Sonntag, 28. Februar 2016

Keine „Insel der Seligen“ – Teil 2

Eine Serie zum Thema Terrorismus und Nachrichtendienste in Österreich - als Kapitel erschienen in: "Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme und die Anfänge des modernen Terrorismus" (2015)
http://www.amazon.de/dp/B018NX2AHQ/ref=cm_sw_r_tw_dp_CbDZwb0Z92SRF

Aus dem Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) von 2014 geht hervor: „Generell sind die Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste in Österreich ungebrochen hoch und stellen das BVT durch neue und moderne Möglichkeiten der Ausspähung vor große Herausforderungen. […] Trotz sich ständig weiterentwickelnder technischer Möglichkeiten haben auch herkömmliche nachrichtendienstliche Methoden nicht an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Klassische Spione mit großem Engagement für ihr Heimatland sind nach wie vor in einer überdurchschnittlichen Zahl im Einsatz und können eine Gefahr für die Sicherheit und Souveränität der Republik Österreich darstellen.“ So würden „bestimmte Nachrichtendienste“ versuchen, Fertigungstechniken und Forschungsergebnisse zu erlangen. „Ein weiteres Aufklärungsziel stellen für fremde Nachrichtendienste ausländische und u.a. in Österreich aufhältige Oppositionelle oder Oppositionsgruppen dar“, so der Bericht.

Es gibt für ausländische Nachrichtendienste noch viel mehr zu „holen“: Wien ist ein traditioneller „Begegnungsort“, zahlreiche internationale Organisationen haben hier ihren Sitz – angefangen von der OPEC, über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), bis hin zur Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO). Weiters sind hier wichtige Botschaftsstützpunkte angesiedelt: Neben dem Iran und Nordkorea (zwischen 1982 und 2004 wickelte die Golden Star Bank AG in der Kaiserstraße Nr. 12 Geschäfte nordkoreanischer Firmen und Personen ab – als einzige Bank des kommunistischen Regimes in der westlichen Hemisphäre) verfügt Russland in der Donaustadt seit den 1980er Jahren über eine regelrechte „Stadt in der Stadt“ – eine der größten Vertretungen weltweit. Aber auch der Veteran der US-amerikanischen CIA, Jack Devine, erinnerte sich an das „sehr gute Jagdrevier Wien“: „Zudem war Österreich ungefährlich, es war weder feindlich gegenüber dem Osten noch dem Westen. Deshalb war der Standort noch attraktiver. Hinzu kommt, dass Wien wunderschön ist. Es gibt ein Denguefieber oder Menschen, die andere köpfen. All das machte es zu einer Stadt, in der jeder sehr aktiv war.“

Nur manchmal werden konkrete Operationen bekannt: So soll etwa 2007 ein Team des israelischen Geheimdienst Mossad in die Wiener Wohnung des Chefs der syrischen IAEA-Mission, Ibrahim Othman, eingedrungen sein. Auf einem Laptop wurden Pläne für einen Reaktor gefunden, woraufhin die Baustelle sechs Monate später bombardiert wurde. Schon im Jahr 2000 spielte die CIA dem iranischen Geheimdienst in Wien die Blaupause eines Nuklearsprengkopfs zu. Das sollte die Forscher im Iran auf eine falsche Fährte locken („Operation Merlin“). Gerade im Zuge der Verhandlungen rund um das iranische Atomprogramm kam es Anfang 2015 zu so dichten Überwachungsaktionen, dass die beteiligten Diplomaten aufgrund der freigesetzten Mikrowellenstrahlung keinen Mobiltelefonempfang mehr hatten. „Die Amerikaner, Briten, Franzosen, Israelis, Iraner sind alle hier. Jeder tut das, die ganze Zeit über“, sagte der „Mossad“-Experte Yossi Melman.

