Sonntag, 13. März 2016

Quid pro quo: Warum die These vom Stillhalteabkommen Schweiz-PLO plausibel ist

Anfang des Jahres hat NZZ-Reporter Marcel Gyr für Aufsehen gesorgt. In seinem Buch „Schweizer Terrorjahre“ vertritt er die These, dass ein geheimes „Stillhalteabkommen“ mit der PLO getroffen wurde. Nach dem Attentat in Zürich-Kloten (1969), dem Bombenanschlag auf Swissair-Flug 330 (1970) und der Entführung einer anderen Swissair-Maschine ins jordanische Zerka (1970) sollte so weitere Gewalt gegen Schweizer Ziele verhindert werden. Im Gegenzug habe man der PLO die notwendigen Bewilligungen für ein Büro bei der UNO in Genf in Aussicht gestellt. Dokumentarischen Beleg hierfür konnte Gyr keinen vorweisen, wohl aber Aussagen einiger prominenter Zeitzeugen. „Schweizer Terrorjahre“ hat seitdem viel Widerspruch erregt. Wohl auch deswegen, weil an einem Tabu gerüttelt wird – nämlich, mit Terroristen zu verhandeln. Eine solche Vorgangsweise ist seit jeher moralisch und rechtlich heftig umstritten. Genauso ist es eine Tatsache, dass westliche Regierungen in der Vergangenheit Deals mit Terroristen abgeschlossen haben. Und betrachtet man das Schweizer Beispiel in diesem Kontext, dann erscheint Gyrs These keineswegs abwegig.

Anders als gegenwärtig bestand während des Kalten Krieges Raum für stille Diplomatie. In den 1970er und 1980er Jahren waren selbst berüchtigte Terroristen wie Ahmed Jibril, Carlos der „Schakal“ oder Abu Nidal eng an die Interessen ihrer jeweiligen staatlichen Sponsoren rückgebunden. Libyen, Syrien oder Irak kappten die Unterstützung, wenn sie sich kompromittiert fühlten oder diese Zweckallianzen ihren Interessen zuwiderliefen. Im Gegensatz zum heutigen radikal-islamistischen Terrorismus handelte es sich primär um säkular-nationalistisch orientierte Akteure, die klar definierte Ziele verfolgten – und dabei Pragmatismus an den Tag legten. Gerade die palästinensischen Gruppen, die damals das Spektrum des „internationalen Terrorismus“ wesentlich bestimmten, perfektionierten ein Nebeneinander von Gewalt und Geheimdiplomatie, das Anknüpfungspunkte ermöglichte. So profilierte sich Jassir Arafats „Fatah“ – die dominante Einzelorganisation innerhalb des Dachverbands PLO – ab 1974 als gemäßigt, wenn gleich sie in den besetzten Gebieten und in Israel weiter Terror praktizierte.

Das hinderte die USA aber nicht daran, sich 1973 von der Fatah die Zusage zu holen, dass diese künftig keine Angriffe mehr auf US-Bürger unternehmen würde. Genauso ging es um den Schutz diplomatischer Einrichtungen im Bürgerkriegsland Libanon – zu diesem Zweck pflegten laut einem Dokument des Auswärtigen Amts von 1975 auch Großbritannien, Frankreich, die BRD und selbst die Schweiz „Verbindung zu PLO-Vertretern“. Nicht viel anders war es in Italien: Als es 1973 ein palästinensisches Kommando auf dem Flughafen Rom ein Blutbad anrichtete, soll der PLO die baldige Eröffnung eines Büros versprochen worden sein. Frankreich baute seine Sicherheit überhaupt auf die „Schutzhafen“-Doktrin: Indem man allen möglichen Gruppierungen Aktivitäten erlaubte, würde das Land außen vorgelassen.

Was das Beispiel BRD angeht, so hatte der Anschlag bei den Olympischen Spielen in München 1972 einen traumatischen Einschnitt bedeutet. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, bemühte man sich um Absprachen mit Entscheidungsträgern in Arafats Sicherheitsapparat. 1977 nahm auf Einladung des österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky ein Mitarbeiter von Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski an einem Geheimtreffen in Wien teil: Im Gegenzug für „eine gewisse Anerkennung“ und die „politische Unterstützung Arafats“ boten die PLO-Emissäre Fahndungshilfe gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) an. Deren Angehörige hielten sich nämlich teils im Nahen Osten verborgen. Das Bundeskriminalamt (BKA) profitierte infolge von Informationen über Pläne und Aufenthaltsorte deutscher Linksextremisten. Bei weiteren Gesprächen 1979 erhielt das BKA sogar die Zusage, dass die PLO „weder auf deutschem Boden noch weltweit Anschläge gegen deutsche Interessen verüben werde“. Eine schriftliche Garantie gab’s freilich nicht wie sich einer der Unterhändler erinnerte – „wenn ein Araber sein Wort gebe, genüge das“.

