen aus, weil dies der Einigkeit Europas schaden würde. Stattdessen traten sie für eine Verhandlungslösung zwischen Italien und Österreich ein. Dies führte dazu, dass zahlreiche Gruppen JE verließen. Borth ging auf Konfrontationskurs zu Thiriart, informierte aber gleichzeitig die italienischen Dienste und die Staatspolizei über die österreichische Südtirolszene.

„Er ist am gleichen Tag zurückgeschickt worden“
Der Konflikt zwischen Thiriart und seinen früheren Verbündeten trat zutage, als er 1966 zu einer Pressekonferenz nach Wien kommen wollte, um die deutsche Übersetzung seines Buchs "Das Vierte Reich: Europa" vorzustellen. Doch der Termin im Hotel de France musste abgesagt werden, weil es eine Bombendrohung gab. In einem eilig ausgesandten „Communiqué“ äußerte Thiriart einen Verdacht:

„Vor drei Jahren hatte ich mehrere Österreicher aus meiner Organisation entfernt, die erst in den Südtirol-Terror verwickelt waren und später mit neo-nationalsozialistischen Kreisen Verbindung aufnahmen. Wahrscheinlich wollen diese sich heute rächen.“

Thiriarts Aufenthalt in Österreich wurde jedenfalls auf höchster Regierungsebene besprochen. Innenminister Franz Hetzenauer (ÖVP) informierte: „Wir haben die Grenzorgane angewiesen gehabt, dem Mann die Einreise zu verwehren. Im Andrang an der Grenze ist es ihm aber doch gelungen, einzureisen und er ist dann aber doch nach Wien gekommen und wir haben ihn ausgeforscht. Eine Verweigerung der Aufenthaltsgenehmigung ist im Zuge. Er ist am gleichen Tag zurückgeschickt worden.“

Gedankenaustausch mit den „Eurasiern“
Später fiel Thiriart mit Beifallsbekundungen für den sowjetischen KGB, für die palästinische PLFP und für linke Terrorgruppen wie die belgischen Cellules Communistes Combattantes (CCC) auf. Genauso knüpfte er Kontakte zum maoistischen China, zum Regime von Muammar al-Gaddafi und zu anderen Staaten der „Dritten Welt“. Kurz vor seinem Tod hielt sich Thiriart 1992 zweimal in Moskau auf und traf sich dort mit Angehörigen der neuen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Man überlegte eine strategische Achse beim Kampf gegen die „Amerikanisierung“ Europas. Einer von Thiriarts Gesprächspartner war der „Nationalbolschewist“ Aleksandar Dugin, heute eine der einflussreichsten großrussischen Ideologen. Dugin träumt von einer von Moskau angeführten „Eurasischen Union“ – als Gegenmodell zu „westlichem Nihilismus“ und US-amerikanischer Hegemonie. Die von Soucek und Thiriat so gelegte Saat ist innerhalb der letzten Jahre mehr und mehr aufgegangen, wenn auch unter anderen geopolitischen Vorzeichen. EU-kritische Parteien in ganz Europa haben längst enge Kontakte zu den „Eurasieren“ in Moskau geknüpft. So etwa die FPÖ, deren Obmann Heinz-Christian Strache sich 2014 mit Dugin getroffen hat.

Ränkespiele der Geheimdienste
Wenn heute rechte Kleingruppen wie die „Identitären“ Dugins „Eurasismus“ und Vordenker wie Thiriart wohlwollend reflektieren, wird ein Aspekt ausgeklammert: Es gibt mittlerweile genügend Belege dafür, dass sich die Europa-Faschisten im Kalten Krieg von westlichen Geheimdiensten einspannen ließ. So waren zahlreiche Verbündete Thiriarts innerhalb des italienischen Neofaschismus Kader des antikommunistischen „Gladio“-Netzwerks, das in den 1970er Jahren Italien mit Bombenanschlägen destabilisierte. Dasselbe gilt übrigens für Borths „Legion Europa“: 1990 erzählte der pensionierte Staatspolizist Leo Frank dem „Kurier“:

„Es gab bis 1970 in Westeuropa eine antikommunistische Organisation, die sich ‚Legion Europa‘ nannte. Der österreichische ‚Legionsführer‘ was Fred Borth. Bei unseren damaligen Nachforschungen haben wir oft Hinweise auf einen internationalen Nachrichtendienst bekommen, der mit dieser ‚Legion‘ gegen die Kommunisten arbeitet und in Österreich einen Ableger hat.“
Borth entgegnete damals auf Nachfrage: „Unsere Diktion deckte sich zwar mit ‚Gladio‘ – es gab auch eine Verbindung nach Italien – aber wir hatten keinerlei Geheimdienstverbindungen und waren militärisch nie aktiv.“

Erwiesen ist zumindest, dass Borth Hunderte Spitzelberichte geliefert hatte – und das gleich an mehrere Geheimdienste. Auf diese Weise war auch die österreichische Staatspolizei gut im Bilde: Laut einem Protokoll von 1963 meinte der Leiter des Wiener Büros, Oswald Peterlunger, einsilbig: „Es bestehe ein Kreis von Nationalen, der sich über ganz Europa erstrecke und deren Mitglieder zugeben, Sprengstoffanschläge zu verüben.“ Diese Machenschaften sind noch kaum erforscht – aber der rechte „Traum“ eines anti-liberalen Europa ist wahrscheinlich noch nie so wirkungsmächtig wie heute.

HINWEIS: Gekürzte Version ist am 20. November 2016 in „Die Presse am Sonntag“ erschienen.