Nicht umsonst wird geschätzt, dass die Hälfte der rund 17.000 in Wien akkreditierten Diplomaten Geheimdienstverbindungen unterhält. Diesen status quo zu ändern, dafür gibt es keinen politischen Willen. Ex-Sicherheitsbürochef Edelbacher vermutet in Hinblick auf die Verantwortlichen: „Sie nehmen das halt in Kauf, um Wien als diplomatische Drehscheibe aufrechtzuerhalten. Das hat auch ökonomische Effekte.“ Österreich selbst sei ohnedies „nur selten im Blickfeld ausländischer Dienste“, so der ehemalige Leiter der BVT, Gert Rene Polli: Ganz anders sei das nicht nur bei den internationalen Organisationen, „vor allem dem internationalen Kommunikationsverkehr, insbesondere aber bei österreichischen Firmen mit interessanten Exportmärkten“. Seit den vergangenen Jahren gelte „zentrales Interesse“ dem österreichischen Bankensektor und seinen Aktivitäten im Ausland, aber auch in Österreich.

Ein wichtiges begünstigendes Element ist die Rechtslage. Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 20. April 1956 verbrieft, dass Spionagetätigkeit nur dann geahndet wird, wenn diese sich unmittelbar gegen Österreich richtet. Wer laut § 256 einen „Geheimen Nachrichtendienst zum Nachteil der Republik Österreich“ betreibt, muss höchstens mit drei Jahren Haft rechnen. Wer einen „militärischen Nachrichtendienst“ für einen fremden Staat betreibt (§ 319), kommt mit zwei Jahren davon. Die Einhaltung dieser ohnehin laxen Bestimmungen wird nicht einmal besonders effektiv überwacht. Abgesehen vom Heeresnachrichtenamt (HNaA) und dem Abwehramt (AbwA), die für militärische Aufklärung bzw. Eigenschutz zuständig sind, verfügt Österreich traditionell über keine weitere rein nachrichtendienstliche Struktur. Wenn es um Spionageabwehr oder den Schutz vor staatsgefährdenden Bedrohungen wie Terrorismus geht, so lag die Zuständigkeit jahrzehntelang bei der Staatspolizei, einem „Zwitterwesen“ aus Nachrichtendienst und Polizei. Am 8. August 1945 vom Staatssekretär für Inneres, Franz Honner (KPÖ), neu gegründet, hing der Staatspolizei lange der Ruf nach, kommunistisch unterwandert zu sein.

In den 1980er Jahren waren 600 von damals insgesamt 700 Staatspolizisten auf die Abteilungen I der Sicherheitsdirektionen der Bundesländer aufgeteilt und 100 bei der „Gruppe C“ im Innenministerium angesiedelt. 1987 gründete Innenminister Karl Blecha zusätzlich eine ihm direkt unterstellte Einsatzgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus (EBT). Die EBT hatte die Aufgabe, Präventions- und Aufklärungsarbeit zu leisten und gleichzeitig als Bindeglied zu Nachrichtendiensten im Ausland zu fungieren.

2002 gingen dann die EBT, die Staatspolizei und die EDOK im BVT auf. Vor dessen Gründung hatte die Staatspolizei neben der „Wahrnehmung staatsfeindlicher Vorgänge“ noch zahlreiche weitere Aufgaben erfüllt: Schutz verfassungsgesetzlicher Einrichtungen, Personenschutz für den Bundespräsidenten und Mitglieder der Bundesregierung, Schutz von ausländischen Konsulaten und Staatsbesuchen sowie Überprüfung von Flüchtlingen und Asylwerbern. In Wien standen dafür Mitte der 1980er Jahre nur „etwa“ 120 Mann zur Verfügung, in den Bundesländern rund 20. So überrascht es auch nicht, dass ein Beamter damals zum „Kurier“ sagte, dass man ausländische Spione außen vorlasse: „Solange sie mit ihrer Tätigkeit Österreich aus dem Spiel lassen, ist uns das wurscht.“ An dieser Einstellung hat sich nicht wesentlich viel geändert: Wie Polli kritisch angemerkt hat, ist an eine „effiziente Spionageabwehr“ nicht zu denken, auch weil diese politisch nicht gewollt sei. Österreich, so Polli, sei nach wie vor nur „bedingt abwehrbereit“: „Die Disproportionalität zwischen den einheimischen Abwehrbeamten und den hier agierenden Nachrichtenbeschaffern und Operateuren besteht unvermindert weiter.“