Österreich ging noch einen Schritt weiter – wegen seiner Rolle als Schleuse für die jüdische Auswanderung aus dem Sowjetlock nach Israel war die Alpenrepublik in den Nahostkonflikt involviert. Mehrmals versuchten arabische Gruppen diese demographische Stärkung Israels zu unterbinden. Um für Sicherheit zu sorgen, trachtete Bundeskanzler Kreisky danach, den Nahostkonflikt zu entschärfen. Er protegierte den Dialog zwischen der PLO und der israelischen Friedensbewegung und fungierte als Gastgeber der ersten Empfänge Arafats auf dem diplomatischen Parkett. 1980 wurde die PLO offiziell anerkannt. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Der PLO-Abtrünnige Abu Nidal wollte jede Entspannung zwischen Israel und den Palästinensern verhindern. Und deshalb traf sein Terror in den 1980er Jahren Länder wie Österreich, die sich um Vermittlung bemühten. Daran hatte auch die Informationen der PLO, die über Arafats Gesandten Issam Sartawi direkt an den österreichischen Innenminister gingen, nichts ändern können.

Diese heiklen Manöver im Nachhinein als „Appeasement“ abzutun, ist zu einfach. Tatsächlich stellte der internationale Terrorismus die westlichen Staaten vor ernste Herausforderungen. In den 1970er Jahren mussten erst mühsam Kapazitäten im Sicherheitsapparat aufgebaut werden. Außerdem wurden die Kooperationen nachrichtendienstlich ausgebeutet – so ergab die Überwachung von PLO-Büros einen „Schatz“ an Informationen, den die Staaten beispielsweise über den „Club de Berne“ auch untereinander teilten. Das haben Recherchen der Basler Historikerin Aviva Guttmann kürzlich ergeben.

Und die Schweiz? Es ist in der Tat augenfällig, dass der PLO nach dem Terrorjahr 1970 relativ rasch erlaubt wurde, ein inoffizielles Büro in Genf zu eröffnen. Für die Palästinenser bedeutete das Zugang zu einem der weltweit wichtigsten diplomatischen Zentren. Aus der Schweiz wollten sie „ein Fenster auf ganz Europa“ ausbauen, wie der Genfer PLO-Vertreter Daoud Barakat 1973 ausdrückte. Spätestens zwei Jahre später besaß seine Einrichtung den Status einer Mission mit allen Privilegien und Immunitäten. Und hier soll es kein „quid pro quo“ gegeben haben?

Am 15. März 1971 setzte laut einer Aktennotiz Bundesrat Pierre Graber, die Schüsselfigur von Gyrs Buch, den Bundesrat „anlässlich einer Aussprache davon in Kenntnis, dass in dieser Angelegenheit [die palästinensische Präsenz in Genf] gewisse Kontakte zwischen Beamten des EPD [Eidgenössisches Politisches Departement] und Vertretern der Palästinenser stattgefunden haben.“ Diese kryptische, aber interessante Notiz ist nur eine von vielen Primärquellen, die über die die Internetseite der Forschungsstelle der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (dodis.ch) einsehbar sind. Man erfährt hier auch, dass Bundespolizeichef André Amstein persönlich den israelischen Geheimdienst vor einem Attentat auf Barakat warnte – der Mossad führte damals nämlich eine Vergeltungskampagne gegen PLO-Führer. So überrascht es auch nicht, dass Barakat 1973 süffisant meinte, die Schweiz genieße „heute einen guten Ruf“ im PLO-Hauptquartier und sei somit „keinen Gefahren“ ausgesetzt. Zwei Jahre später lobte er das „jetzige gute Verhältnis“. Und: Die PLO habe bereits „verschiedentlich“ palästinensische Splittergruppen von Attentaten, „in oder gegen die Schweiz“, abgehalten. Solche Äußerungen genügen selbstverständlich nicht als Nachweis für einen Geheimdeal. Insofern ist die Entscheidung, die Beziehungen Schweiz-PLO von einer Arbeitsgruppe offiziell zu untersuchen, nur zu begrüßen. Man darf gespannt sein!

HINWEIS: Gekürzte Version ist am 13. März 2016 in der Neuen Züricher Zeitung erschienen