Es war einer der größten Coups des Westens im Kalten
Krieg: Im Sommer 1981 übergab der französische Präsident Francois Mitterrand
seinem US-amerikanischen Amtskollegen Ronald Reagan streng geheimes Material,
das sogenannte „Farewell Dossier“. Dabei handelte sich um die „Shopping Liste“
des für Technologiespionage zuständigen „Direktorats T“ des KGB. Weiters
enthüllt worden sein sollen die Namen von mehr als 200 im Westen stationierter
Agenten der „Line X“, des operativen Arms des „Direktorats T“. Ursprünglich stammte
das „Farewell Dossier“ von dem abtrünnigen KGB-Oberst Vladimir I. Vertov. Er
hatte insgesamt 4.000 Dokumente abfotografiert und dem französischen
Geheimdienst zugespielt. Der Verrat flog schließlich auf – Vertov wurde 1985
hingerichtet.
Das „Farewell Dossier“
öffnete ein Fenster in eine der wichtigsten Spionageaktivitäten der
Ostgeheimdienste: Die illegale Beschaffung von Hochtechnologie. Schon ab Mitte der 1960er Jahre hatten
die Sowjetunion und ihre Satelliten einsehen müssen, dass sie in diesem Bereich
gefährlich hinterherhinkten. Gleichzeitig war der Zugang zu westlichen
Technologien mit einem Embargo abgeschottet. Das 1949 gegründete Coordinating
Committee for Multilateral Exports Controls (COCOM), dem alle NATO-Staaten
sowie Japan und Australien angehörten, führte eine Liste von Gütern und
Technologien, deren Export verboten war. Der Ostblock fand jedoch eine
pragmatische Lösung: Wo es nicht möglich war, westliche Technologie und
Know-how legal zu erwerben, wurde es eben von den Geheimdiensten beschafft. Auf
diese Weise ersparte man sich nicht nur Milliarden an Entwicklungskosten,
sondern konnte beispielsweise eigene Waffensysteme mit westlicher Mikrotechnologie
– Mikrochips, Halbleitern, Computersteuerungen – aufrüsten.
Aus dem „Farewell Dossier“
ging erstmals hervor, wie umfangreich der Schmuggel zwischen West und Ost war.
Vor allem aber gewannen die westlichen Dienste mittels der „Shopping Liste“
Einblick darin, auf welche Technologien und Produkten es die Sowjets abgesehen
hatten. Innerhalb der CIA reifte daraufhin die Idee, manipulierte Soft- und
Hardware einzuschleusen und so dem Beschaffungsprogramm von innen her Schaden
zuzufügen. Ebenso fanden irreführende Ideen und Designs in Bezug auf Tarnung,
Kriegsführung im All und neue Kampfflugzeuge den Weg in sowjetische Ministerin
und Entscheidungszentren. Weiters wurde gezielt Desinformation über
CIA-Tarnfirmen gestreut – verfälschte Entwürfe und technische Daten von
Gas-Turbinen, Ölförderungs-Ausrüstung, Computer-Chips und chemischen
Verbindungen. Der wirkungsvollste Sabotagefall war eine gewaltige Explosion im
Urengoi-Gasfeld im Dezember 1983, nachdem ein „Trojaner“ in der
Steuerungssoftware mit Verzögerung aktiv geworden war.
Konsequenzen des
geheimdienstlichen Schattenkriegs rund um das „Farewell Dossier“ waren auch in
Österreich zu spüren: Das neutrale Land war nämlich ein Zentrum des Osthandels.
Im Unterschied zu den COCOM-Mitgliedstaaten war Österreich an keine
internationalen Vereinbarungen gebunden und sah auch zunächst auch keine
Veranlassung, sich an westliche Kontrollbedingungen zu halten. Im Gegenteil,
die wirtschaftlichen Beziehungen mit den kommunistischen Staaten – die in den
1970er Jahren etwa 15 % des gesamten Außenhandelsvolumens ausmachten – wurden
als wichtiger eingeschätzt als westliche Sicherheitsbedenken. Erst 1987
erzwangen die USA eine entsprechende Verschärfung der Außenhandelsbestimmungen.
Darüber wie der Technologietransfer von Wien aus
konkret funktionierte und wie der lange Arm der CIA schließlich hineinspielte,
kann am besten ein Betroffener Auskunft geben. Der Zeitzeuge war Ende der
1970er und Anfang der 1980er Jahre ein versierter Osthändler und erklärte sich
unter der Bedingung der Anonymität zum Interview bereit:
Welche Rolle spielte Wien im Osthandel?
Wien war großartig, es war
ein Paradies. Im Prinzip galt ein Computer, der nach Österreich importiert
wurde, als österreichische Ware. Dann ging es weiter per Flugzeug nach Moskau.