Trotz der Zusammenlegung ist auch das BVT eine spezialisierte Abteilung mit den Befugnissen der normalen Polizei geblieben – „Spione und Agenten gibt es dort nicht“, so der Journalist Andreas Wetz. Darüber hinaus kommt es zwischen BVT, HNaA und AbwA aufgrund von Überschneidungen in den Zuständigkeitsbereichen, die von Terrorbekämpfung, Cyber Security, Personenschutz bis hin zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität reichen, zu Spannungen: „Dies führt regelmäßig zu Animositäten zwischen den Akteuren und hemmt den Informationsaustausch dort, wo er im Sinne der nationalen Sicherheit notwendig wäre.“

Einen weiteren Grund für das fehlende Aufklärungsinteresse ortet Polli in dem Umstand, dass gewisse Kooperationen mit ausländischen Nachrichtendiensten „selbst forciert“ wurden. So diskutiert man seit 2013 im Zuge der Enthüllungen durch den „Whistleblower“ Edward Snowden auch die jahrzehntelange Zusammenarbeit zwischen der National Security Agency (NSA) und dem HNaA im Bereich der signal intelligence, also abgehörter Kommunikation. Seit mehr als 50 Jahren tauschen die Dienste sensibles Material aus, berichtete „profil“ 2013: Dass damit flagrant gegen die Bundesverfassung, konkret gegen das Neutralitätsgesetz, verstoßen wurde, kümmerte nie einen der Beteiligten.“ Über seine Lauschstationen klärte das HNaA den Telefon- und Funkverkehr im Ostblock und am Balkan auf – „die Bänder gingen via Frankfurt direkt an die USA“. Heute ist Österreich nach wie vor „ständiger und diskreter Partner“ der NSA, wie der US-Journalist Glenn Greenwald herausstrich: „Man sammelt vielleicht gemeinsam Daten aus Afghanistan oder nimmt bestimmte Organisationen ins Visier.“

All die erwähnten Faktoren zusammengenommen – neutraler Status, günstige geografische Lage, dichte Präsenz internationaler Organisationen, diskreter Bankenplatz und schwach ausgebildete nachrichtendienstliche Strukturen machen Österreich nicht nur für Spione interessant, sondern auch für Terroristen. Auch deren Präsenz wurde gegebenenfalls toleriert – vorausgesetzt es gab keine Aktionen in Österreich. Offiziell hat es eine solche „Ruheraum“-Strategie zur Terrorvermeidung freilich nie gegeben, inoffiziell aber sehr wohl: Um nach einer Anschlagsserie der Abu Nidal-Organisation (ANO) Anfang der 1980er Jahre weitere Gewalt zu verhindern, ließ man zwischen 1988 und 1993 wechselnde Angehörige der ANO in Wien wohnen und stellte medizinische Hilfsgüter bereit. Darüber hinaus konnten sich Familienangehörige von Abu Nidal, einem der gefährlichsten palästinensischen Terroristen, im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Operationen unterziehen.

Obgleich dieser „Waffenstillstand“ brüchig war, kam es zu keinem weiteren Terroranschlag Abu Nidals in Österreich. Dafür nutzte die ANO unter anderem die Möglichkeiten, die der Finanzplatz Wien damals wie heute bietet. Ganz allgemein zählen dazu: Strenges Bankgeheimnis (fällt ab dem vierten Quartal 2016 für ausländische Staatsbürger weg), Privatstiftungsrecht sowie verschwiegene Steuerberater und Rechtsanwälte. „Neben der Schweiz und Liechtenstein genießt Österreich für seine finanzielle Diskretion nämlich Weltruhm. Nirgendwo anders lässt sich Vermögen einfacher investieren, tarnen und dann wieder außer Landes schaffen als in Wien oder Salzburg. Und es bleibt hierzulande genug hängen, um die Maschinerie aus Banken, Rechtsanwälten, Beratern, Steuerexperten und Polit-Günstlingen am Leben zu erhalten“, unterstreicht Florian Horcicka in seinem Buch „Das schmutzige Geld der Diktatoren“ (2015).

Diese Qualitäten haben sich auch der Terrorismus und die organisierte Kriminalität „mehrfach zunutze“ gemacht. So etwa im Fall der ANO: Seit 2000 sind auf einem Konto der Bank Austria 8 Millionen Euro eingefroren, die innerhalb von drei Jahrzehnten mit Zinsen auf mehr als 20 Millionen Euro angewachsen sind. Das Konto mit der Nr. 132195566 war am 4. August 1982 bei der damaligen Länderbank eröffnet worden – und zwar von der jordanischen Staatsbürgerin Halimeh Almughrabi. Zwischen 1982 und 1987 wurde die Millionensumme in vier Tranchen einbezahlt. Nach Ansicht der Ermittler fungierte Almughrabi dabei nur als „Strohfrau“ für ihren Ehemann Samir Najmeddin, dem 1984 eine Kontrollvollmacht für das Konto eingeräumt wurde. Der 1939 geborene Najmeddin, Kampfname „Abu Nabil“, war niemand Geringerer als der Finanzfachmann der ANO und für alle Auslandsinvestitionen zuständig.

Herz dieses Geschäftsimperiums war die Firma SAS Trade & Investment, deren Zentrale in Warschau von Najmeddin geleitet wurde. Weitere Zweigstellen befanden sich in Ost-Berlin, Kuwait, Griechenland und Zypern. Vor allem das kommunistische Polen und die DDR duldeten die Präsenz der ANO stillschweigend – und kamen im Gegenzug an Devisen bzw. an Informationen über die internationale Terrorszene heran. Auch von österreichischem Boden aus wurden Geschäfte mit den Terroristen abgewickelt: Anfang der 1980er Jahre hatte der syrische Waffenhändler Monzer Al-Kassar in der Wiener Zelinkagasse die Import-Export-Firma Alkastronic angesiedelt. 1985 kam es zu einer Hausdurchsuchung wegen Verdachts auf Terrorverbindungen. Beweise für eine strafbare Handlung wurden aber nicht gefunden. Was die damaligen Ermittler nicht wussten, die Alkastronic hatte nachweislich Geschäftskontakte mit der ANO: Und zwar wurden am 9. März 1984 Najmeddins SAS 553 Pistolen sowie eine „größere Anzahl Munition“ für 228.560 Dollar in Rechnung gestellt. Eine zweite Abrechnung vom 3. April 1984 lautete auf 20.000 Stück 7,65 mm-Munition und 20 Pistolen mit Gold- und Silbergravur. In diesem Fall belief sich der fällige Betrag auf 9.980 Dollar.

Gewinne aus solchen Waffengeschäften wurden bevorzugt bei der als „Weltbank des Verbrechens“ bekannt gewordenen Bank of Credit and Commerce International (BCCI) in London angelegt – wegen deren besonderer Fähigkeit Gelder zu „verstecken“. Darüber hinaus richtete man Konten in der Schweiz, Spanien und in Österreich ein. Laut dem britischen Autor Patrick Seale wurde dabei ein beträchtlicher Anteil des Geldes auf die Namen von Abu Nidals engsten Familienangehörigen deponiert. Wie aus staatspolizeilichen Ermittlungsakten hervorgeht, gab es bei österreichischen Banken gleich mehrere solcher Konten. Najmeddin selbst hatte 1986 bei der Zentralsparkasse das Konto Nr. 570309930 eröffnet. Als weitere Zeichnungsberechtigte schien dafür eine junge syrische Studentin auf, die zu diesem Zeitpunkt in Wien-Floridsdorf wohnte. Es handelte sich um Khalil Badia, die 1967 geborene Tochter Abu Nidals. So undenkbar es scheint, die Palästinenserin studierte jahrelang in Österreich – in jenem Land das von der Organisation ihres Vaters zuvor mehrfach angegriffen worden war. Badia blieb bis Anfang der 1990er Jahre und stand während dieser Zeit unter intensiver Beobachtung seitens der Staatspolizei.

1991 versuchte Najmeddin über das größte Guthaben, nämlich bei der Länderbank/Bank Austria, erstmals wieder zu verfügen. Doch das besagte Konto war im Zuge des Golfkrieges wegen Verdachts auf Irak-Verbindungen eingefroren worden. Am 13. Jänner 2000 betrat schließlich die seinerzeitige Kontoeröffnerin Almughrabi die Filiale in der Wiener Nordbergstraße 13, um auf das Guthaben zuzugreifen. Sie wurde vor Ort von WEGA-Beamten festgenommen. Weil sich die damals 65jährige Frau in zahlreiche Widersprüche verwickelte, klagte man sie wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation an. Später auf Kaution freigelassen, erschien Almughrabi nicht mehr zur Verhandlung. Es hieß, die libyschen Behörden würden ihr die Ausreise verweigern. Am 1. Juli 2008 gab es schließlich einen Knalleffekt in der Causa: Der Antrag der Staatsanwaltschaft, das Guthaben für verfallen zu erklären, wurde abgelehnt. Weil die ANO in der Zwischenzeit nicht mehr existierte, sah das Gericht keine Gefahr, dass das Geld terroristischen Zwecken zufließen könnte.