Wien war ja neutral – unter Anführungszeichen. Wir hatten wunderbare Spediteure
hier, die haben gut mitgeholfen und auch gut verdient daran. Es war immer nur
die Diskussion, wie groß ist die Lukenöffnung des Flugzeugs, was kriegen wir da
alles hinein. Das war die Kernfrage. Nach österreichischer Gesetzeslage war das
alles legal. Das hat sich geändert, als Österreich von den USA unter der
Federführung von Richard Perle unter Druck gesetzt wurde, das
Import/Exportgesetz zu verschärfen – in Angleichung an die COCOM-Liste. Dann
ist es für uns Embargohändler ein bisschen schwieriger geworden, aber auch
nicht wirklich. Ich erinnere mich gut an den obskuren Spruch eines
US-Zollfahnders „I don’t like the Russians, but I hate the Austrians!“
Die österreichischen Behörden haben da ein Auge
zugedrückt?
Man zahlt nicht, bevor man
weiß, was man wirklich kriegt. Das wichtigste bei den Lieferungen ist die
Packliste, das ist das Herz des Embargogeschäfts. Damit kann man kontrollieren,
wo ist was drinnen. Ein befreundeter Embargohändler hat einmal eine Lieferung
von 80 Kartons erhalten. Wir haben zu zweit vier bis fünf Stunden lang in der
Zollfreizone am Wiener Flughafen jedes Paket aufgemacht und auf den Inhalt
kontrolliert. Der Zoll hat weg geschaut. Das wäre heute undenkbar, das gibt’s
nicht mehr.
Wie ist so ein Geschäft beispielweise abgelaufen?
Der Kunde in Moskau sagt, wir
hätten Interesse, ein bestimmtes Gerät zu kaufen, beispielsweise ein
Gigahertz-Messgerät für Satellitenkommunikation. Solche Messgeräte sind extrem
heikel, teuer und schwer zu bekommen. Da gabs keine Produktion in der
Sowjetunion dafür. Da fahre ich nach Hause und fange an, anzurufen - wer kann
das liefern. Wie kriegt man so etwas? Das schwierige ist ja das Kriegen, nicht
das Verkaufen. Und da habe ich einen guten Bekannten gehabt, der hat jahrelang
bei Siemens-Deutschland gearbeitet und kennt die dortigen Direktoren. Den habe
ich angerufen und gesagt: Wir brauchen das, kannst du uns das besorgen, ist
viel Geld für dich drin. Und der hat tatsächlich jemanden gefunden, bei
Siemens-Südafrika. Siemens-Südafrika hat dann dieses Gerät angefordert bei
Siemens-Deutschlandzentrale in München. Die wiederum haben es in den USA
geordert und haben das Gerät sofort eine Ausfuhrgenehmigung bekommen, weil
Siemens eben Siemens ist. Das kam dann nach München, von dort aus nach
Johannesburg. Dort hat Direktor das ohne Vorfinanzierung in Empfang genommen.
Ohne Anzahlung. Dann hat mein Freund gesagt, schickt mir das nach Zürich, ich
hafte euch dafür. In Zürich habe ich die Ware dann inspiziert, übernommen und
meinem Kontaktmann, dem Vermittler einen Bankscheck gegeben. Dann gings von
Zürich weiter nach Wien, denn direkt nach Moskau wäre zu auffällig gewesen. Das
ist alles ohne Zollschwindel oder Falschdeklaration gelaufen, es hätte uns
nichts passieren können.
Es lief also viel über persönliche Kontakte?
Die persönlichen Kontakte
waren ganz wichtig. Die baute man sich auf, wenn man viel in der Welt herumkam.
Teure Hotelbars sind ein idealer Ort für so etwas. Geschäfte macht man nie im
Büro, sondern in Bars und Nachtlokalen. Im Hotel „Vier Jahreszeiten“ in München
habe ich viele interessante Leute kennengelernt, auch uninteressante – die aber
fürs Geschäft wichtig waren.
Wie war Moskau in den 1980er Jahren?
Es herrschte damals große
Konkurrenz unter den Embargohändlern. Im Moskauer Hotel National haben sich
alle die Klinke in die Hand gegeben. Da waren die Deutschen, die Österreicher,
die Italiener mit Bauchladen sozusagen was sie verkaufen wollten an
Hochtechnologie. Wir haben uns untereinander gut gekannt, haben gewusst, wer
was macht. Ich selbst war jede zweite Woche in Moskau – es hat immer wieder
Ausstellungen und Messen gegeben, für Industriegeräte, für Fahrzeuge, etc. Die
Embargohändler hatten dann irgendwo in einer Halle im ersten Stock Kojen – vier
mal fünf Meter ungefähr, mit einem Tisch und Sesseln – und dort ist über oft
über Multimillionenverträge verhandelt worden. Und später am Abend haben sich
die Händler an der Hotelbar wieder getroffen, und man hat zusammen angestoßen.