Das Urteil wurde in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Wien aufgehoben und zur neuerlichen Verhandlung an das Erstgericht zurückverwiesen. Obwohl mittlerweile nicht einmal mehr Klarheit darüber herrscht, ob Almughrabi noch am Leben ist, geht der Rechtsstreit weiter – der Prozess wurde im April 2011 vertagt, sämtliche Privatbeteiligte ausgeschlossen. Ganz abgesehen vom Ausgang wirft dieses Beispiel ein Schlaglicht auf die österreichische Vorgangsweise im Kampf gegen den Terrorismus und den Hang zur Pragmatik: Stets vermied man das Risiko möglicher Vergeltung, ließ gewähren und war gleichzeitig bedacht, sich aus der Schusslinie zu halten.

Während sich die ANO-Mitglieder mit Wissen der Behörden in Wien aufhielten und hier Gelder investierten, wurde die Anwesenheit anderer Terroristen spät oder erst gar nicht erfasst. Mitglieder der RAF hielten sich in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre immer wieder in Wien auf. Österreich fungierte als Transitland, um nach Anschlägen in der BRD nach Skandinavien, in Ost-Blockstaaten oder in den Libanon weiterzureisen – je nachdem, wo sich die Gruppe gerade besonders sicher fühlte. Nur einmal kam es zu einer größeren Operation westdeutscher Terroristen in Österreich selbst – die Entführung des Fabrikanten Walter Palmers durch die „Bewegung 2. Juni“ 1977, die später in der RAF aufging. Die an dem Coup beteiligte Inge Viett schrieb in ihren Memoiren: „Wien ist keine Stadt für revolutionäre Aktivitäten. Es ist eine Stadt für Agenten, Ganoven, für Spießbürger und ihre Politiker, gerade richtig für die Entführung eines Industriellen.“

Ein Jahr nachdem sich die RAF offiziell aufgelöst hatte, am 15. September 1999, gerieten der 43jährige Horst Ludwig Meyer und seine Partnerin Andrea Klump in Wien in eine Polizeikontrolle. Die beiden Mitglieder der RAF-Führungsebene hatten sich in den Monaten davor fast täglich an der Ecke Wagramer Straße/Schrickgasse in Wien-Donaustadt getroffen. Wegen ihres konspirativen Verhaltens sowie der auffälligen Tarnung mit Schirmkappen und Sonnenbrillen waren sie Anrainern aufgefallen, die wiederum die Polizei informierten. Als die Beamten schließlich eine Personenkontrolle durchführen wollten, zückte Meyer eine Beretta. Es kam zu einer kurzen Verfolgungsjagd einige Hundert Meter weiter in die Donaufelderstraße hinein. Dort wurde Meyer bei einem kurzen Schusswechsel tödlich in die Brust getroffen, Klump ließ sich daraufhin festnehmen. Es stellte sich heraus, dass die beiden seit 1995 in Wien in einer Wohngemeinschaft gelebt hatten. Ihrem Mitbewohner gegenüber hatten sie sich als Heidi Pieri aus Dänemark und als Jens Jensen ausgegeben. Zu diesem Zeitpunkt dürften die beiden keine aktiven Mitglieder der „dritten“ RAF-Generation mehr gewesen sein, sondern im Rahmen der Anti-Imperialistischen Brigaden zeitweise mit anderen europäischen Linksextremen kooperiert haben. Von der RAF einmal abgesehen, nutzten auch andere linksextreme Gruppen Österreich als Basis: So legte die dänische Blekingegade-Bande, die aus „internationaler Solidarität“ heraus die palästinensische Volksbefreiungsfront (PLFP) mit Geldern aus Banküberfällen unterstützte, im Jesuitenholz, einem Waldstück bei Hollabrunn 40 km nordwestlich von Wien, ein Waffendepot an. 

Fortsetzung folgt