Hotel National, Moskau (Quelle: A. Savin/Wikimedia Commons) |
Welche Maßnahmen haben die USA ergriffen?
Die Amerikaner waren
schlampig: Denn das meiste was an Technologie rausgeht, befördert die Post –
wir haben am New Yorker Hauptpostamt unzählige Pakete nach Wien aufgegeben.
Dort ist das meiste rausgeflossen, das wurde erst relativ spät überwacht. Das
zweite war: Händler erwischt man nur über den Geldfluss von Konto zu Konto. Wir
haben von der russischen Bank in Zürich 20kgweise Dollar auf unsere Schweizer
Bank getragen, in cash. Die Schweizer Banken haben damals mit Freuden cash
genommen. Das ist heute alles nicht mehr möglich. 10.000 Dollar wurden da
gebündelt und in Plastik versiegelt. Die russische Bank musste das vorher bei
der Schweizer Zentralbank bestellen und abheben. Die haben das abgehoben und am
Tisch gestapelt. Wir haben es in Reisetaschen eingepackt und sind damit über
die Züricher Bahnhofstraße zu unserer eigenen Bank gegangen. Dort musste nichts
nachgezählt werden, weil die Bündel ja noch von der Zentralbank versiegelt
waren. Die hat das dann am nächsten Tag wieder zurückerhalten. Ohne Nachweis,
woher das Geld kam.
Eingang zum Ausstellungs- und Messeglände, Moskau (Quelle: Wikimedia Commons) |
Die CIA hat Anfang der 1980er Jahre Erkenntnisse aus
dem „Farewell-Dossier“ erhalten – was waren die Folgen für Osthändler?
Die CIA hat nach dem Motto
reagiert: „Wenn wir es schon nicht verhindern können, wollen wir doch die
Kontrolle darüber haben, was geliefert wird und wohin. Und wir können auch
selber liefern.“ Die CIA ist also etablierte Embargohändler angegangen und hat
sie umgedreht – „wir machen es Euch leicht, Ihr kriegt was Ihr braucht zum
amerikanischen Listenpreis. Dafür übernimmst Du die Lieferung und berichtest
uns später, wie das angekommen ist.“ Ich bezweifle, dass das genauso abgelaufen
ist, wie in den Büchern zum „Farewell-Dossier“ behauptet wird. Die einigermaßen
qualifizierten Händler haben sich selbst dem Ostblock angedient, sind also
nicht rekrutiert oder ausgesucht worden. Der KGB hätte es gar nicht notwendig
gehabt.
Ich selbst war 1982/83 mit
der Familie in Florida. Vorher hatte ich einen Anruf bekommen, dass es endlich
so weit sei, dass bestimmte Geräte geliefert werden können. Im Hotel bin ich
erwartet worden, von einem CIA und einem FBI-Beamten. Sie haben mir gesagt: „20
Jahre oder Du arbeitest für uns.“ Das ganze wurde mit Mikrophonen und Kameras überwacht,
es gab keine Chance da rauszukommen. Also habe ich zunächst einmal, um einen
Drink gebeten und dann zu verhandeln begonnen. Why not? Schauen wir uns die
Sache an, wer weiß, was daraus wird? Daraufhin wurde ich von meinem zukünftigen
Führungsoffizier begrüßt. Man hat mich in Boston eine ganze Woche lang verhört
– mit Lügendetektor gleich zu Beginn. Als ich dann der allerersten
Analytikerin, die aus Washington gekommen ist, die Vorgangsweise eines
Embargohändlers erklärt habe, hat die einen Schreikrampf bekommen – das wäre
alles so gar nicht möglich, etc. Die Dame wurde dann am nächsten Tag abgezogen.
Da war auf amerikanischer Seite viel Unwissenheit da, wie Embargohandel
abläuft.
Die US-Dienste haben den Technologietransfer
manipuliert?
Ja, es war eine geniale Idee.
Ich bin drauf gekommen durch die Lieferung eines Großcomputers. Der hat Feuer
gefangen und ist teilweise innen abgebrannt. Nach diesem Vorfall habe ich mich
zweimal einer Befragung durch den KGB unterwerfen müssen. Ich habe meinen
russischen Geschäftspartner gesagt: Das kann nur sein, weil ihr ein so
schlechtes Elektrizitätsnetz und verabsäumt habt, entsprechende
Spannungsstabilitätsgeräte zu installieren. Am Nachhauseweg habe ich mir
gedacht, das ist eine schwache Erklärung. Denn jeder Computer hat intern schon
so einen Stabilisator eingebaut. Da ist in mir der Verdacht gereift, dass vom
Lieferanten irgendetwas eingebaut worden ist – das nach einem halben Jahr,
einem Dreivierteljahr aktiv geworden ist. Ich bin dann zu meinem amerikanischen
Führungsoffizier gegangen und habe ihn zur Rede gestellt. Der hat eine
Manipulation in Abrede gestellt, aber es kann sein, dass nicht einmal er davon
wusste. Denn das Programm war extremer Geheimhaltung unterworfen und anfangs
noch nicht einmal genehmigt. Nach diesem Vorfall war ich noch circa zwei Jahre
im Embargohandel tätig. Mit der Zeit habe ich vermutet, dass meine Partnerin
und Übersetzerin, vom KGB zu meiner Überwachung angeheuert worden ist. Zum
ersten Mal hellhörig geworden bin ich, als sie nicht zum KGB-Verhör musste.
Wobei ich das niemanden vorwerfe, im Spionagebusiness gilt: Vertraue niemandem,
weder deinem Führungsoffizier und schon gar nicht deiner Ehefrau. Die meisten
Spione sind geldgierig; jene, die ohne Bezahlung und aus Überzeugung verraten, sind
Heilige.
Das Schlüsselerlebnis für
mich war die Lieferung eines riesigen Computers, der damals mit allem Zubehör
auf einen Lastenwagenzug gepasst hat. Das Gerät ist nicht in Betrieb genommen
worden. Ich habe nach einem Jahr nachgefragt: Wie läuft er denn, braucht ihr
Zubehör. Die Antwort war: Nein, der ist noch abgestellt, den haben wir noch gar
nicht in Betrieb genommen. Offenbar hatte man die Ware unter Quarantäne
gestellt – passiert etwas, passiert nix… Das habe ich rückgemeldet an meine
amerikanischen Freunde und die haben gesagt: „Einmal noch höchstens geht’s Du
hin, es ist gefährlich.“ Und es war tatsächlich gefährlich: 10 Jahre später
habe ich erfahren, dass ich auf der Liste des CIA-Maulwurfs Aldrich Ames
gestanden bin. Der hat bei der CIA-Abwehr gegen die Sowjetunion gearbeitet und
hat laufend amerikanische Agenten, Russen oder anderer Nationalität, an den KGB
verraten. Diese sind exekutiert – direkt ins Gesicht geschossen, um sie
unkenntlich zu machen – und dann verscharrt worden. So jedenfalls ging das
Gerücht. Ich bin ebenfalls auf Ames Liste gestanden. Da war ein Fenster von
einer Woche, dass ich noch raus gekommen bin. Das habe erst 12 Jahre später
erfahren.
Gab es sonst noch brenzlige Situationen?
Die Lieferung des bereits
erwähnten Großcomputers war weit riskanter als erwartet. Er wurde mir auf einer
Jumbo-Linienmaschine Boeing 747 nach Zagreb geliefert, von meinem Frächter auf
einen luftgefederten Spezial-Lastwagenzug umgeladen und - von den
jugoslawischen Zollbehörden beschlagnahmt. Der Frächter bekam seinen
Spezial-Lastwagenzug frei, aber meine Ware blieb beschlagnahmt, Wert 3,5
Millionen Dollar. Aus Belgrad kam der oberste Chef der Zollbehörde.
Normalerweise - ohne meinen potenten Lieferanten im Hintergrund - hätte ich
mich für das oft erfolgreiche Instrument der Bestechung entschieden. Nach
persönlichem Kennenlernen schied dieser Weg aus.
Zwei Umstände haben mich
damals gerettet: Aus einem glücklichen Instinkt heraus hatte ich sämtliche
Fakturen und Frachtbriefe auf meinen eigenen Namen lautend ausstellen lassen
und konnte sie nun persönlich dem Zollchef vorweisen. Zu guter Letzt hatte ich
US-Exportpapiere anstatt wie in der Embargo-Branche üblich mit einer anonymen
Briefkastenfirma zu operieren. Meine Packliste war überperfekt: Für jedes Kollo
gab’s nicht nur eine exakte technische Beschreibung sondern auch jeweils
detaillierte Fotos des Inhalts. Das hatte ich mir vom Lieferanten als
Dokumentation ausgebeten schon als Sicherung gegenüber dem Käufer. Die Beschlagnahme
wurde aufgehoben.
Allerdings war ein luftgefederter
Speziallaster nicht mehr verfügbar, also ging das heikle Gerät auf einem
normalen Laster über die holprigen Straßen nach Moskau. Welche Transportschäden
dabei allenfalls verursacht worden sind, wurde nie festgestellt, denn der
Computer wurde ja nie in Betrieb genommen.